TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/18 I412 1422393-3

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 18.08.2021
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Entscheidungsdatum

18.08.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §54 Abs2
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs1 Z2
AsylG 2005 §58 Abs11
AsylG 2005 §58 Abs2
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50
FPG §52
FPG §55 Abs2
IntG §11 Abs2
IntG §9 Abs4
NAG §81 Abs36
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §27
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


I412 1422393-3/27E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Gabriele ACHLEITNER als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX (geb. XXXX ), geb. XXXX , StA. NIGERIA, vertreten durch: RA Mag. Dr. Gregor KLAMMER, Jordangasse 7/4, 1010 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich vom 15.11.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 26.07.2021, zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides betreffend die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels besonderer Schutz wird gemäß § 57 Asylgesetz (AsylG) als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkte II. wird stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) iVm § 9 Abs. 2 und 3 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist. Lydia OYOO wird gemäß § 54 Abs. 1 Z 1, § 55 Abs. 1 und § 58 Abs. 2 AsylG der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

III. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides ersatzlos aufgehoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Am 03.10.2011 stellte die Beschwerdeführerin (BF) einen Asylantrag in Österreich.

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 18.10.2011 wurde der Antrag der BF bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.), der Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt II.), und die BF gemäß § 10 Abs. 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Nigeria ausgewiesen.

Gegen diesen Bescheid wurde innerhalb offener Frist Beschwerde an den zu diesem Zeitpunkt zuständigen Asylgerichtshof erhoben. Die Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 26.06.2015, Zl. W211 1422393-1/20E, gemäß § 3 Abs. 1 und § 8 Abs. 1 AsylG als unbegründet abgewiesen und das Verfahren gemäß § 75 Abs. 20 AsylG zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zurückverwiesen.

Der Verwaltungsakt wurde an das BFA rückübermittelt und ist dort am 02.07.2015 eingelangt. Die von der BF am 16.02.2016 erhobene Säumnisbeschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht durch das BFA wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 23.08.2016 als unzulässig zurückgewiesen, da die in diesem Zeitpunkt geltende Entscheidungsfrist von 15 Monaten gemäß § 22 (1) AsylG, BGBl. I Nr. 24/2016, noch nicht verstrichen war.

Nach einer niederschriftlichen Einvernahme der BF und Befragung des damaligen Ehemannes als Zeugen erteilte das BFA mit Bescheid vom 15.11.2018 keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt I.). Gegen die BF wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt II.) und festgestellt, dass eine Abschiebung nach Nigeria zulässig ist (Spruchpunkt III.). Für die freiwillige Ausreise besteht eine Frist von 14 Tagen (Spruchpunkt IV.).

Dagegen wurde durch den Rechtsvertreter der BF rechtzeitig und zulässig Beschwerde erhoben. Moniert wurde, dass ein schützenswertes Privat- und Familienleben vorliege und die Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig erklärt werden hätte müssen. Die BF lebe nunmehr seit sieben Jahren in Österreich und treffe sie kein Verschulden an der überlangen Verfahrensdauer.

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 14.08.2019, Zl. I412 1422393-3/2E wurde die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.

Mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 28.05.2020, Ra 2019/21/0294-10 wurde das Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Am 26.07.2021 fand eine mündliche Verhandlung beim Bundesverwaltungsgericht statt. Trotz ordnungsgemäßer Ladung erschien sowohl die BF als auch ihr Rechtsvertreter persönlich unentschuldigt nicht zur Verhandlung, weshalb diese in ihrer Abwesenheit durchgeführt wurde. Mit Stellungnahme vom selben Tag teilte der Rechtsvertreter mit, dass die BF am 02.07.2021 per Mail von der heutigen Verhandlung verständigt worden sei. Er verwies auf den prekären psychischen Zustand und die Angst der BF die Wohnung zu verlassen. Zudem gab er an, dass die BF sich seit Juni 2021 nicht bei ihm gemeldet habe, obwohl sie von der Verhandlung Bescheid wusste und ihm auch nicht den Auftrag erteilt habe der Verhandlung beizuwohnen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der BF:

Die volljährige BF ist Staatsangehörige von Nigeria, und stammt aus Uromi, Edo State. Ihre Identität steht nicht fest.

Die BF hat noch Familienangehörige in Nigeria, zu denen sporadisch Kontakt besteht.

Die BF leidet unter keinen die Arbeitsfähigkeit ausschließenden Krankheiten.

