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40/01 VerwaltungsverfahrenNorm
AsylG 2005 §11Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie den Hofrat Dr. Faber und die Hofrätin Dr. Funk-Leisch als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision des S M, vertreten durch Dr. Gerhard Mory, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. April 2020, W169 2146107-1/14E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 26. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Mit Bescheid vom 3. Jänner 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers mit einer hier nicht relevanten Maßgabe nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
4 Begründend führte das BVwG hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten aus, der Revisionswerber sei ein junger, gesunder Mann mit Schulbildung, der den Großteil seines Lebens in Pakistan verbracht habe, dort in der Landwirtschaft gearbeitet habe und in einem afghanisch geprägten Umfeld aufgewachsen sei. Der Revisionswerber finde in Mazar-e Sharif zwar kein soziales Netzwerk vor, er könne sich aber trotz einer angespannten Situation am Wohnungs- und Arbeitsmarkt in Mazar-e Sharif eine Existenz aufbauen und Rückkehrhilfe, sowie zumindest anfänglich auch finanzielle Hilfe seiner Familie in Anspruch nehmen.
5 Mit Beschluss vom 22. September 2020, E 1236/2020-7, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der gegen dieses Erkenntnis gerichteten Beschwerde ab und trat die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.
6 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
7 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen. Ein solcher Beschluss ist gemäß § 34 Abs. 3 VwGG in jeder Lage des Verfahrens zu fassen.
8 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
9 Vorauszuschicken ist, dass der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 41 VwGG, soweit nicht Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes oder infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften vorliegt, das angefochtene Erkenntnis oder den angefochtenen Beschluss auf Grund des vom Verwaltungsgericht angenommenen Sachverhalts im Rahmen der geltend gemachten Revisionspunkte bzw. der Erklärung über den Umfang der Anfechtung zu überprüfen hat. Somit sind Änderungen der Sach- und Rechtslage, die sich nach Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses ereignet haben und daher vom Verwaltungsgericht nicht berücksichtigt werden konnten, einer Prüfung im gegenständlichen Revisionsverfahren entzogen.
10 Die Revision wendet sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und die darauf aufbauenden Spruchpunkte und bringt zu ihrer Zulässigkeit zunächst vor, die getroffenen Feststellungen zu den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen seien zu allgemein, vage und unbestimmt, um beurteilen zu können, ob dem Revisionswerber eine Ansiedelung in
Mazar-e Sharif unter Verrichtung von Gelegenheitsarbeiten dauerhaft zumutbar sei. Das BVwG habe den EASO-Länderleitfaden vom Juni 2019 betreffend Rückkehrer, die sehr lange Zeit im Ausland gelebt hätten, nicht berücksichtigt und es unterlassen, Feststellungen zur Covid-19-Pandemie zu treffen, sowie Erwägungen zu deren Auswirkung auf die Frage der Zumutbarkeit der innerstaatlichen Fluchtalternative anzustellen. Bei Berücksichtigung der in der Revision näher zitierten Länderinformationen hätte das BVwG es als erwiesen ansehen müssen, dass der Revisionswerber bei einer versuchten Ansiedelung in Mazar-e Sharif von prekären Lebensumständen betroffen sein würde. Das BVwG habe auch nicht berücksichtigt, dass der Revisionswerber über keine seine Identität belegenden Dokumente verfüge.
11 Soweit die Revision auf nach dem Entscheidungszeitpunkt des Erkenntnisses des BVwG datierte Länderberichte und Informationen verweist, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Verwaltungsgerichtshof die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung gemäß § 41 VwGG auf der Grundlage der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses zu prüfen hat (vgl. etwa VwGH 16.7.2020, Ra 2020/18/0240, mwN). Das Vorliegen einer grundsätzlichen Rechtsfrage kann nicht mit einem Vorbringen begründet werden, das unter das Neuerungsverbot fällt (vgl. VwGH 8.6.2021, Ra 2019/19/0190, mwN).
12 Werden Verfahrensmängel - wie hier Ermittlungs- und Feststellungsmängel betreffend die Voraussetzungen der Annahme einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative - als Zulassungsgründe ins Treffen geführt, so muss auch schon in der abgesonderten Zulässigkeitsbegründung die Relevanz dieser Verfahrensmängel, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, dargetan werden. Dies setzt voraus, dass - auf das Wesentliche zusammengefasst - jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des Verfahrensfehlers als erwiesen ergeben hätten. Die Relevanz der geltend gemachten Verfahrensfehler ist in konkreter Weise darzulegen (vgl. VwGH 27.8.2021, Ra 2021/19/0173, mwN). Diesen Anforderungen wird die Revision mit ihren allgemein gehaltenen Ausführungen im Hinblick auf die hg. Leitlinien zur Beurteilung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht gerecht.
