TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/17 I406 2156839-1

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Veröffentlicht am 17.08.2021
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Entscheidungsdatum

17.08.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


I406 2156839-1/15E
I406 2156850-1/13E
I406 2156835-1/13E
I406 2156847-1/12E
I406 2156843-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Gerhard KNITEL als Einzelrichter über die Beschwerden von XXXX , geb. XXXX , staatenlos, XXXX , geb. XXXX , staatenlos, XXXX , geb. XXXX , staatenlos, gesetzlich vertreten durch den Kindesvater, XXXX , geb. XXXX , staatenlos, gesetzlich vertreten durch den Kindesvater und XXXX , geb. XXXX , staatenlos, gesetzlich vertreten durch den Kindesvater, alle vertreten durch die BBU GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen Spruchpunkt I. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 27.03.2017 (BF1 und BF2) und 28.03.2017 (BF3, BF4 und BF5), Zl. XXXX , ZI. XXXX , ZI. XXXX , ZI. XXXX und ZI. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 09.08.2021, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide werden als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

Die Verfahren des am XXXX geborenen Erstbeschwerdeführers (BF1), seiner am XXXX geborenen Ehefrau (BF2), sowie ihrer drei gemeinsamen minderjährigen Kinder, der am XXXX geborenen Drittbeschwerdeführerin (BF3), des am XXXX geborenen Viertbeschwerdeführers (BF4) und der am XXXX geborenen Fünftbeschwerdeführerin (BF5) sind im Sinne des § 34 AsylG 2005 gemeinsam als Familienverfahren zu führen.

I. Verfahrensgang:

1.       Die Beschwerdeführer sind staatenlos und gehören der Volksgruppe der Palästinenser an. Sie hatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Libyen.

2.       Sie reisten spätestens am 22.07.2014 unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz, wobei die minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer durch ihren Vater gesetzlich vertreten werden.

3.       Bei ihrer polizeilichen Erstbefragung am 23.07.2014 erklärten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin, Staatsangehörige Palästinas zu sein und behaupteten, aus Syrien zu stammen und das Land gemeinsam mit ihren Kindern aufgrund des Bürgerkrieges verlassen zu haben.

4.       Am 26.01.2015 wurden der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA; belangte Behörde) niederschriftlich einvernommen. Der Erstbeschwerdeführer erklärte, dass sie in Libyen gelebt und sich wahrheitswidrig als syrische Flüchtlinge ausgegeben haben, weil ihnen gesagt worden sei, dass sie so bessere Chancen hätten, Asyl zu bekommen. In Syrien seien sie nie gewesen.

Zu ihren Fluchtgründen erklärte der Erstbeschwerdeführer zusammengefasst, dass er in Libyen von vier bewaffneten Personen bedroht worden sei, die von ihm Geld gefordert und gedroht haben, andernfalls ein Familienmitglied zu entführen. Die Bedrohung sei erfolgt, weil die Beschwerdeführer Palästinenser seien und die Libyer keine Palästinenser mögen würden. Der Erstbeschwerdeführer sei zur Polizei gegangen, doch diese habe erklärt, ihn nicht schützen zu können. Daraufhin haben sie das Land verlassen. Die Zweitbeschwerdeführerin berief sich auf die Fluchtgründe ihres Ehemannes. Für die minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer wurden keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht.

5.       Mit den im Spruch genannten Bescheiden vom 27.03.2017 (BF1 und BF2) und vom 28.03.2017 (BF3, BF4 und BF5) wies die belangte Behörde die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.). Der Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde den Beschwerdeführern zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihnen wurde eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 27.03.2018 erteilt (Spruchpunkt III.).

6.       Gegen Spruchpunkt I. dieser Bescheide erhoben die Beschwerdeführer mit Schriftsatz ihrer damaligen Rechtsvertretung, der ARGE Rechtsberatung – Diakonie und Volkshilfe, vom 28.04.2017 fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Spruchpunkte II. und III. erwuchsen unangefochten am 03.05.2017 in Rechtskraft.

7.       Beschwerde und Bezug habende Akten wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 12.05.2017 vorgelegt. Nach erhobener Unzuständigkeitsanzeige wurden die Rechtssachen der Gerichtsabteilung I406 neu zugewiesen, wo die Beschwerdeakten am 18.05.2017 einlangten.

8.       Am 08.05.2017 übermittelten die Beschwerdeführer durch ihre damalige Rechtsvertretung eine Beschwerdeergänzung.

9.       Am 16.03.2018 wurde ein weiterer Sohn des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin in Österreich geboren. Ein für ihn am 22.03.2018 gestellter Antrag auf internationalen Schutz wurde mit Bescheid des BFA vom 25.04.2018 ebenfalls hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen. Gleichzeitig wurde ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter erteilt. Dieser Bescheid erwuchs unangefochten in Rechtskraft.

10.      Am 07.01.2019 stellten die Beschwerdeführer einen Antrag auf unterstützte freiwillige Rückkehrhilfe.

11.      Mit Bescheiden des BFA vom 08.04.2020 wurde die befristete Aufenthaltsberechtigung der Beschwerdeführer für subsidiär Schutzberechtigte ein weiteres Mal bis zum 27.03.2022 verlängert.

12.      Am 09.08.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht, Außenstelle Innsbruck, eine öffentliche mündliche Verhandlung in Anwesenheit der Beschwerdeführer, ihrer Rechtsvertretung, einer Dolmetscherin für die arabische Sprache und in Abwesenheit eines Vertreters der belangten Behörde statt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1 Zur Person der Beschwerdeführer:

Die Identität der Beschwerdeführer steht nicht fest.

Die Beschwerdeführer sind staatenlos, gehören der Volksgruppe der Palästinenser an und bekennen sich zum moslemisch-sunnitischen Glauben. Der Staat ihres früheren gewöhnlichen Aufenthaltes ist Libyen.

Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind volljährig und seit dem XXXX 2007 miteinander verheiratet. Die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer sind ihre gemeinsamen minderjährigen Kinder.

Der Erstbeschwerdeführer wurde in Ägypten in XXXX geboren und besuchte dort sechs Jahre die Grundschule und ein Jahr die Mittelschule. Im Alter von ungefähr zwölf Jahren kam er nach Libyen, wo er im Ort XXXX in der Nähe von Tripolis eine Ausbildung als XXXX absolvierte und anschließend eine eigene XXXX betrieb.

Die Zweitbeschwerdeführerin wurde in XXXX in Libyen geboren. Sie lebte nach ihrer Geburt vorübergehend in Ägypten, wo sie sechs Jahre die Volksschule und drei Jahre die Mittelschule besuchte. Im Anschluss absolvierte sie in Libyen das Gymnasium und ein XXXX studium und arbeitete für drei Jahre als XXXX , bis ihr im Jahr 2011 verboten wurde, als Palästinenserin an staatlichen XXXX zu arbeiten.

Der Erstbeschwerdeführer wurde vor mehreren Jahren, spätestens am 25.09.2016, beim Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East, UNRWA) in Khan Yunis im Gazastreifen als palästinensischer Flüchtling registriert, die Zweitbeschwerdeführerin am 01.05.1999. Ihre Familien verzichteten freiwillig auf den Beistand der UNRWA, indem sie sich nach Libyen begaben. Als registrierte staatenlose palästinensische Flüchtlinge könnten sie den Beistand des UNRWA in dessen Operationsgebieten in Anspruch nehmen, sofern sie dies wollten. Die Drittbeschwerdeführerin, der Viertbeschwerdeführer und die Fünfbeschwerdeführerin sind nicht bei der UNRWA als palästinensische Flüchtlinge registriert.

