Index
66/01 Allgemeines SozialversicherungsgesetzNorm
B-VG Art7 Abs1 / GerichtsaktLeitsatz
Verletzung im Gleichheitsrecht durch Unterlassung von Ermittlungen betreffend die Frage der Haftung – ehemaliger – Geschäftsführer für die Sozialversicherungsbeiträge von Personen, die als selbständige Erwerbstätige oder als freie Dienstnehmer tätig warenSpruch
I. Die beschwerdeführenden Parteien sind durch die angefochtenen Erkenntnisse im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz gemäß Art7 B-VG und Art2 StGG verletzt worden.
Die Erkenntnisse werden aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters zusammen die mit € 3.357,60 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Die Beschwerdeführer waren jeweils vom 23. März 2011 bis (jedenfalls) zum 16. August 2013 (längstens bis zum 16. November 2013) selbständig vertretungsbefugte handelsrechtliche Geschäftsführer einer näher bezeichneten Gesellschaft mit beschränkter Haftung, welche wiederum unbeschränkt haftende Gesellschafterin einer näher bezeichneten GmbH & Co KG (im Folgenden: Primärschuldnerin) war.
2. Die Primärschuldnerin stand in diesem Zeitraum in Vertragsverhältnissen zu A** und zu S**. Die Vertragsparteien ordneten deren Tätigkeit für die Primärschuldnerin als selbständige Erwerbstätigkeit ein.
3. Mit Beschluss vom 28. November 2013 eröffnete das Landesgericht für Zivilrechtssachen Graz das Konkursverfahren über das Vermögen der Primärschuldnerin (das Insolvenzverfahren wurde am 17. August 2016 gemäß §139 Insolvenz-ordnung nach der Schlussverteilung aufgehoben).
4. Im Zuge des Insolvenzverfahrens stellten A** und S** Anträge auf Nachversicherung. Daraufhin führte die Steiermärkische Gebietskrankenkasse (nunmehr Österreichische Gesundheitskasse) eine GPLA für den Zeitraum vom 1. Jänner 2009 bis zum 31. Dezember 2013 durch und kam zum Ergebnis, dass es sich bei A** und S** um freie Dienstnehmer gehandelt habe. In der Folge stellte die Steiermärkische Gebietskrankenkasse mit Bescheid vom 13. Juli 2015 fest, dass A** im Zeitraum von 1. Februar 2011 bis zum 28. November 2013 und S** im Zeitraum von 1. Oktober 2012 bis zum 28. November 2013 auf Grund ihrer Tätigkeit für die Primärschuldnerin als freie Dienstnehmer der Versicherungspflicht ua nach ASVG unterlagen und dass die Primärschuldnerin verpflichtet sei, näher bezeichnete Beiträge nachzuentrichten. Dieser Bescheid wurde A** und S** sowie dem Masseverwalter der Primärschuldnerin, nicht jedoch den Beschwerdeführern zugestellt. Die Beschwerdeführer wurden diesem Verfahren nicht als Parteien (sondern als Zeugen) beigezogen. Der Masseverwalter der Primärschuldnerin erhob gegen den Bescheid zunächst Beschwerde; das Bundesverwaltungsgericht stellte das Verfahren infolge Zurückziehung der Beschwerde durch den Masseverwalter mit Beschluss vom 15. Jänner 2016 ein.
5. Jeweils mit Bescheiden vom 2. Dezember 2016, bestätigt mit Beschwerdevorentscheidungen vom 24. Februar 2017, sprach die Steiermärkische Gebietskrankenkasse aus, dass die Beschwerdeführer jeweils als ehemalige Geschäftsführer der Komplementärgesellschaft der Primärschuldnerin der Steiermärkischen Gebietskrankenkasse gemäß §67 Abs10 iVm §58 Abs5 und §83 ASVG für im Zeitraum ihrer Geschäftsführertätigkeit angefallene, aushaftende Sozialversicherungsbeiträge der (insolventen) Primärschuldnerin auf Grund von Meldeverstößen gemäß §111 ASVG einen näher bezeichneten Betrag schuldeten.