Seit spätestens 03.10.2011 befindet sich die BF durchgehend in Österreich und wies während ihres gesamten Aufenthaltes einen aufrechten Hauptwohnsitz in Österreich auf. Sie hält sich somit seit beinahe zehn Jahren im österreichischen Bundesgebiet auf.

Die BF war von August 2013 bis zumindest 2019 mit einem nigerianischen Staatsangehörigen verheiratet, von dem sie mittlerweile geschieden ist.

Die BF absolvierte einen Deutschkurs und legte eine Prüfung über das Niveau A2 Grundstufe Deutsch 2 (Datum 09.10.2013) ab. Sie besucht eine Kirche und singt dort im Chor.

Die BF bezieht seit Juni 2012 keine Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung mehr.

Sie ist strafrechtlich unbescholten.

Am 26.07.2021 wurde vom Bundesverwaltungsgericht, Außenstelle Innsbruck, eine mündliche Beschwerdeverhandlung abgehalten, zu welcher die BF und ihr Rechtsvertreter unentschuldigt nicht erschienen sind, obschon ordentlich geladen.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zum Sachverhalt:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurden im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweise erhoben durch die Einsichtnahme in den Akt des BFA und des Bundesverwaltungsgerichtes. Ergänzend wurden aktuelle Auszüge aus dem Strafregister der Republik Österreich, des Betreuungsinformationssystems, dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger, des Zentralen Fremdenregisters und des Zentralen Melderegisters eingeholt.

2.2. Zur Person der BF:

Die Feststellungen zur Identität und zur Volljährigkeit der BF ergeben sich aus ihren gleichbleibenden und übereinstimmenden Angaben vor dem BFA und dem Bundesverwaltungsgericht. Es ist im Verfahren nichts hervorgekommen, dass Zweifel an der Richtigkeit dieser Feststellungen zur Person der BF aufkommen lässt.

Da die BF den österreichischen Behörden keine identitätsbezeugenden Dokumente vorlegen konnte, steht ihre Identität nicht zweifelsfrei fest. Die vorgelegte Geburtsurkunde, ohne Lichtbild, reicht für eine eindeutige Identitätsfeststellung nicht aus.

Die Feststellungen zur regionalen Herkunft und zu den familiären Anknüpfungspunkten der BF in Nigeria ergeben sich aus der Aktenlage und ihren Angaben im Verfahren.

Die Feststellung zum Gesundheitszustand der BF ergibt sich aus ihren Angaben. Auch aus der Aktenlage sind keinerlei Hinweise auf lebensbedrohliche gesundheitliche Beeinträchtigungen ableitbar. Wenn der Rechtsvertreter der BF in der Stellungnahme vom 26.07.2021 auf den prekären psychischen Zustand der BF verweist, dann ist dem entgegenzuhalten, dass zur Prüfung der Intensität ihrer psychischen Beeinträchtigung keine aktuellen medizinischen Unterlagen in Vorlage gebracht wurden.

Die Feststellungen zum Aufenthalt der BF in Österreich ergeben sich aus einem eingeholten Auszug aus dem zentralen Fremdenregister sowie dem zentralen Melderegister und dem vorliegenden Akteninhalt.

Die Feststellungen zur Ehe und zur Scheidung der BF ergeben sich aus der Heiratsurkunde vom 16.08.2013 und einem ZMR-Auszug vom 12.08.2021, aus welchem sich der aktuelle Familienstand „geschieden“ ergibt.

Die Feststellungen zur Integration der BF und ihren Deutschkenntnissen ergibt sich aus ihren Angaben und den vorgelegten Dokumenten.

Der Umstand, dass sich die BF in Österreich nicht in der staatlichen Grundversorgung befindet, ergibt sich aus einer Abfrage in der Applikation "Betreuungsinformation" (Grundversorgung) vom 12.08.2021.

Die Feststellung, dass die BF in Österreich strafgerichtlich unbescholten ist, ergibt sich aus einer vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten Strafregisterauskunft und dem Akteninhalt.