Die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer wurden in XXXX in Libyen geboren. Zum Zeitpunkt ihrer Ausreise aus Libyen im Juli 2014 waren sie rund fünf (BF3), dreieinhalb (BF4) und ein (BF5) Jahr(e) alt.

Die Beschwerdeführer reisten im Juli 2014 nicht rechtmäßig in das Bundesgebiet ein und stellten am 22.07.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz. Seit dem 27.03.2017 sind sie als subsidiär Schutzberechtigte in Österreich anerkannt. Ihre befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte wurde zuletzt am 08.04.2020 bis zum 27.03.2022 verlängert.

Der Erstbeschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich in Erscheinung getreten.

Mit rechtskräftigem Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom 27.08.2018, XXXX , wurde er wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 StGB zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je EUR 4,00, im Nichteinbringlichkeitsfall zu 45 Tagen Freiheitsstrafe verurteilt, wobei die Hälfte dieser Strafe unter Bestimmung einer dreijährigen Probezeit (am 18.02.2019 verlängert auf fünf Jahre) bedingt nachgesehen wurde.

Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 18.02.2019, XXXX , wurde er wegen des Vergehens der versuchten Nötigung nach §§ 15, 105 StGB zu einer unter Bestimmung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt.

Die Zweitbeschwerdeführerin ist strafrechtlich unbescholten, die Drittbeschwerdeführerin, der Viertbeschwerdeführer und die Fünftbeschwerdeführerin sind nicht strafmündig.

1.2. Zu den Fluchtmotiven der Beschwerdeführer:

Es kann in Bezug auf das Fluchtvorbringen der Beschwerdeführer nicht festgestellt werden, dass diese in Libyen aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt waren oder sein werden.

Ihnen droht im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat insbesondere keine asylrelevante Verfolgung durch Angehörige einer radikalen Gruppierung oder aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Palästinenser.

Die Beschwerdeführer werden im Fall ihrer Rückkehr nach Libyen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt sein.

1.3. Zur Lage in Libyen:

Die wesentlichen Feststellungen zur Lage in Libyen lauten:

Politische Lage

Der Sturz des langjährigen Staatschefs Muammar Gaddafi im Jahr 2011 führte zu einem Machtvakuum und zu Instabilität. Das Land ist zersplittert und seit 2014 in konkurrierende politische und militärische Fraktionen mit Sitz in Tripolis und im Osten des Landes geteilt (BBC 8.6.2020; vgl. ZDF 16.2.2020, USDOS 11.3.2020, FH 4.3.2020).

Zu den wichtigsten Führungspersönlichkeiten gehören Premierminister Fayez Sarraj, Chef der international anerkannten Regierung (Einheitsregierung, Government of National Accord, GNA) in Tripolis; Khalifa Haftar, Führer der Libyschen Nationalarmee (LNA), die einen Großteil des östlichen Libyens kontrolliert; Aghela Saleh, Sprecher des Repräsentantenhauses mit Sitz in der östlichen Stadt Tobruk; und Khaled Mishri, der gewählte Chef des Hohen Staatsrates in Tripolis (BBC 8.6.2020).

Libyen ist eine parlamentarische Republik (AA 16.3.2020). Die GNA hält Gebiete um die Hauptstadt Tripolis im Westen des Landes. Gegen sie kämpft General Haftar mit Verbündeten, die weite Teile des ölreichen Landes beherrschen (ZDF 16.2.2020; vgl. USDOS 11.3.2020, FH 4.3.2020) [Anm.: Details siehe Anschnitt 3. Sicherheitslage]. Libyen verfügt somit über zwei Zentren der Macht: den Präsidialrat unter al-Sarraj und die Behörden in Tobruk und al-Bayda, unter der Führung von General Khalifa Haftar, Kommandeur der LNA und selbsternannter Anti-Islamist (BS 2020). Weder die GNA noch Haftar wurden durch Wahlen legitimiert. Die De-facto-Behörden haben im östlichen Teil des Landes beispielsweise eine parallele Zentralbank und eine staatliche Ölgesellschaft eingerichtet (FH 4.3.2020).

Seit dem 3.8.2011 gilt eine übergangsmäßige „Verfassungserklärung“ bis zu einem Referendum über eine neue Verfassung. Mit dem am 17.12.2015 in Skhirat/Marokko unterzeichneten „Libyschen Politischen Abkommen“ wurde ein Präsidialrat als kollektives Staatsoberhaupt geschaffen, bestehend aus dem Vorsitzenden des Präsidialrats, fünf Stellvertretern und drei Ministern. Nach dem „Libyschen Politischen Abkommen“ ist der Vorsitzende des Präsidialrates Fayez Al Sarraj gleichzeitig als Premierminister Regierungschef (AA 16.3.2020).

Im Juli 2017 vereinbarten die rivalisierenden Seiten einen Waffenstillstand und die Abhaltung von Wahlen im Jahr 2018. Im Mai 2018 trafen sich die beiden Seiten in Paris, um einen Fahrplan für den Frieden zu unterzeichnen. Das Abkommen hat den Konflikt jedoch nicht gelöst, sondern stattdessen rekonfiguriert. Während der Konflikt im Jahr 2015 zwischen zwei rivalisierenden Regierungen ausgetragen wurde, verläuft er jetzt in erster Linie zwischen Befürwortern und Gegnern des von den Vereinten Nationen vermittelten Abkommens (BS 2020).

Der Islamische Staat (IS), der bis 2014 die Kontrolle über Al-Bayda und Benghazi, Sirte, al-Khums und sogar die Hauptstadt Tripolis übernommen hatte, wurde bis Ende 2016 erheblich geschwächt. Nach einem siebenmonatigen Kampf konnten Truppen der Einheitsregierung im Dezember 2016 Sirte als letzte Hochburg des IS räumen. Der IS ist jedoch weiterhin in Libyen aktiv, insbesondere aus „sicheren Häfen“ im unkontrollierten Süden des Landes (BS 2020; vgl. BBC 8.6.2020).

Ausländische Akteure sind in Libyen involviert. Eine Gruppe überwiegend westlicher Länder und der Türkei, unter Führung der Vereinigten Staaten setzt sich für die bedingungslose Unterstützung des Präsidialrats und der GNA ein, wobei sie dem Kampf gegen den IS und der Eindämmung der Ströme von Migranten, Flüchtlingen und Asylsuchenden über das Mittelmeer Vorrang einräumt. Eine zweite Gruppe, angeführt von Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Russland, räumt der Einheit der verbleibenden Armee - insbesondere der LNA von General Haftar - Priorität ein (BS 2020). Das zunehmende Maß an ausländischer Einmischung, Militärinterventionen und konkurrierenden Interessen hat zu einem Stillstand im politischen Prozess geführt. Russland und die Türkei sind nun die Hauptentscheidungsträger in Libyen, eine Dynamik, die die Bemühungen der EU und der UNO um eine Deeskalation des Konflikts und eine Annäherung zwischen den rivalisierenden politischen Einheiten Libyens an den Rand gedrängt und geschwächt hat (Garda 23.8.2020).