6. Das Bundesverwaltungsgericht wies die dagegen erhobenen Beschwerden nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung jeweils mit Erkenntnis vom 25. August 2020 als unbegründet ab.
6.1. Im Zuge seiner Beweiswürdigung führte das Bundesverwaltungsgericht jeweils wörtlich aus:
"Die Qualifizierung der A** und S** als freie Dienstnehmerinnen beruht auf dem rechtskräftigen Bescheid der belangten Behörde vom 13.07.2015, Zl MVB/25/14/ Mag. Kr, welcher nach Zurückziehung der dagegen erhobenen Beschwerde schließlich in Rechtskraft erwuchs."
6.2. Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung führte das Bundesverwaltungsgericht – auf das hier Wesentliche zusammengefasst – aus, dass die Voraussetzungen einer Haftung gemäß §67 Abs10 ASVG erfüllt seien. Die Beitragsforderungen seien gegenüber der Primärschuldnerin uneinbringlich. Geleistete Vergleichszahlungen an den Masseverwalter der Primärschuldnerin für die Begleichung der Sozialversicherungsbeiträge seien hiefür belanglos. Die Gebietskrankenkasse habe lediglich die allgemeine Insolvenzquote erhalten. Die Beschwerdeführer seien als selbständig vertretungsbefugte handelsrechtliche Geschäftsführer der Komplementärgesellschaft der Primärschuldnerin für schuldhafte (leicht fahrlässige) Pflichtverletzungen, hier die Mißachtung der Meldepflicht nach ASVG, haftbar. Verjährung sei nicht eingetreten.
Dass die Beschwerdeführer verpflichtet gewesen wären, die Beschäftigung von A** und S** gemäß den §§33 f ASVG zu melden, "steht im gegenständlichen Fall auf Grund des rechtskräftigen Bescheides der belangten Behörde vom 13.07.2015, Zl MVB/25/14/ Mag. Kr, betreffend die Feststellung der Voll- und Arbeitslosenversicherungspflicht fest".
Die Beschwerdeführer seien am Ermittlungsverfahren zur Dienstnehmereigenschaft von A** und S** beteiligt worden; ihre Angaben seien im Verfahren "gewürdigt" worden. Da "bezüglich der Primärschuldnerin ein Konkursverfahren im Laufen war, wurde der Bescheid vom 13.07.2015, Zl MVB/25/14/ Mag. Kr, rechtsrichtig dem Masseverwalter zugestellt. Abgesehen davon war der BF, wie er selbst ausführt, zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Geschäftsführer. Der BF war somit nicht Bescheidadressat des Nachversicherungsbescheides der belangten Behörde. Durch die Einstellung des Beschwerdeverfahrens ist es insofern zu einer Sachentscheidung gekommen als durch die Zurückziehung der Beschwerde der meritorische Bescheid der belangten Behörde in Rechtskraft erwachsen ist". Die Beschwerdeführer träfe ein Verschulden an der Nichtentrichtung der Beiträge, weil die Abgrenzung eines freien Dienstnehmers zum Werkvertrag zum Grundwissen eines Geschäftsführers zähle.
7. Gegen diese Entscheidungen richten sich die beiden vorliegenden, auf Art144 B-VG gestützten Beschwerden, in denen die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (Art7 B-VG, Art2 StGG), sowie in Rechten durch Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Erkenntnisse beantragt wird. Dies begründen die Beschwerden übereinstimmend im Wesentlichen wie folgt:
7.1. A** und S** hätten im Konkursverfahren Forderungen angemeldet. Sie seien, wohl weil sie dadurch eine höhere Befriedigung ihrer Forderungen als durch eine Anmeldung als allgemeine Insolvenzforderung erhofft hätten, "auf den Gedanken gekommen" zu behaupten, sie seien als unselbständige Erwerbstätige für die Primärschuldnerin tätig gewesen.