Eingangs ist festzuhalten, dass die BF die ihr eingeräumte Möglichkeit einer neuerlichen Darlegung ihrer aktuellen Situation in Österreich, ihres Privat- und Familienlebens sowie ihrer Integration und der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat im Rahmen einer mündlichen Beschwerdeverhandlung nicht wahrgenommen hat. Vielmehr blieb sie dieser unentschuldigt fern, obschon sie ordentlich geladen und von ihrem Rechtsvertreter, wie sich aus dessen Stellungnahme vom 26.07.2021 ergibt, über den Verhandlungstermin in Kenntnis gesetzt wurde. Aufgrund des fast zehnjährigen Aufenthaltes der BF in Österreich in Zusammenhang mit den Angaben der BF im bisherigen Verfahren und den bis dato in Vorlage gebrachten Unterlagen ist der maßgebliche Sachverhalt jedoch dennoch als geklärt anzusehen.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) Stattgabe der Beschwerde:

3.1. Zur Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG (Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides):

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass das BFA unter Zitierung des § 57 AsylG zwar ausgesprochen hat, dass ein Aufenthaltstitel „aus berücksichtigungswürdigen Gründen“ gemäß § 57 AslG nicht erteilt werde, dass sich aus der Begründung des angefochtenen Bescheides jedoch unzweifelhaft ergibt, dass das BFA tatsächlich rechtsrichtig über eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ gemäß § 57 AsylG abgesprochen und eine solche nicht erteilt hat.

Gemäß § 58 Abs. 1 Z 2 AsylG hat das Bundesamt die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG von Amts wegen zu prüfen, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird. Die formellen Voraussetzungen des § 57 AsylG sind allerdings nicht gegeben und werden in der Beschwerde auch nicht behauptet. Eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz war der BF daher nicht zuzuerkennen.

Die Beschwerde war daher auch hinsichtlich des Spruchpunktes I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 57 AsylG abzuweisen.

3.2. Zur Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides):

3.2.1. Rechtslage:

Die maßgeblichen Bestimmungen des § 55 AsylG 2005 lauten:

„(1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, wenn

1. dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und

2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. I Nr. 189/1955) erreicht wird.

(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist eine "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen."

Die maßgebliche Bestimmung des § 9 Abs. 2 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) lautet:

"(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist."

3.2.2. Zur Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK:

Es ist zu prüfen, ob eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Fremdenpolizeigesetz (FPG) einen zulässigen Eingriff in das Recht der BF auf Achtung des Privat- und Familienlebens in Österreich darstellt (Art. 8 Abs. 1 und 2 EMRK).

Bei dieser Interessenabwägung sind - wie in § 9 Abs. 2 BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wird - insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration des Fremden, die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren sowie die Frage zu berücksichtigen, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (vgl. VfSlg. 18.224/2007, 18.135/2007; VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479; 26.01.2006, 2002/20/0423).

Nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005, Rn. 11 bis 13; VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0325, Rn. 9 und 10, sowie VwGH 8.11.2018, Ra 2016/22/0120, Punkte 6.2. und 7.2., jeweils mwN).

Der VwGH hat diese Rechtsprechung zu einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt eines Fremden auch auf Fälle übertragen, in denen die Aufenthaltsdauer knapp unter zehn Jahren lag (vgl. E 17. März 2016, Ro 2015/22/0016; E 10. Dezember 2013, 2012/22/0151; E 9. September 2014, 2013/22/0247; E 16. Dezember 2014, 2012/22/0169; E 10. November 2015, Ro 2015/19/0001).

Dass der BF einige wenige Wochen auf einen zehnjährigen inländischen Aufenthalt fehlen, kann ihr nicht zum Vorwurf gemacht werden. Die lange Dauer des Verfahrens ist nicht der BF zuzurechnen und hat diese auch einmal durch Stellung einer (nicht zulässigen) Säumnisbeschwerde versucht, ihr Verfahren voranzutreiben.

Die unbescholtene BF hat die Zeit ihres Aufenthaltes zumindest in Ansätzen genützt um sich in Österreich zu integrieren. Sie weist Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2 auf und ist in einer Kirchengemeinschaft integriert.

Ein darüberhinausgehendes "besonders zu berücksichtigendes Integrationsverhalten" wird von der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes bei einem so langen Aufenthalt nicht gefordert (vgl. VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0325, Rn. 12).

Zwar ist auch bei einem zehnjährigen Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte nicht zwingend vom Überwiegen des persönlichen Interesses auszugehen, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren (vgl. dazu neuerlich etwa VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005, Rn. 16 iVm Rn. 13 bis 15, und VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0325, Rn. 13, mwN).

Derartige dafür inhaltlich in Betracht kommende Gegebenheiten liegen im gegenständlichen Fall jedoch nicht im entscheidenden Ausmaß vor.

Die Gesamtschau der zu berücksichtigenden Faktoren ergibt daher, dass die Interessensabwägung zu Gunsten der BF ausfällt.

Eine Rückkehrentscheidung gegen die BF wäre daher zum maßgeblichen aktuellen Entscheidungszeitpunkt unverhältnismäßig im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK.