Im September 2020 kündigte der Premierminister der GNA Fajis al-Sarradsch seinen bevorstehenden Rücktritt an. Nur wenige Tage zuvor hatte der Regierungschef der Gegenregierung im Osten des Landes, Abdullah al-Thenni, seinen Rückzug erklärt. Zum Rückzug der beiden konkurrierenden Regierungschefs haben ähnliche Dynamiken beigetragen: In beider Einflussbereiche kam es in den Wochen davor immer wieder zu Protesten wegen steigenden Lebenshaltungskosten, den häufigen Unterbrechungen der Stromversorgung und der Treibstoffknappheit (SZ 17.9.2020)

Russland und die Türkei, die in Libyen jeweils Schutzmacht der rivalisierenden Kräfte sind, sind ihrerseits auf einem guten Weg zu einem Übereinkommen. Bereits im August hatten sowohl Serraj in Tripolis als auch der Sprecher des Parlaments im Osten des Landes einen Waffenstillstand ausgehandelt und zu Verhandlungen aufgerufen, daraufhin tagten Verhandlungsteams in Bouznika (Marokko) und Montreux (Schweiz). Sie einigten sich darauf, einen neuen Präsidialrat zu schaffen, der die Regierung über das gesamte Land übernehmen soll, und binnen 18 Monaten Neuwahlen abzuhalten. Gelingt es, bei weiteren Verhandlungen im Oktober die komplizierten Details dieser Einigung auszuhandeln, will Serraj noch im selben Monat abtreten (SZ 17.9.2020).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (16.3.2020): Libyen: Steckbrief, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/libyen-node/steckbrief/219608, Zugriff 24.9.2020

- BBC News (8.6.2020): Libya country profile, https://www.bbc.com/news/world-africa-13754897, Zugriff 24.9.2020

- BS - Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020: Libya, https://www.bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_LBY.pdf, Zugriff 23.9.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Libya, https://www.ecoi.net/en/document/2030888.html, Zugriff 24.9.2020

- Garda World (23.8.2020): Libya Country Report – Overview, https://www.garda.com/crisis24/country-reports/libya, Zugriff 24.9.2020

- SZ - Süddeutsche Zeitung (17.9.2020): Keiner will regieren, https://www.sueddeutsche.de/politik/libyen-keiner-will-regieren-1.5035159, Zugriff 24.9.2020

- USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Libya, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/LIBYA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 23.9.2020

- ZDF - Zweites Deutsches Fernsehen (16.2.2020): Münchner Sicherheitskonferenz - "Europa muss zu Interventionen bereit sein", https://www.zdf.de/nachrichten/politik/aussenministertreffen-sicherheitskonferenz-libyen-100.html, Zugriff 24.9.2020

Sicherheitslage

Libyen ist seit der Revolution vom 17.2.2011 von einem Bürgerkrieg betroffen und hat einen beispiellosen Prozess des gewaltsamen Staatszerfalls erlebt (BS 2020). Die Lage ist in weiten Teilen des Landes sehr unübersichtlich und unsicher (AA 31.3.2020).

Ab April 2019 kam es im Großraum Tripolis und einigen weiteren Städten im Nordwesten Libyens vermehrt zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen Kräften der international anerkannten Regierung des Nationalen Einvernehmens und Einheiten der sogenannten Libyschen Nationalen Armee. Auch in anderen Landesteilen kommt es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen (AA 31.3.2020; vgl. MEAÉ 11.5.2020), insbesondere im Zentrum und im Süden des Landes (MEAÉ 11.5.2020). Mit türkischer Unterstützung konnte die GNA im Juni 2020 die LNA aus dem Großraum Tripolis vertreiben und die Kontrolle der LNA über Sirte und das Zentrum des Landes bedrohen (Garda 23.8.2020).

Im Bürgerkrieg zwischen Milizkoalitionen, die lose mit zwei großen konkurrierenden Regierungspolen verbunden sind (Garda 3.9.2020) wird mit wenig Rücksicht auf die Zivilbevölkerung operiert. Verschiedene bewaffnete Gruppen beschießen willkürlich Wohngebiete und üben auch kriminelle Aktivitäten aus, darunter Erpressung und andere Formen der Ausbeutung der Zivilbevölkerung (FH 4.3.2020; vgl. AA 31.3.2020).

Sporadische Zusammenstöße zwischen bewaffneten Gruppen können zu Kämpfen mit schweren Waffen führen, auch in städtischen Gebieten (MEAÉ 11.5.2020). Nichtstaatliche bewaffnete Gruppen, kriminelle Banden und terroristische Organisationen verüben gezielte Tötungen und Bombenanschläge sowohl gegen Regierungsbeamte als auch gegen Zivilisten (USDOS 11.3.2020; vgl. BS 2020). Es gibt viele Berichte über Opfer unter der Zivilbevölkerung als Folge der anhaltenden Feindseligkeiten. Durch Beschuss, Feuergefechte, Luftangriffe und nicht explodierte Sprengkörper kamen im Laufe des Jahres 2019 mehr als tausend Menschen, darunter auch Zivilisten, ums Leben (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020).

General Haftar und die Libysche Nationalarmee (LNA) haben sich in den Süden ausgedehnt, angeblich zum Schutz der Ölfelder, was zu einer Eskalation der Gewalt im bisher relativ ruhigen Fezzan geführt hat. Als Reaktion darauf haben die Tebu- und Tuareg-Stämme ein Bündnis unter der Einheitsregierung (GNA) geschlossen, um den Vormarsch der LNA zu stoppen (BS 2020). Vorübergehende Allianzen zwischen Regierungselementen, nichtstaatlichen Akteuren und ehemaligen oder aktiven Offizieren der Streitkräfte, die sich an extralegalen Kampagnen beteiligten, machen es schwierig, die Rolle der Regierung bei Angriffen bewaffneter Gruppen zu ermitteln (USDOS 11.3.2020).

Der Islamische Staat (IS) wurde bis Ende 2016 erheblich geschwächt, ist jedoch weiterhin in Libyen aktiv. Er operiert insbesondere aus „sicheren Häfen“ im unkontrollierten Süden des Landes (BS 2020; vgl. Garda 3.9.2020). Der IS bekannte sich im Laufe des Jahres 2019 zu verschiedenen Angriffen auf zivile und militärische Gebiete (USDOS 11.3.2020). In einigen Fällen operieren ausländische Söldner mit Unterstützung ihrer Heimatregierungen. Beispielsweise soll die Wagner-Gruppe Berichten zufolge bei der Offensive der LNA auf Tripolis Kommando- und Kontrollunterstützung geleistet haben, wobei es bei Scharfschützenbeschuss durch Wagner-Personal zu mehreren Opfern kam (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

- AA - Auswärtiges Amt der Bundesrepublik Deutschland (31.3.2020): Libyen: Reisewarnung, https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/libyensicherheit/219624, Zugriff 22.9.2020

- BBC News (8.6.2020): Libya country profile, https://www.bbc.com/news/world-africa-13754897, Zugriff 24.9.2020

- BS - Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020: Libya, https://www.bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_LBY.pdf, Zugriff 23.9.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Libya, https://www.ecoi.net/en/document/2030888.html, Zugriff 24.9.2020

- Garda World (23.8.2020): Libya Country Report – Overview, https://www.garda.com/crisis24/country-reports/libya, Zugriff 24.9.2020

- Garda World (3.9.2020): Libya Country Report – War Risks, Terrorism, https://www.garda.com/crisis24/country-reports/libya, Zugriff 24.9.2020

- MD - Monde Diplomatique, le / Céline Marin (9.2020): Libya divided, https://mondediplo.com/maps/libya-divided, Zugriff 24.9.2020

- MEAÉ - Ministère de l’Europe et des Affaires Étrangères [Außenministerium der Republik Frankreich] (11.5.2020): Conseils par pays - Libye, http://www.diplomatie.gouv.fr/fr/conseils-aux-voyageurs/conseils-par-pays/libye/, Zugriff 23.9.2020

- USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Libya, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/LIBYA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 23.9.2020

Rechtsschutz / Justizwesen

Die Verfassungserklärung sieht ein unabhängiges Justizwesen vor und legt fest, dass jede Person das Recht hat, sich an das Justizsystem zu wenden. Die Verfassungserklärung sieht die Unschuldsvermutung und das Recht auf einen Rechtsbeistand vor, der dem Beschuldigten auf öffentliche Kosten zur Verfügung gestellt wird. Diese Standards werden weder von der Einheitsregierung (GNA) noch von nichtstaatlichen Akteuren erfüllt (USDOS 11.3.2020).