13 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung wiederholt dargelegt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können. Demzufolge reicht es nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. etwa VwGH 11.5.2021, Ra 2021/19/0135, mwN).
14 Nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes reicht eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu verneinen (vgl. etwa VwGH 10.2.2021, Ra 2021/19/0016, mwN). Im Besonderen hinsichtlich der COVID-19-Pandemie in Afghanistan hat der Verwaltungsgerichtshof festgehalten, dass für sich nicht entscheidungswesentlich ist, wenn sich für einen Asylwerber infolge der seitens afghanischer Behörden zur Verhinderung der Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus und von Erkrankungen an COVID-19 gesetzten Maßnahmen die Wiedereingliederung im Heimatland wegen schlechterer wirtschaftlicher Aussichten schwieriger als vor Beginn dieser Maßnahmen darstellt, weil es darauf bei der Frage, ob im Fall seiner Rückführung eine Verletzung des Art. 3 EMRK zu gewärtigen ist, nicht ankommt, solange diese Maßnahmen nicht dazu führen, dass die Sicherung der existenziellen Grundbedürfnisse als nicht mehr gegeben anzunehmen wäre. Entsprechendes gilt auch für die Beurteilung der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative (vgl. VwGH 25.3.2021, Ra 2021/19/0057, mwN).
15 Im vorliegenden Fall traf das BVwG - auf der Grundlage einschlägiger Länderberichte - Feststellungen zur Sicherheits- und Versorgungslage in Mazar-e Sharif. Bei der Prüfung, ob dem Revisionswerber eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehe, berücksichtigte das BVwG Länderberichte, die EASO-Guidelines zu Afghanistan 2019 sowie die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom August 2018. Dabei ging das BVwG davon aus, dass der Revisionswerber, ein junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann, der über Schulbildung und Arbeitserfahrung in der Landwirtschaft verfüge, mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut sei und zumindest anfänglich Hilfe seiner finanziell gut gestellten Eltern durch Geldüberweisungen in Anspruch nehmen könne, in der Stadt Mazar-e Sharif eine innerstaatliche Fluchtalternative vorfinde, deren Inanspruchnahme ihm auch ohne soziales Netz bzw. familiäre Anknüpfungspunkte vor Ort zumutbar sei.
16 Die Revision zeigt vor dem Hintergrund der dargestellten Rechtsprechung nicht auf, dass diese Beurteilung mit einer vom Verwaltungsgerichtshof wahrzunehmenden Mangelhaftigkeit belastet wäre (vgl. VwGH 27.4.2021, Ra 2020/19/0339; zu einem in Pakistan geborenen und dort aufgewachsenen Afghanen VwGH 26.2.2021, Ra 2021/14/0044, mwN).
17 Soweit die Revision vorbringt, das BVwG habe das Recht des Revisionswerbers auf Parteiengehör verletzt, indem es in der mündlichen Verhandlung nicht erörtert habe, dass die Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Betracht gezogen werde, ist dem zu entgegnen, dass es sich bei den Erwägungen des BVwG, wonach dem Revisionswerber eine innerstaatliche Fluchtalternative offenstehe, um eine rechtliche Beurteilung handelt. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist das BVwG nicht gehalten, die Partei zu der von ihr vertretenen Rechtsansicht anzuhören, ihr also mitzuteilen, welche Vorgangsweise sie in rechtlicher Hinsicht auf Grund des als maßgeblich festgestellten Sachverhaltes ins Auge fasst (vgl. dazu bereits VwGH 22.4.2021, Ra 2021/19/0088, mwN).
18 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit auch vor, es bedürfe einer grundsätzlichen Klärung der „Beweislastfrage“ in Bezug auf die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative. Zu dieser Frage besteht jedoch bereits Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.
19 Der Verwaltungsgerichtshof hat sich im Erkenntnis vom 23. Jänner 2018, Ra 2018/18/0001, näher mit den Voraussetzungen einer innerstaatlichen Fluchtalternative befasst und darauf hingewiesen, dass dem Kriterium der „Zumutbarkeit“ neben jenem der Gewährleistung von Schutz vor Verhältnissen, die Art. 3 EMRK widersprechen, Raum gelassen wird. Wird durch die Behörde nach entsprechender Prüfung die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Bezug auf ein Gebiet allgemein bejaht, so obliegt es dem Asylwerber, besondere Umstände aufzuzeigen, die gegen die Zumutbarkeit sprechen (vgl. VwGH 25.6.2019, Ra 2018/19/0636, mwN).
20 In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.
Wien, am 28. Oktober 2021
Schlagworte
Parteiengehör Erhebungen Ermittlungsverfahren Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Rechtliche BeurteilungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020190413.L01Im RIS seit
29.11.2021Zuletzt aktualisiert am
30.11.2021