Das Bundesverwaltungsgericht kommt daher aufgrund der vorgenommenen Interessenabwägung unter Berücksichtigung der genannten besonderen Umstände dieses Beschwerdefalles zum Ergebnis, dass eine Rückkehrentscheidung gegen die BF unzulässig ist. Des Weiteren ist davon auszugehen, dass die drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend, sondern auf Dauer sind und es war daher gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG festzustellen, dass die Rückkehrentscheidung gegen die BF auf Dauer unzulässig ist.

3.2.3. Zum Aufenthaltstitel:

Gemäß § 58 Abs. 2 AsylG 2005 idF BGBl. 70/2015 ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 auch von Amts wegen zu prüfen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt wird.

Gemäß § 55 Abs. 1 AsylG ist einem im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, wenn

1. dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK geboten ist und

2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. I Nr. 189/1955) erreicht wird.

Im vorliegenden Fall ist davon auszugehen, dass für die Erteilung einer "Aufenthaltsberechtigung plus" die Voraussetzungen nach Z 1 und Z 2 des § 55 Abs. 1 AsylG kumulativ vorliegen müssen und ist daher nicht nur zu prüfen, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels für die BF zur Aufrechterhaltung deren Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist, sondern auch, ob die BF das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG) erfüllt.

Das Modul 1 der Integrationsvereinbarung ist gemäß § 9 IntG erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige einen Nachweis des Österreichischen Integrationsfonds über die erfolgreiche Absolvierung der Integrationsprüfung gemäß § 11 vorlegt (Z 1), einen gleichwertigen Nachweis gemäß § 11 Abs. 4 über die erfolgreiche Absolvierung der Integrationsprüfung vorlegt (Z 2), über einen Schulabschluss verfügt, der der allgemeinen Universitätsreife im Sinne des § 64 Abs. 1 Universitätsgesetz 2002, BGBl. I Nr. 120/2002, oder einem Abschluss einer berufsbildenden mittleren Schule entspricht (Z 3), einen Aufenthaltstitelt "Rot-Weiß-Rot Karte" gemäß § 41 Abs. 1 oder 2 NAG besitzt (Z 4) oder als Inhaber eines Aufenthaltstitels "Niederlassungsbewilligung Künstler" gemäß § 43a NAG eine künstlerische Tätigkeit in einer der unter § 2 Abs. 1 Z 1 bis 3 Kunstförderungsgesetz, BGBl. I Nr. 146/1988, genannten Kunstsparte ausübt; bei Zweifeln über das Vorliegen einer solchen Tätigkeit ist eine diesbezügliche Stellungnahme des zuständigen Bundesministers einzuholen.

§ 11 Abs. 2 IntG lautet:

Die Prüfung umfasst Sprach- und Werteinhalte. Mit der Prüfung ist festzustellen, ob der Drittstaatsangehörige über vertiefte elementare Kenntnisse der deutschen Sprache zur Kommunikation und zum Lesen und Schreiben von Texten des Alltags auf dem Sprachniveau A2 gemäß dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen und über Kenntnisse der grundlegenden Werte der Rechts- und Gesellschaftsordnung der Republik Österreich verfügt. Der Prüfungserfolgt ist mit "Bestanden" oder "Nicht bestanden" zu beurteilen. Zur erfolgreichen Absolvierung der Prüfung muss sowohl das Wissen über Sprach- sowie über Werteinhalte nachgewiesen werden. Wiederholungen von nicht bestandenen Prüfungen sind zulässig. Die Wiederholung von einzelnen Prüfungsinhalten ist nicht zulässig.

Die Übergangsbestimmung des § 81 Abs. 36 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) lautet:

Das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 IntG gilt als erfüllt, wenn Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 14a in der Fassung vor dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 68/2017 vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 68/2017 erfüllt haben oder von der Erfüllung ausgenommen waren.

Die weiteren maßgeblichen Bestimmungen des NAG (idF vor BGBl I. Nr. 68/2017) lauten:

Modul 1 der Integrationsvereinbarung:

Gemäß § 14a Abs. 1 erster Satz NAG sind Drittstaatsangehörige mit erstmaliger Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 8 Abs. 1, Z 1, 2, 4, 5, 6 oder 8 zur Erfüllung des Moduls 1 der Integrationsvereinbarung verpflichtet.