Das Justizsystem ist im Wesentlichen zusammengebrochen; die Gerichte sind in weiten Teilen des Landes nicht mehr funktionsfähig. In einigen Fällen haben informelle Streitbeilegungsmechanismen die Lücke gefüllt (FH 4.3.2020; vgl. BS 2020). Richter, Anwälte und Staatsanwälte sehen sich häufigen Bedrohungen und Angriffen ausgesetzt (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020, AI 18.2.2020, BS 2020). Seit der Revolution von 2011 wird das Recht der Bürger auf einen fairen Prozess und ein ordnungsgemäßes Verfahren durch die anhaltende Einmischung bewaffneter Gruppen und die Unfähigkeit, Zugang zu Anwälten und Gerichtsdokumenten zu erhalten, infrage gestellt (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Milizen und halboffizielle Sicherheitskräfte führen regelmäßig ungestraft willkürliche Verhaftungen, Inhaftierungen und Einschüchterungen durch (FH 4.3.2020; vgl. BS 2020). Tausende Gefangene haben keinen Zugang zu Anwälten und Informationen über die gegen sie erhobenen Anklagen (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020, AI 18.2.2020). Die insgesamt mangelnde Sicherheitslage behindert die Rechtsstaatlichkeit weiter. Zivil- und Militärgerichte arbeiteten, je nach örtlicher Sicherheitslage, sporadisch; insbesondere in den von anhaltenden Feindseligkeiten betroffenen Gebieten und im Süden des Landes (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

- AI - Amnesty International (18.2.2020): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2019; Libya, https://www.ecoi.net/en/document/2025836.html, Zugriff 24.9.2020

- BS - Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020: Libya, https://www.bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_LBY.pdf, Zugriff 23.9.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Libya, https://www.ecoi.net/en/document/2030888.html, Zugriff 24.9.2020

- USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Libya, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/LIBYA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 23.9.2020

Sicherheitsbehörden

Milizen, bewaffnete Gruppen und Sicherheitskräfte, die der von den Vereinten Nationen unterstützten Einheitsregierung (Govermnent of National Accord – GNA) unter Führung von Premierminister Fayez al-Sarraj mit Sitz in Tripolis bzw. der selbsternannten Libyschen Nationalarmee (LNA) unter Führung von General Khalifa Haftar, die der Übergangsregierung im Osten Libyens angeschlossen sind, operieren weiterhin außerhalb der Rechtsstaatlichkeit (AI 18.2.2020).

Die GNA hat nur eine begrenzte effektive Kontrolle über die Sicherheitskräfte, die aus einer Mischung aus semi-regulären Einheiten, nichtstaatlichen bewaffneten Stammesgruppen und zivilen Freiwilligen bestehen. Die nationale Polizei, die dem Innenministerium untersteht, ist offiziell für die innere Sicherheit zuständig. Für die Außenverteidigung sind hauptsächlich die dem Verteidigungsministerium unterstellten Streitkräfte zuständig, aber sie unterstützen auch die Kräfte des Innenministeriums in Fragen der inneren Sicherheit. Zivile Behörden haben nur eine nominelle Kontrolle über die Polizei und den Sicherheitsapparat und die Polizeiarbeit fällt im Allgemeinen in den Zuständigkeitsbereich verschiedener informeller bewaffneter Gruppen, die Gehälter von der Regierung erhalten und die Strafverfolgung ohne formelle Ausbildung oder Aufsicht und mit unterschiedlichem Grad von Rechenschaftspflicht ausüben (USDOS 11.3.2020).

Im Laufe des Jahres 2019 verschärften sich die Konflikte zwischen bewaffneten nichtstaatlichen Gruppen, die mit der GNA verbündet sind, und anderen nichtstaatlichen Akteuren. Die LNA übt in wechselndem Umfang Kontrolle über den größten Teil des libyschen Territoriums aus. Informelle nichtstaatliche bewaffnete Gruppen füllen das Sicherheitsvakuum im ganzen Land. Einige dieser Gruppen schlossen sich im Westen des Landes der GNA an, um Zugang zu staatlichen Ressourcen zu erhalten (USDOS 11.3.2020).

Milizen, bewaffnete Gruppen und Sicherheitskräfte begehen schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, einschließlich Kriegsverbrechen (AI 18.2.2020). Die Fähigkeit und Bereitschaft der Regierung, Missbräuche zu untersuchen oder strafrechtlich zu verfolgen, ist stark eingeschränkt (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

- AI - Amnesty International (18.2.2020): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2019; Libya, https://www.ecoi.net/en/document/2025836.html, Zugriff 24.9.2020

- USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Libya, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/LIBYA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 23.9.2020

Folter und unmenschliche Behandlung

Die Verfassungserklärung und nach-revolutionäre Gesetzgebung verbietet Folter (USDOS 11.3.2020). Folter und andere Misshandlungen sind in Gefängnissen, Haftanstalten und inoffiziellen Haftanstalten jedoch weit verbreitet (AI 18.2.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Bewaffnete Gruppen, von denen sich einige der Einheitsregierung (GNA) oder der Übergangsregierung angeschlossen haben, führen außergerichtliche Hinrichtungen, Entführungen, Folter und erzwungenes Verschwindenlassen durch (HRW 14.1.2020). Es gibt Berichte über grausame und erniedrigende Behandlung in staatlichen und extralegalen Haftanstalten, darunter Schläge, Verabreichung von Elektroschocks, Verbrennungen und Vergewaltigungen (USDOS 11.3.2020; vgl. AI 18.2.2020).

Quellen:

- AI - Amnesty International (18.2.2020): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2019; Libya, https://www.ecoi.net/en/document/2025836.html, Zugriff 24.9.2020

- HRW - Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 – Libya, https://www.ecoi.net/en/document/2022716.html, Zugriff 23.9.2020

- USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Libya, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/LIBYA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 23.9.2020

Korruption

Das Gesetz sieht strafrechtliche Sanktionen für Beamte wegen Korruption vor (USDOS 11.3.2020). Der Inlandskonflikt und die Schwäche der öffentlichen Institutionen untergraben die Umsetzung des Gesetzes (USDOS 11.3.2020; vgl. FH 4.3.2020). Korruption ist weit verbreitet (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Es fehlen grundlegende Mechanismen zur Verfolgung von Korruption bei Polizei und Sicherheitskräften (USDOS 11.3.2020).

Im Index der Korruptionswahrnehmung (CPI, Corruptions Perception Index) von Transparency International für das Jahr 2019 liegt Libyen auf Rang 168 von 180 untersuchten Staaten (TI 23.1.2020). Instabilität, Terrorismus, Krieg und Konflikte sind Gründe, warum Libyen am unteren Ende des Index’ verbleibt (TI 29.1.2019).

Quellen:

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Libya, https://www.ecoi.net/en/document/2030888.html, Zugriff 24.9.2020

- TI - Transparency International (23.1.2020): Corruption Perceptions Index 2019 – Full Data Set, https://images.transparencycdn.org/images/2019_CPI_FULLDATA.zip, Zugriff 24.9.2020

- TI - Transparency International (29.1.2019): Middle East & North Africa: corruption continues as institutions and political rights weaken, https://www.transparency.org/en/news/regional-analysis-mena, Zugriff 24.9.2020

- USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Libya, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/LIBYA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 23.9.2020

Wehrdienst und Rekrutierungen

Die Regierung der Nationalen Einheit (GNA) hat verschiedene Boden-, Luft-, See- und Küstenwachkräfte unter ihrem Kommando; die Streitkräfte bestehen aus einer Mischung aus halbregulären Militäreinheiten, Stammesmilizen, zivilen Freiwilligen sowie ausländischen Truppen und Söldnern. Zu den Streitkräften unter Khalifa Haftar, bekannt als die Libysche Nationalarmee (LNA), gehören ebenfalls verschiedene Boden-, Luft- und Marineeinheiten, die sich aus halbregulären Militärangehörigen, Stammesmilizen sowie ausländischen Truppen und Söldnern zusammensetzen. Die Größe der Streitkräfte sowohl der Regierung der Nationalen Einheit als auch der Libyschen Nationalarmee ist unbekannt (CIA 10.9.2020).

