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10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)Norm
B-VG Art133 Abs4Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision der S I, vertreten durch Rast & Musliu Rechtsanwälte in 1080 Wien, Alser Straße 23/14, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. August 2021, W272 2213567-1/12E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Die Revisionswerberin, eine Staatsangehörige der Russischen Föderation aus der Teilrepublik Dagestan, stellte am 19. November 2012 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Mit Bescheid vom 18. Dezember 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag zur Gänze ab, erteilte der Revisionswerberin keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass ihre Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.
4 Begründend führte das BVwG u.a. aus, die Revisionswerberin habe ihren Herkunftsstaat im Alter von 24 Jahren verlassen, um sich in Österreich wegen ihrer Tuberkuloseerkrankung behandeln zu lassen. Diese Erkrankung sei nun ausgeheilt; die Revisionswerberin bedürfe keiner regelmäßigen medizinischen oder einer medikamentösen Behandlung mehr. Sie unterziehe sich nur mehr ärztlichen Kontrollen. Einer COVID-19-Risikogruppe gehöre sie nicht an.
5 Zur Rückkehrentscheidung führte das BVwG u.a. aus, die Revisionswerberin halte sich knapp neun Jahre im Bundesgebiet auf. Sie habe nie über ein Aufenthaltsrecht außerhalb des Asylverfahrens verfügt und habe sich daher ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein müssen.
6 Sie habe nach wie vor stark ausgeprägte Bindungen zum Herkunftsstaat, wo die 33-jährige Revisionswerberin ihr Leben bis zur Ausreise (sohin 24 Jahre) verbracht habe. Die Landessprachen Russisch und Tschetschenisch spreche sie perfekt, sie habe dort die Schule und die Universität besucht. Sie sei mit der Kultur und den gesellschaftlichen Gepflogenheiten in der Russischen Föderation vertraut. Alle ihre Verwandten, insbesondere ihre elfjährige Tochter, ihre Eltern und drei Geschwister mit ihren Familien lebten in der Heimatregion. Zu ihnen habe sie auch aus Österreich Kontakt.
7 Im Vergleich dazu seien ihre Bindungen zu Österreich noch gering: Trotz relativ langer Aufenthaltsdauer verfüge sie nur über grundlegende Deutschkenntnisse (Niveau A2), außerdem besuche sie einen Computerkurs. Sie sei in Österreich nie einer legalen Erwerbstätigkeit nachgegangen und habe ihren Lebensunterhalt durchgehend aus Mitteln der Grundversorgung gedeckt. Hinzu seien Tätigkeiten als Haushaltshilfe oder Reinigungskraft für „Freundinnen“ gekommen. Sie habe sich ehrenamtlich in der Sachspendensortierung und bei Veranstaltungen des Samariterbundes engagiert und sie habe Reinigungsarbeiten im Grundversorgungsquartier übernommen, wobei diese Aktivitäten schon vier bis fünf Jahre zurücklägen. Sie lebe mit zwei tschetschenischen Asylwerberinnen in einem Haushalt. Ihr Privatleben spiele sich vor allem im tschetschenischen Umfeld ab.
8 In einer Gesamtabwägung - so das BVwG weiter - würden die Interessen der Revisionswerberin an der Aufrechterhaltung ihres Privatlebens in Österreich vor dem Hintergrund ihrer noch starken Bindungen zur Russischen Föderation, insbesondere dem Umstand, dass ihre Familie dort lebe, die öffentlichen Interessen an der Aufrechterhaltung der Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens nicht überwiegen.
9 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Sie macht zur Zulässigkeit geltend, das angefochtene Erkenntnis weiche eindeutig von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab (Hinweis insbesondere auf VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0243), weil es die neunjährige Aufenthaltsdauer der Revisionswerberin nicht ausreichend berücksichtigt habe. Im Ergebnis verabsäume das BVwG, die gebotene Gesamtbetrachtung vorzunehmen, die auf alle Umstände des Einzelfalls Bedacht nehme. Wäre dies geschehen und dabei insbesondere die lange Aufenthaltsdauer berücksichtigt worden, so wäre das BVwG zum Ergebnis gekommen, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen die Revisionswerberin unrichtig sei. Im Übrigen habe das BVwG die Begründungspflicht von Entscheidungen verletzt, weil - nicht näher genannte - „aktuelle Berichte“ nicht berücksichtigt worden seien. Die Revisionswerberin - als ehemalige Tuberkulosepatientin - gehöre zu einer COVID-Risikogruppe.
10 Mit diesem Vorbringen wird die Zulässigkeit der Revision nicht dargetan:
11 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Hat das Verwaltungsgericht - wie im vorliegenden Fall - im Erkenntnis ausgesprochen, dass die Revision nicht zulässig ist, muss die Revision gemäß § 28 Abs. 3 VwGG auch gesondert die Gründe enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird.
Der Verwaltungsgerichtshof ist bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes nicht gebunden. Er hat die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß § 34 Abs. 1a VwGG im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe zu überprüfen. Liegt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG danach nicht vor, ist die Revision gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.
12 Soweit die Revision eine Verletzung der Begründungspflicht von Entscheidungen geltend macht, lässt sich dem Zulässigkeitsvorbringen nicht entnehmen, welche aktuellen Länderberichte das BVwG im vorliegenden Fall nicht berücksichtigt hätte und wie dieser - behauptete - Verfahrensverstoß zur abschließenden Schlussfolgerung der Revision in Bezug zu setzen ist, wonach die Revisionswerberin einer COVID-19-Risikogruppe angehöre. Schon deshalb ist dieses Vorbringen nicht geeignet, die Zulässigkeit der Revision darzutun.
13 Abgesehen davon entfernt sich die Revision begründungslos von den Feststellungen des BVwG, wonach die Tuberkuloseerkrankung der Revisionswerberin ausgeheilt ist und sie keiner COVID-19-Risikogruppe angehört.
14 Zur Rückkehrentscheidung ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG ist (vgl. etwa VwGH 10.9.2021, Ra 2021/18/0304, mwN).
15 Entgegen dem Revisionsvorbringen hat das BVwG eine Gesamtabwägung der für und gegen einen Verbleib der Revisionswerberin in Österreich sprechenden Umstände in vertretbarer Weise vorgenommen. Sie hat dabei auch die relativ lange Aufenthaltsdauer in Betracht gezogen, gleichzeitig aber - unbestritten - darauf hingewiesen, dass diese Zeit zu keiner besonderen Integration der Revisionswerberin in Österreich geführt hat. Umgekehrt fanden die - ebenfalls unstrittigen - noch immer vorhandenen starken Bindungen der Revisionswerberin zu ihrer Heimat in der Interessenabwägung Berücksichtigung. Dass sich das BVwG dabei von den Leitlinien der höchstgerichtlichen Rechtsprechung entfernt hätte, vermag die Revision nicht aufzuzeigen. Insbesondere ist ihr Verweis auf die zitierte sachverhaltsmäßig und rechtlich völlig anders gelagerte Entscheidung von vornherein verfehlt.
16 In der Revision werden sohin keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 9. November 2021
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021180346.L00Im RIS seit
29.11.2021Zuletzt aktualisiert am
13.12.2021