Gemäß Abs. 4 leg. cit. ist das Modul 1 der Integrationsvereinbarung erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige

1. einen Deutsch-Integrationskurs besucht und einen Nachweis des Österreichischen Integrationsfonds über den erfolgreichen Abschluss des Deutsch-Integrationskurses vorlegt,

2. einen allgemein anerkannten Nachweis über ausreichende Deutschkenntnisse gemäß § 14 Abs. 2 Z 1 [= Kenntnisse der deutschen Sprache zur vertiefenden elementaren Sprachverwendung] vorlegt,

3. über einen Schulabschluss verfügt, der der allgemeinen Universitätsreife im Sinne des § 64 Abs. 1 des Universitätsgesetzes 2002, BGBl. I Nr. 120, oder einem Abschluss einer berufsbildenden mittleren Schule entspricht oder

4. einen Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte" gemäß § 41 Abs. 1 oder 2 besitzt.

§ 9 Abs. 4 Integrations-Verordnung verlangt als Nachweis über ausreichende Deutschkenntnisse gemäß § 14a Abs. 4 Z 2 NAG folglich den erfolgreichen Abschluss einer Prüfung auf A2-Niveau oder B1-Niveau des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen.

Der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung" unterscheidet sich von der "Aufenthaltsberechtigung plus" gemäß § 54 Abs. 1 AsylG nur in Bezug auf die Berechtigung zur Ausübung von Erwerbstätigkeiten, und zwar dahin, dass die "Aufenthaltsberechtigung" insoweit weniger Rechte einräumt. Statt wie bei der "Aufenthaltsberechtigung plus", die einen unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt iSd § 17 AuslBG vermittelt, besteht nämlich für die Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit das Erfordernis einer Berechtigung nach dem AuslBG.

Im gegenständlichen Fall bedeutet dies:

Die BF verfügt über ein Deutsch Zertifikat A2 eines anerkannten Prüfzentrum für das Österreichische Sprachdiplom (ÖSD), ausgestellt am 09.10.2013.

Gemäß der zitierten Übergangsbestimmung ist die mangelnde Absolvierung eines Wertekurses gemäß § 11 Abs. 2 IntG als Nachweis, dass die BF mit den Werten der Republik Österreich in Kenntnis und verbunden ist, nicht maßgeblich für die Erteilung einer "Aufenthaltsberechtigung plus" gemäß § 55 AsylG Abs. 1, soweit sie die Voraussetzungen des Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 14a NAG idF vor dem BGBl. I Nr. 68/2017, vor dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens erfüllt hat.

Die BF hat die erforderliche Prüfung auf A2-Niveau am 09.10.2013 und somit vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Integrationsgesetztes BGBl. Nr. 68/2017 am 01.10.2017 bestanden und hat damit Modul 1 der Integrationsvereinbarung erfüllt. Die BF erfüllt somit auch mangels Vorlage eines Nachweises über die Absolvierung eines Wertekurses über die Kenntnisse der grundlegenden Werte der Rechts- und Gesellschaftsordnung der Republik Österreich und nur mittels Vorlage eines Zertifikates über Deutschkenntnisse des Niveaus A2 die Voraussetzung des § 55 Abs. 1 AsylG 2005.

Da die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005 in Folge des Ausspruches der dauerhaften Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und der Vorlage des Zertifikats A2 gegeben sind, war der BF der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" zu gewähren.

Das BFA wird daher - unter der Voraussetzung der Erfüllung der allgemeinen Mitwirkungspflicht im Sinne des § 58 Abs. 11 AsylG – der BF den Aufenthaltstitel im Sinne des § 58 Abs. 4 AsylG auszufolgen haben.

Der Aufenthaltstitel gilt gemäß § 54 Abs. 2 AsylG 2005 zwölf Monate lang, beginnend mit dem Ausstellungsdatum.

3.3. Zur Aufhebung der Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides:

Da der BF gem. § 55 Abs. 1 AsylG eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ zu erteilen war, waren in Erledigung der Beschwerde die Spruchpunkte III. und IV. des angefochtenen Bescheides ersatzlos aufzuheben und spruchgemäß zu entscheiden.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Die vorliegende Entscheidung basiert auf den oben genannten Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes.

Schlagworte

Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz Aufenthaltsberechtigung plus Aufenthaltstitel befristete Aufenthaltsberechtigung berücksichtigungswürdige Gründe Ersatzentscheidung ersatzlose Teilbehebung Integration Interessenabwägung Kassation mündliche Verhandlung öffentliche Interessen Privat- und Familienleben private Interessen Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig Rückkehrentscheidung behoben Spruchpunktbehebung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:I412.1422393.3.00

Im RIS seit

29.11.2021

Zuletzt aktualisiert am

29.11.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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