Das Mindestalter für den verpflichtenden oder freiwilligen Militärdienst liegt bei 18 Jahren (BI 10.10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020). Es gibt Berichte über vermehrte Rekrutierung von Kindern durch nichtstaatliche bewaffnete Gruppen, die nicht über formale Altersgrenzen verfügen (USDOS 11.3.2020).

Quellen:

- BI - Brookings Institution (10.10.2019): APPENDIX 1: Public Opinion and National Service, https://www.brookings.edu/wp-content/uploads/2019/10/National-Service_APPENDICES-1.pdf, Zugriff 24.9.2020

- CIA - Central Intelligence Agency (10.9.2020): The World Factbook – Libya, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/ly.html, Zugriff 23.9.2020

- USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Libya, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/LIBYA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 23.9.2020

Allgemeine Menschenrechtslage

Libyen wird seit einem bewaffneten Volksaufstand im Jahr 2011, bei dem der langjährige Diktator Mu'ammar al-Qaddafi abgesetzt wurde, von internen Spaltungen und zeitweiligen Bürgerkriegen heimgesucht. Internationale Bemühungen, rivalisierende Verwaltungen in einer Einheitsregierung zusammenzuführen, sind gescheitert, und die Einmischung regionaler Mächte hat die jüngsten Kämpfe verschärft. Die Verbreitung von Waffen und autonomen Milizen, blühende kriminelle Netzwerke und die Präsenz extremistischer Gruppen haben allesamt zur mangelnden physischen Sicherheit im Lande beigetragen (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Die anhaltende Gewalt hat Hunderttausende von Menschen vertrieben und die Menschenrechtslage hat sich stetig verschlechtert (FH 4.3.2020; vgl. BS 2020). Milizen, bewaffnete Gruppen und Sicherheitskräfte begehen schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, darunter auch Kriegsverbrechen (AI 18.2.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Nach 2011 erlebte Libyen ein Wiederaufleben zivilgesellschaftlicher Aktivitäten, die 42 Jahre lang unterdrückt wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen sind weiterhin präsent und konzentrieren sich in erster Linie auf humanitäre Hilfe. Ihre Zahl ist seit 2014 zurückgegangen. Aufgrund gezielter Angriffe auf Aktivisten der Zivilgesellschaft sind jedoch viele von ihnen geflohen und operieren aus dem Ausland (BS 2020).

Milizen, bewaffnete Gruppen und Sicherheitskräfte unterdrücken die Meinungsfreiheit, indem sie Politiker, Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und andere Aktivisten schikanieren, entführen und angreifen. Die libyschen Behörden schützen Frauen nicht vor geschlechtsspezifischer Gewalt durch Milizen und bewaffnete Gruppen (AI 18.2.2020; vgl. FH 4.3.2020, USDOS 11.3.2020). Gemäß Strafgesetzbuch wird die sexuelle Betätigung zwischen Angehörigen des gleichen Geschlechts mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft. Sexuelle Minderheiten sind mit schwerer Diskriminierung und Belästigung konfrontiert und wurden von militanten Gruppen ins Visier genommen (FH 4.3.2020; vgl. AI 18.2.2020, USDOS 11.3.2020).

Ausländische Staatsangehörige, die auf dem Weg nach Europa als Asylsuchende und Migranten durch Libyen reisen, sind Erpressung, Folter, Entführung und sexueller Gewalt durch kriminelle Banden ausgesetzt, die in Schmuggel und Menschenhandel verwickelt sind (BS 2020; vgl. AI 18.2.2020, USDOS 11.3.2020).

Quellen:

- AI - Amnesty International (18.2.2020): Human rights in the Middle East and North Africa: Review of 2019; Libya, https://www.ecoi.net/en/document/2025836.html, Zugriff 24.9.2020

- BS - Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020: Libya, https://www.bti-project.org/content/en/downloads/reports/country_report_2020_LBY.pdf, Zugriff 23.9.2020

- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Libya, https://www.ecoi.net/en/document/2030888.html, Zugriff 24.9.2020

- USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Libya, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/LIBYA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 23.9.2020

Haftbedingungen

Überbelegte Gefängnisse, in denen harte und lebensbedrohende Haftbedingungen herrschen, entsprechen nicht internationalen Standards. Viele Gefängnisse befinden sich nicht unter der Kontrolle der Regierung. Berichten zufolge gibt es keine Jugendstrafanstalten im Land und die Behörden halten Jugendliche in Gefängnissen für Erwachsene fest, wenn auch manchmal in getrennten Abschnitten. Oft gibt es getrennte Einrichtungen für Männer und Frauen (USDOS 11.3.2020; vgl. HRW 14.1.2020). Die Strafvollzugsbehörden, die oft nur nominell der einen oder anderen rivalisierenden Regierung unterstellt sind, halten weiterhin Tausende von Gefangenen ohne Anklage in langfristiger willkürlicher Haft (HRW 14.1.2020).

Quellen:

- HRW - Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 – Libya, https://www.ecoi.net/en/document/2022716.html, Zugriff 23.9.2020

- USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: Libya, https://www.state.gov/wp-content/uploads/2020/02/LIBYA-2019-HUMAN-RIGHTS-REPORT.pdf, Zugriff 23.9.2020

Situation staatenloser Palästinenser

Es gibt kaum aktuelle Informationen zur Lage von Palästinensern in Libyen. Das hat auch damit zu tun, dass Palästinenser eine Minderheit sind im Vergleich zur großen Anzahl an afrikanischen Flüchtlingen und Migranten in Libyen.

Seit der Unabhängigkeit Libyens wurden Personen arabischer Herkunft meistens nicht wie andere Migranten als Fremde angesehen, sondern als «arabische Freunde». Libyen war weder 1948 noch 1967 ein primäres Zielland von palästinensischen Flüchtlingen. In den 1970er Jahren kamen Palästinenser in erster Linie zum Arbeiten nach Libyen. Nach der israelischen Besetzung von Gaza 1967 flohen Palästinenser von dort und nach den Massakern in Sabra und Schatila 1982 aus dem Libanon nach Libyen. Auch palästinensische Flüchtlinge, die in Syrien und Ägypten lebten, kamen in dieser Zeit nach Libyen. Die palästinensische Gemeinschaft in Libyen war immer relativ klein. In den 1990er Jahren lebten 30.000 Palästinenser in Libyen.

Nach dem Oslo-Abkommen 1994 zwischen der PLO (Palestinian Liberation Front) und Israel ließ Muammer Gaddafi alle Palästinenser aus Libyen ausschaffen. Damit signalisierte er, dass er das Abkommen als Versagen von Palästinenserführer Yassir Arafat im Kampf gegen Israel wertete. Die Palästinenser verloren ihre Arbeitsstellen und ihre Aufenthaltsbewilligungen wurden nicht mehr erneuert. Zwischen 1994 und 1996 wurden schätzungsweise 17.000 Palästinenser aus Libyen ausgeschafft; die meisten kamen ursprünglich aus Gaza, aus dem Libanon und aus Syrien. Diejenigen, die 1996 wegen ungültiger oder nicht vorhandener Identitätsdokumente nicht zurückkehren konnten, wurden ins improvisierte Lager al-Wada bei Salloum an der Grenze zu Ägypten zwangsumgesiedelt. 1997 beschloss Gaddafi überraschend, alle aus Libyen vertriebenen Palästinenser wieder aufzunehmen. Nur wenige kehrten aus dem Ausland zurück. Diejenigen, die sich im Lager al-Wada befanden, begannen zwar, sich in der libyschen Gesellschaft wieder eine Existenz aufzubauen. Viele verlängerten jedoch aus Angst vor erneuten Ausschaffungen ihre Aufenthaltsbewilligungen nicht.