7.2. Erst nach Durchführung eines gesonderten Verfahrens, in dem die beiden Beschwerdeführer keine Parteistellung gehabt hätten, sei die Steiermärkische Gebietskrankenkasse zu dem Schluss gekommen, es handle sich bei der Geschäftsbeziehung zu A** und S** um sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse, für die die Primärschuldnerin Sozialversicherungsbeiträge zu entrichten gehabt hätte. Die Beschwerdeführer hätten mangels Parteistellung keine Möglichkeit gehabt, dem Bescheid, mit dem die Dienstnehmereigenschaft und die Beitragspflicht festgestellt worden sei, sowie den dem Spruch zugrunde liegenden Tatsachenfeststellungen entgegenzutreten. (Die Beschwerde gegen diesen Bescheid sei vom Masseverwalter deswegen zurückgezogen worden, weil der Masseverwalter mit einer [weiteren] Gesellschaft einen Vergleich abgeschlossen habe, wonach diese einen bestimmten Betrag zur Bedienung der offenen Beitragsschuld an die Gebietskrankenkasse zahle.) Dennoch werde ihnen das Ergebnis dieses Verfahrens nunmehr entgegengehalten und damit Willkür geübt.
7.3. Das ASVG, im Besonderen dessen §67 Abs10, stelle haftungspflichtige Vertreter ohne taugliche sachliche Rechtfertigung und "somit willkürlich und gleichheitswidrig" schlechter, als die Bundesabgabenordnung (BAO), weil im ASVG – im Unterschied zu §248 BAO – keine Regelung existiere, wonach haftungspflichtige Vertreter gegen Bescheide betreffend den der Haftung zugrunde liegenden Anspruch vorgehen könnten.
8. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch – ebenso wie die Österreichische Gesundheitskasse – abgesehen.
II. Rechtslage
§58 Abs5 und §67 Abs10 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl 189/1955, idF BGBl I 102/2010 (§58) und BGBl I 86/2013 (§67), lautet(en) wie folgt:
"Fälligkeit und Einzahlung der Beiträge; Beitragsvorauszahlung
§58. (1) […]
[…]
(5) Die VertreterInnen juristischer Personen, die gesetzlichen VertreterInnen natürlicher Personen und die VermögensverwalterInnen (§80 BAO) haben alle Pflichten zu erfüllen, die den von ihnen Vertretenen obliegen, und sind befugt, die diesen zustehenden Rechte wahrzunehmen. Sie haben insbesondere dafür zu sorgen, dass die Beiträge jeweils bei Fälligkeit aus den Mitteln, die sie verwalten, entrichtet werden.
(6) […]
Haftung für Beitragsschuldigkeiten
§67. (1) […]
[…]
(10) Die zur Vertretung juristischer Personen oder Personenhandelsgesellschaften (offene Gesellschaft, Kommanditgesellschaft) berufenen Personen und die gesetzlichen Vertreter natürlicher Personen haften im Rahmen ihrer Vertretungsmacht neben den durch sie vertretenen Beitragsschuldnern für die von diesen zu entrichtenden Beiträge insoweit, als die Beiträge infolge schuldhafter Verletzung der den Vertretern auferlegten Pflichten nicht eingebracht werden können. Vermögensverwalter haften, soweit ihre Verwaltung reicht, entsprechend."
III. Erwägungen
Der Verfassungsgerichtshof hat über die in sinngemäßer Anwendung der §§187 und 404 ZPO iVm §35 Abs1 VfGG zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen Beschwerden erwogen:
1. Die – zulässigen – Beschwerden sind begründet.
2. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg 10.413/1985, 14.842/1997, 15.326/1998 und 16.488/2002) nur vorliegen, wenn die angefochtene Entscheidung auf einer dem Gleichheitsgebot widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, wenn das Verwaltungsgericht der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat.
Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 8808/1980 mwN, 14.848/1997, 15.241/1998 mwN, 16.287/2001, 16.640/2002).
3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
3.1. Die angefochtenen Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichtes sprechen jeweils über die Haftung der Beschwerdeführer für Beitragsschulden ab, die zwar (gegebenenfalls) während der Geschäftsführung durch die Beschwerdeführer ihren Ursprung haben, über deren – strittigen – Bestand aber erst mit dem Bescheid der Steiermärkischen Gebietskrankenkasse vom 13. Juli 2015 abgesprochen wurde, also zu einem Zeitpunkt, zu dem die Beschwerdeführer keine Geschäftsführungsfunktion mehr innehatten, weshalb sie in dieser Funktion keinen Einfluss mehr auf den Ausgang dieses Verfahren nehmen konnten. Sie hatten auch keine Parteistellung im diesbezüglichen Verfahren, der Bescheid wurde ihnen nicht zugestellt und sie hatten keine Rechtsmittelbefugnisse.
3.2. Das Bundesverwaltungsgericht ist aber ungeachtet dessen davon ausgegangen, dass die Rechtskraft des Bescheides der Steiermärkischen Gebietskrankenkasse vom 13. Juli 2015 auch gegenüber den Beschwerdeführern wirke, weshalb die strittige – und für die Frage des Bestandes von Beitragsschulden maßgebliche – Frage der Qualifikation des Vertragsverhältnisses der Primärschuldnerin zu A** und zu S** nicht mehr zu prüfen sei.
3.3. Damit verkennt das Bundesverwaltungsgericht, dass der Bescheid der Steiermärkischen Gebietskrankenkasse vom 13. Juli 2015 in der vorliegenden Konstellation gegenüber den Beschwerdeführern keine bindende Wirkung entfalten konnte (vgl VwGH 31.5.2000, 94/08/0095). Im Allgemeinen darf ein Verfahren nämlich nicht an Ergebnisse eines anderen Verfahrens gebunden werden, an welchem sich der Betroffene nicht beteiligen konnte (vgl VfSlg 13.646/1993). Das Bundesverwaltungsgericht hat daher, indem es den Beschwerdeführern in der vorliegenden Konstellation die Rechtskraft des Bescheides der Steiermärkischen Gebietskrankenkasse vom 13. Juli 2015 entgegengehalten und ihnen damit eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der für die Frage des Bestandes von Beitragsschulden maßgeblichen Frage der Eigenschaft von A** und S** als selbständig Erwerbstätige oder als freie Dienstnehmer verweigert und somit in einem entscheidenden Punkt jegliche Ermittlungen unterlassen hat, sein Erkenntnis mit Willkür belastet.
IV. Ergebnis
1. Die Beschwerdeführer sind somit jeweils durch die von ihnen angefochtene Entscheidung im Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.
2. Die Erkenntnisse sind daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VfGG. Den Beschwerdeführern war insgesamt der einfache Pauschalsatz – erhöht um einen Streitgenossenzu-schlag in der Höhe von 10 % – zuzusprechen, weil sie durch ein und denselben Rechtsanwalt vertreten waren und es ihnen sowohl in zeitlicher als auch in sachverhaltsmäßiger und rechtlicher Hinsicht möglich gewesen wäre, gegen die gleichartigen Erkenntnisse eine gemeinsame Beschwerde zu erheben (zB VfSlg 17.317/2004, 17.482/2005, 19.404/2011, 19.709/2012). In den zugesprochenen Kosten sind Umsatzsteuer in der Höhe von € 479,60 sowie der Ersatz der für jede Beschwerde entrichteten Eingabengebühr in Höhe von € 240,- enthalten.
Schlagworte
Sozialversicherung, Gesellschaftsrecht, Haftung, ErmittlungsverfahrenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2021:E3390.2020Zuletzt aktualisiert am
03.12.2021