Gemäß einem palästinensischen Wissenschaftler lebten 2011 in Libyen 70.000 Palästinenser, die unterschiedliche Reisedokumente aus Ägypten, aus Syrien oder aus dem Libanon besaßen, oder staatenlos waren. Ein Mitarbeiter einer internationalen Organisation wies darauf hin, dass es heute zwei Gruppen von Palästinensern in Libyen gibt: Die einen leben seit Jahren in Libyen, und die meisten von ihnen verfügen, wie oben dargelegt, über ägyptische, syrische oder libanesische Reisepapiere. Bei den anderen handelt es sich um palästinensische Flüchtlinge, die seit 2011 aus Syrien geflohen sind.

UNHCR wies 2015 darauf hin, dass es kaum möglich sei, zwischen neu ankommenden Palästinensern und denjenigen, die bereits seit längerer Zeit im Land leben, zu unterscheiden. Eine Einschätzung, wie viele Palästinenser in Libyen leben, ist gemäß einem Artikel aus dem Jahr 2012 schwierig, da zu diesem Zeitpunkt bereits viele aus Libyen geflohen oder intern vertrieben waren, und da viele keinen geregelten Status hatten.

Das niederländische Außenministerium schreibt in einem gemeinsam mit den Herkunftsländerinformationsstellen von Belgien, Schweden und Norwegen verfassten Bericht vom Dezember 2014, dass Palästinenser während der Revolution im Jahr 2011 Opfer von gezielten Angriffen sowohl durch Gaddafi-treue Gruppen als auch durch Gaddafi-feindliche Aktivisten geworden seien. Zu dieser Zeit hätten sich etwa 50.000 bis 70.000 Palästinenser als Arbeitsmigranten in Libyen aufgehalten. Es gebe berichte, dass Palästinenser von Gaddafis Truppen festgenommen worden seien, nachdem sie sich geweigert hätten, regimefreundlichen bewaffneten Gruppen beizutreten.

Quellen:

- Schweizerische Flüchtlingshilfe, Libyen: Palästinensische Flüchtlinge. Themenpapier vom 31. Oktober 2017, https://www.ecoi.net/en/file/local/1417641/1788_1510652975_liby.pdf (Zugriff am 9. Juli 2021)

- ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Libyen: Palästinenser: Anzahl und Verteilung, Status (langjähriger Aufenthalt 1989-2014), Rückkehrverbot, allgmeine Lage, Sicherheitslage, Bedrohung, Einschränkungen [a-9987-1], 19. Jänner 2017, https://www.ecoi.net/de/dokument/1129897.html (Zugriff am 9. Juli 2021)

Lifos, das Zentrum für Länderinformationen der schwedischen Einwanderungsbehörde (Migrationsverket), legt in einer Anfragebeantwortung vom Februar 2016 unter Berufung auf verschiedene Quellen dar, dass Palästinenser auch nach dem Fall des Gaddafi-Regimes Opfer von Belästigungen und Einschüchterungen geworden seien. Viele Palästinenser hätten ihre Wohnungen räumen müssen, da die vormaligen Besitzer, deren Grundstücke vom Gaddafi-Regime konfisziert worden seien, diese wieder in Besitz nehmen würden. Die Ankunft von Palästinensern und Syrern, die aufgrund des Krieges in Syrien geflohen seien, belaste das Land noch zusätzlich, da die Neuankömmlinge den Libyern und anderen Ausländern in Bezug auf Arbeitsstellen und sozialen Diensten Konkurrenz machen würden. Dies habe unter Libyern negative Einstellungen gegenüber Syrern und Palästinensern hervorgebracht. Die lokalen Behörden in Misrata hätten Syrer und Palästinenser nach dem Ausbruch des Konflikts im Mai 2014 dazu aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Seit Beginn des Aufstandes 2011 sei in Bengasi über diskriminierende Behandlung berichtet worden. Die Lage von syrischen und palästinensischen Flüchtlingen, die angeblich im Vergleich zu Personen aus Subsahara-Afrika relativ gut gewesen sei, habe sich Berichten zufolge seit Ausbruch des bewaffneten Konflikts Mitte 2014 verschlechtert. Syrer wie Palästinenser seien vor dem Hintergrund der Vorkommnisse von Libyern zu Sündenböcken erklärt worden und es seien Gerüchte über ihre Verbindungen zu Milizen und radikalen Gruppen kursiert. Einer libyschen Quelle zufolge sei dies dem Anschein nach stärker für Palästinenser und Syrer der Fall, die in Bengasi leben würden. Palästinenser und Syrer, die in Tripolis und im Westen Libyens leben würden, seien nicht in gleicher Weise betroffen. In Tripolis hätten sie vermeintlich auch von der Instabilität profitiert, da sie Geschäfte leiten würden, wenn es Libyern nicht mehr möglich sei. (Migrationsverket, 23. Februar 2016, S. 18-19)

Im derselben Anfragebeantwortung finden sich auch allgemeine Informationen zum libyschen Rechtssystem in Bezug auf Einreise und legalen Aufenthalt (Migrationsverket, 23. Februar 2016, S. 11-15)

Das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UN High Commissioner for Refugees, UNHCR) schreibt in seiner Position zur Rückkehr nach Libyen vom Oktober 2015, dass Libyen weder die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 über die Rechtsstellung von Flüchtlingen noch deren Zusatzprotokoll unterzeichnet habe. Libyen habe die Konvention der Organisation für Afrikanische Einheit zur Regelung der Probleme von Flüchtlingen in Afrika 1969 ratifiziert, müsse aber noch eine Asylgesetzgebung verabschieden und den Asylprozess einrichten. Zusätzlich zu den mehr als 36.000 beim UNHCR in Libyen registrierten Flüchtlingen und Asylsuchenden (Stand: Juli 2014), unter denen auch Palästinenser seien, gebe es auch staatenlose Personen und Drittstaatsangehörige, die internationalen Schutz benötigen würden und nicht beim UNHCR registriert seien. Das liege auch daran, dass UNHCR seit Mai 2014 aufgrund der Sicherheitslage keine Neuregistrierungen vorgenommen habe und dass Personen beabsichtigen würden, weiterzureisen, um anderswo um internationalen Schutz anzusuchen. (UNHCR, Oktober 2015, S. 11)

BADIL, eine unabhängige nichtprofitorientierte Organisation zum Schutz der Rechte von palästinensischen Flüchtlingen, erwähnt in einem Bericht zur Lage von Palästinensern in verschiedenen arabischen Ländern vom November 2015 unter Berufung auf verschiedene Quellen auch Libyen als Aufnahmeland. Dort habe die Eskalation von gegen die Regierung gerichteten Protesten zu Kämpfen zwischen pro-Gaddafi und Gaddafi-feindlichen Truppen geführt, infolge derer zwischen Februar und Anfang Mai 2011 geschätzt 750.000 Personen, darunter circa 267.000 Nichtlibyer geflohen seien. Beim Ausbruch des Konflikts hätten circa 70.000 Palästinenser in Libyen gelebt. Circa 100 Studenten seien im März 2011 evakuiert worden und Israel habe 300 Palästinensern erlaubt, in die besetzten palästinensischen Gebiete einzureisen. Circa 3.000 Palästinenser hätten versucht, über die Grenze nach Ägypten zu gelangen, jedoch habe ihnen das ägyptische Militär die Einreise verweigert. Das Militär habe die Anweisung gehabt, Palästinensern ohne ägyptischen Personalausweis oder gültiger Aufenthaltsgenehmigung für Ägypten die Einreise zu verweigern. Die genaue Anzahl von Palästinensern, die versucht hätten, aus Libyen zu fliehen, sei unbekannt. (BADIL, 10. November 2015, S. 12-13)

BADIL berichtet weiters, dass Libyen bereits seit langem tausende palästinensische Arbeitskräfte aufgenommen habe. Schätzungen zufolge sei die Anzahl der Palästinenser in Libyen von 5.000 im Jahr 1970 auf mehr als 29.000 Ende 1992 angewachsen. Kinder palästinensischer Flüchtlinge seien von der libyschen Regierung unterstützt worden und hätten unter anderem Stipendien für die höhere Schulbildung und Hochschulausbildung erhalten. 1995 habe der damalige Herrscher Gaddafi aus Protest gegen die Einigung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (Palestine Liberation Organisation, PLO) mit Israel mit der Ausweisung aller circa 30.000 Palästinenser aus Libyen gedroht. Circa 13.000 von ihnen seien abgeschoben worden. Die, die nicht ausgewiesen worden seien, seien in Libyen ohne Arbeit, Einkommen oder Aufenthaltsrecht zurückgeblieben. Beim Ausbruch der arabischen Revolutionen 2011 hätten in Libyen 70.000 palästinensische Arbeiter, 100 Studenten und mehr als 8.000 von UNHCR anerkannte Flüchtlinge gelebt. Was den rechtlichen Status von Palästinensern in Libyen angehe, so würden sie gleich behandelt wie libysche Bürger, lediglich zwischen 1995 und 1997 sei ihr Aufenthaltsstatus aufgehoben worden. Auch was Arbeit anginge, würden Palästinenser den libyschen Bürgern gleichgestellt. Generell sei es Flüchtlingen nicht erlaubt, Geschäfte zu leiten, notwendige Lizenzen zu erhalten, oder Immobilien zu besitzen. Trotzdem erlaube die Regierung einer kleinen Anzahl von Palästinensern und Irakern, Geschäfte zu leiten. Seit den 1970er Jahren seien den Kindern von palästinensischen Flüchtlingen Stipendien zur Vervollständigung ihrer Schul- und Hochschulausbildung gewährt worden. Die Regierung bezahle die Gesundheitsversorgung und die Bildung palästinensischer Flüchtlinge, während andere Flüchtlinge ihre Gesundheitsversorgung über UNHCR beziehen würden. 1986 habe Muammar Gaddafi Grundbesitz verboten. Mithilfe verschiedener Umverteilungsmechanismen habe er sich Unterstützung sichern wollen und lange Zeit hätten viele Palästinenser subventioniert wohnen dürfen. Seit der Revolution aber seien Besitzstreitigkeiten zu einer grundlegenden Gefahr für die nationale Sicherheit Libyens geworden. Obwohl zum Großteil Libyer an den Besitzstreitigkeiten beteiligt seien, sei die palästinensische Gemeinde auch wesentlich davon betroffen. Viele seien mit Zwangsräumung durch die ursprünglichen Eigentümer des Hauses konfrontiert, was deren unsicheren Status noch verschärfen würde. Bis jetzt seien Versuche, das Eigentumsrecht zu reformieren, gescheitert und die gegenwärtige Lage sei, was Grundbesitz anlange, instabil und chaotisch. Für Palästinenser würden die gleichen Reisebestimmungen wie für Libyer gelten. (BADIL, 10. November 2015, S. 23-24)

Die internationale Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) meldet Folgendes im Februar 2016: „Im Januar 2015 verhängte die international anerkannte Regierung ein Einreiseverbot für Syrer, Palästinenser sowie Staatsangehörige aus Bangladesch und dem Sudan. Das Verbot wurde im September auf Staatsangehörige aus dem Jemen, dem Iran und aus Pakistan ausgeweitet.“ (AI, 24. Februar 2016)

Die internationale Nachrichtenagentur Reuters berichtet im Jänner 2015, dass die offizielle Regierung Libyens die Einreise von Palästinensern, Syrern und Sudanesen verboten habe, da laut Angaben des Innenministers deren Staaten die nationale Sicherheit Libyens gefährden würden. Die Regierung unter Premierminister Al-Thinni habe die Kontrolle über einen Reststaat im Osten Libyens, nachdem eine rivalisierende Gruppe im Sommer 2015 Tripolis eingenommen, ein Parlament eingerichtet sowie eine Regierung ausgerufen habe, die international nicht anerkannt werde. Die Al-Thinni unterstehende Regierung könne dieses Einreiseverbot daher nur an den östlichen Flughäfen Tobruk und Labraq, sowie an der Landgrenze zu Ägypten durchsetzen. Der wichtigste militärische Partner von Al-Thinni, Armeegeneral Khalifa Haftar, habe mehrfach Sudanesen, Palästinenser und Syrer beschuldigt, sich Ansar al-Scharia und anderen islamistischen Gruppen anzuschließen, die gegen regierungsnahe Truppen in der Stadt Bengasi kämpfen würden. (Reuters, 6. Jänner 2015)

Ra‘i Al-Youm, eine in London ansässige Onlinezeitung, schreibt im Mai 2014, dass laut Angaben des palästinensischen Konsuls in Libyen gegenüber Ra’i Al-Youm einige Mitglieder der palästinensischen Gemeinschaft in diesen Tagen Opfer heftiger Angriffe vonseiten unbekannter bewaffneter Gruppen würden. Diese Gruppen würden die Palästinenser beschuldigen, sich fundamentalen islamistischen Gruppen, besonders in der Stadt Bengasi, angeschlossen zu haben. Darüber hinaus würden einige TV-Stationen eine Medienkampagne gegen Palästinenser führen, in der diese Anschuldigungen wiederholt würden. (Ra’i Al-Youm, 20. Mai 2014)

Quelle:

- ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Libyen: Situation staatenloser Palästinenser [a-9949], 15. Dezember 2016
https://www.ecoi.net/de/dokument/1260326.html (Zugriff am 9. Juli 2021)

Anspruch von staatenlosen Palästinensern auf UNRWA-Unterstützung

Auf der Website des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East, UNRWA) findet sich ein ausführliches Dokument aus dem Jahr 2014, in dem die Organisation unter anderem über ihre Strukturen und Tätigkeitsbereiche berichtet. Das Dokument führt an, dass das Hilfswerk Operationen in folgenden fünf Ländern bzw. Gebieten durchführe: Jordanien, Libanon, Syrien, Gazastreifen und Westjordanland. Libyen wird in dem Dokument nicht erwähnt:

Auf der UNRWA-Website findet sich weiters die Kategorie „Where we work“, in der ebenfalls nur die fünf oben angeführten Länder bzw. Gebiete gelistet werden (UNRWA, ohne Datum (a)). An einer anderen Stelle der Website wird erläutert, dass die UNRWA-Dienste denjenigen Palästina-Flüchtlingen und Nachkommen männlicher Palästina-Flüchtlinge zur Verfügung stehen würden, die in den Operationsgebieten des Hilfswerks leben würden, beim Hilfswerk registriert und auf Unterstützung angewiesen seien:

Quelle:

- ACCORD – Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation: Anfragebeantwortung zu Libyen: 1) Lage von staatenlosen Palästinensern, insbesondere solchen, die zuvor in Syrien gelebt haben und über ein syrisches Reisedokument für Flüchtlinge verfügen (u.a. Zugang zu staatlicher Unterstützung und medizinischer Hilfe, zu Bildung für ihre Kinder und zu regulärer Arbeit); 2) Anspruch von staatenlosen Palästinensern auf UNRWA-Unterstützung; 3) Sicherheitslage für staatenlose Palästinenser; 4) Ist mit einem syrischen Reisedokument für palästinensische Flüchtlinge eine legale Rückkehr nach Libyen möglich? [a-8920-v2], 6. März 2015, https://www.ecoi.net/de/dokument/1289123.html (Zugriff am 14. Juli 2021)

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zum Sachverhalt:

Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakten des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl sowie der vorliegenden Gerichtsakten des Bundesverwaltungsgerichtes.

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweise erhoben durch die Einsichtnahme in die Akten der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin vor dieser und den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, in die bekämpften Bescheide und in den Beschwerdeschriftsatz sowie das "Länderinformationsblatt der Staatendokumentation" zu Libyen. Außerdem konnte im vorliegenden Beschwerdefall auf die Ermittlungsergebnisse im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 09.08.2021 vor dem Bundesverwaltungsgericht zurückgegriffen werden.

Auskünfte aus dem Zentralen Melderegister, dem Zentralen Fremdenregister, dem Strafregister, dem Schengener Informationssystem und dem Betreuungsinformationssystem wurden ergänzend eingeholt.

2.2. Zu den Personen der Beschwerdeführer:

Da die Beschwerdeführer keine identitätsbezeugenden Dokumente in Original vorgelegt haben, steht ihre Identität nicht fest.

Die Feststellungen zu den Lebensumständen, der Herkunft, der Staatenlosigkeit sowie der Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit der Beschwerdeführer gründen sich auf die diesbezüglichen glaubhaften Angaben des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin vor der belangten Behörde und dem Bundesverwaltungsgericht.

Aufgrund der glaubhaften Angaben der Erst- und Zweitbeschwerdeführer sowie der sich im Verwaltungsakt befindlichen Heiratsurkunde ist belegt, dass die Erst- und Zweitbeschwerdeführer miteinander verheiratet und die Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer ihre gemeinsamen Kinder sind.

Die Feststellungen hinsichtlich der Schulbildung, Arbeitserfahrung und Lebenssituation des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin ergeben sich aus deren glaubhaften Angaben im Rahmen ihrer Einvernahmen im Administrativverfahren und vor dem Bundesverwaltungsgericht.

Dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin bei UNRWA in Gaza als Flüchtlinge registriert waren, jedoch freiwillig auf den Beistand der UNRWA verzichteten und ihren Aufenthalt in Libyen begründeten, ergibt sich aus den vorgelegten Bestätigungen (AS 139 BF1, AS 59 BF 2) und ihrem insoweit plausiblen Vorbringen. Es sind keine Gründe ersichtlich, aus denen sie den Beistand des UNRWA nicht neuerlich in Anspruch nehmen können sollten (siehe dazu die Ausführungen unter Punkt II.1.3).

Die Feststellungen zum Aufenthalt der Beschwerdeführer in Österreich und zu ihrer Asylantragsstellung ergeben sich unstrittig aus dem Verwaltungsakt in Zusammenschau mit den eingeholten zmr-Abfragen und ihren eigenen Angaben vor dem Bundesverwaltungsgericht.

Dass der Antrag der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz im Hinblick auf den Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Libyen positiv beschieden und ihnen eine befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte erteilt wurde, zuletzt verlängert bis zum 27.03.2022, resultiert aus der Einsichtnahme in den Verwaltungsakt und den zusätzlich eingeholten Auszügen aus dem zentralen Fremdenregister.

Die Feststellungen zu den strafgerichtlichen Verurteilungen des Erstbeschwerdeführers und zur Unbescholtenheit der Zweitbeschwerdeführerin ergeben sich aus entsprechenden Abfragen des Strafregisters der Republik Österreich vom 09.07.2021, die Strafunmündigkeit der Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer aus ihrem Alter.

2.3. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:

Zunächst ist hervorzuheben, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin bei ihrer Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 23.07.2014 noch behauptet hatten, aus Syrien zu stammen und das Land aufgrund des Bürgerkrieges verlassen zu haben.

Erst im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme durch das BFA am 26.01.2015 räumten der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin ein, sich wahrheitswidrig als syrische Flüchtlinge ausgegeben zu haben, um ihre Chancen auf Asyl zu erhöhen.

Stellt ein Asylwerber einen Antrag auf internationalen Schutz unter Verwendung eines falschen Herkunftsstaates bedeutet das, dass er, gerade unter dem Gesichtspunkt der geltend gemachten Fluchtgründe, versucht, sich unzulässiger Weise einen asylrelevanten, bzw. subsidiären Schutz betreffenden Vorteil zu verschaffen, den er bei richtiger Angabe seines Herkunftsstaates nicht hätte. Folglich leidet darunter die gesamte Glaubwürdigkeit der Beschwerdeführer, da wohl in der Regel nur ein Asylwerber, der bewusst einen unbegründeten Antrag auf internationalen Schutz stellt, sich veranlasst sehen wird, die belangte Behörde durch die Angabe eines falschen Herkunftsstaates in die Irre zu leiten.

Zu ihren Fluchtgründen erklärte der Erstbeschwerdeführer erstmals gegenüber dem BFA, dass vier bewaffnete Personen zu ihm ins Geschäft gekommen seien, ihn bedroht und Geld gefordert hätten und außerdem sein Auto mitgenommen hätten. Am nächsten Tag seien sie zu ihm nach Hause gekommen und hätten wieder Geld gefordert, unter der Androhung, dass ansonsten ein Familienmitglied entführt werde. Die Libyer würden keine Palästinenser mögen, deswegen sei es zu der Bedrohung gekommen. Der Erstbeschwerdeführer sei zur Polizei gegangen, doch diese habe erklärt, ihn nicht schützen zu können. Aus diesem Grund haben sie das Land verlassen. Die Zweitbeschwerdeführerin berief sich auf die Fluchtgründe ihres Ehemannes und erklärte, in ihrem Herkunftsstaat als Palästinenserin Probleme zu haben.

Gegenüber dem Bundesverwaltungsgericht änderten die Beschwerdeführer ihr Fluchtvorbringen ein weiteres Mal und machten geltend, von der Mafia verfolgt zu werden, weil ihr Bruder ein Unterstützer Gaddafis gewesen sei.

Es ist keineswegs nachvollziehbar, dass der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin die angebliche Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Palästinenser in ihrer Erstbefragung nicht mit einem Wort erwähnten. Dass der Bruder des Erstbeschwerdeführers ein Gaddafi-Unterstützer sei und dies der eigentliche Grund für ihre Verfolgung gewesen sei, erwähnten sie überhaupt erstmals in der mündlichen Beschwerdeverhandlung. Die Begründung des Erstbeschwerdeführers, wonach er die Verfolgung seines Bruders nicht erwähnen habe wollen, weil er sich Sorgen um ihn gemacht habe, vermochte nicht zu überzeugen.

Hinsichtlich dieser Steigerung des Fluchtvorbringens ist insbesondere auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs zu verweisen, welcher in ständiger Rechtsprechung die Rechtsansicht vertritt, dass die bei einer ersten Vernehmung gemachten Angaben erfahrungsgemäß der Wahrheit am nächsten kommen und auch die rechtliche Unbefangenheit nach der Lebenserfahrung als eine gewisse Gewähr für die Übereinstimmung der Erstaussage mit den tatsächlichen Verhältnissen angesehen werden kann (vgl. die Erk. des VwGH vom 21.12.1992, Zl. 89/16/0147; vom 17.10.2012, Zl. 2011/08/0064, mwN).

Der Verwaltungsgerichtsh

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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