TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/22 W131 2206467-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 22.07.2021
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Entscheidungsdatum

22.07.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §2 Abs1 Z15
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §75 Abs24
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W131 2206467-1/20E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag Reinhard GRASBÖCK über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.08.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet stellte die Beschwerdeführerin (= Bf) am 28.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2.       Die Erstbefragung der Bf fand am 29.01.2016 statt.

3.       Im Rahmen der am 13.06.2018 durch die belangte Behörde durchgeführten Einvernahme gab die Bf bereits an, dass sie in Afghanistan keine Rechte gehabt habe. Sie habe weder die Schule besuchen können, noch ohne männliche Begleitung das Haus verlassen können. In Österreich besuche sie die Schule, gehe alleine einkaufen und könne selbst entscheiden, wie sie sich kleide. Sie könne ohne Angst ausgehen und ihre Freunde treffen. Sie wolle als Friseurin arbeiten.

4.       Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 24.08.2018 wies die belangte Behörde den Antrag der Bf auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab. Ferner sprach sie aus, dass der Bf ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt werde und gegen sie eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt werde, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei Zuletzt stellte die belangte Behörde fest, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt III bis VI.).

5.       Gegen diesen Bescheid richtete sich die rechtzeitig erhobene Beschwerde. In dieser wurde insbesondere eine Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie infolge von Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert.

6.        Die belangte Behörde legte die Beschwerde samt den dazugehörigen Verwaltungsakten dem Bundesverwaltungsgericht am 24.09.2018 zur Entscheidung vor.

7.       Mit Schriftsatz vom 30.10.2019 legte die Bf Urkunden zu ihren integrativen Tätigkeiten in Österreich vor.

8.       In ihrer Stellungnahme vom 21.12.2019 äußerste sich die Bf zur Lage in Afghanistan und legte wiederum Unterlagen zu ihrer Integration vor.

9.       Am 10.01.2020 fand am Bundesverwaltungsgericht unter Beiziehung einer Dolmetscherin für die Sprache Dari eine mündliche Beschwerdeverhandlung statt, an der auch die Bf in Begleitung eines Rechtsvertreters teilnahm. Im Zuge der Verhandlung wurde auch eine Zeugin einvernommen.

10.      Mit Parteiengehör vom 27.08.2020 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht den Parteien das Länderinformationsblatt in der Fassung vom 21.07.2020 und räumte den Parteien die Möglichkeit zur Stellungnahme ein. Von ihrer Möglichkeit zur Stellungnahme machte die Bf am 15.09.2020 Gebrauch und verwies in dieser auch nochmals auf ihren Lebensstil, der in Afghanistan nicht tolerierbar sei.

11.      Mit Schreiben vom 10.02.2021 und 12.03.2021 teilte die Bf mit, dass ihren Familienangehörigen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei.

12.      Am 01.07.2021 äußerte die Bf sich zu ihren weiteren integrativen Tätigkeiten und ihrem Leben in Österreich und legte auch entsprechende Beweismittel vor.

13.      Mit Parteiengehör vom 05.07.2021 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht den Parteien insb auch das aktuelle Länderinformationsblatt idF 11.06.2021 und räumte den Parteien nochmals die Möglichkeit zur Stellungnahme ein. Die BF nahm - für diese Entscheidung nicht weiter rechtserheblich Stellung, das BFA nicht.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1.    Zur Person der Bf und ihrem Leben in Österreich:

Die Bf ist afghanische Staatsangehörige und wurde am XXXX geboren. Sie gehört der Volksgruppe der Hazara an und bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache der Bf ist Dari, sie kann diese weder lesen noch schreiben.

Sie stammt aus der afghanischen Provinz Maidan Wardak, dem Distrikt XXXX , dem Dorf XXXX , wo sie bis zu ihrer Ausreise gemeinsam mit ihrer Familie lebte. Die Bf hat in Afghanistan weder eine Schule besucht noch eine sonstige Ausbildung absolviert und kam als Analphabetin nach Österreich. Sie hat ihrer Mutter im Haushalt geholfen und das Geschirr gespült, aufgeräumt und gekehrt. Sie konnte sich in Afghanistan nicht frei bewegen oder alleine das Haus verlassen und musste sich stets verhüllen und traditionelle afghanische Kleidung tragen.

Die Bf ist gemeinsam mit ihrer Familie aus Afghanistan ausgereist. Die Eltern der Bf, ihre beiden Schwestern und ihr Bruder leben ebenfalls in Österreich. Diesen wurde mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts vom 29.01.2021, Zl. W227 2206460-1/14E, W227 2206462-1/14E, W227 2206458-1/17E, W227 2206461-1/14E, W227 2206457-1/14E und W227 2239108-1/5E, der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

In Österreich lebt die Beschwerdeführerin gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten „ XXXX “, welcher den Status eines subsidiär Schutzberechtigten innehat, zusammen. Diese Entscheidung traf die Bf selbst, obwohl ihr Vater sich zu Beginn nicht damit einverstanden zeigte. Die Beziehung ist von der Gleichberechtigung der beiden Partner geprägt. So gehen sie etwa gemeinsam einkaufen und teilen sich die Hausarbeit auf. Ihr Lebensgefährte unterstützt die Bf auch beim Deutschlernen. Die Bf bestimmt auch die Familienplanung.

Aufgrund ihres Analphabetismus besuchte die Bf mehrere Alphabetisierungskurse, Basisbildungskurse, Kurse zu Orthografie und Textproduktion- sowie Deutschkurse für das Sprachniveau A1. Am 20.11.2018 absolvierte die Bf auch einen Werte- und Orientierungskurs. Sie hat am 27.05.2021 das Deutschsprachzertifikat für das Niveau A1 sehr gut bestanden.

Die Bf ist eine selbstbewusste, eigenständige, selbstbestimmte, unabhängige und aufgeschlossene Frau, die in ihrer Wertehaltung und Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie hat jedenfalls spätestens seit ihrer Einreise nach Österreich eine Lebensweise angenommen, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt und zu einem wesentlichen Teil ihrer Identität geworden ist. Die Bf organisiert ihren Alltag in Österreich selbstständig und bewegt sich ohne Einschränkungen im öffentlichen Raum und nimmt auch Arztbesuche alleine war. Sie kleidet sich modern im westlichen Sinn und schminkt sich.

Die Bf beteiligt sich aufgeschlossen an gesellschaftlichen öffentlichen Aktivitäten und pflegt regen Kontakt zu ihren Mitmenschen unterschiedlichster Nationalitäten. Sie nimmt gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten am gesellschaftlichen Leben teil, trifft sich aber auch alleine mit Freunden und geht mit diesen aus. Sie erbrachte im Jahr 2018 auch verschiedene Hilfsarbeiten im Rahmen der Möglichkeit zur Verrichtung von gemeinnützigen Tätigkeiten innerhalb der XXXX .

Die Bf möchte in Österreich als Friseurin arbeiten. Sie hat sich bereits konkret damit auseinandergesetzt, welche Erfordernisse sie dafür erfüllen muss, nämlich das Erreichen des Sprachniveaus B1, um in einem ersten Schritt den Pflichtschulabschluss zu machen und im Anschluss die dreijährige Lehre beginnen zu können.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan müsste die Bf, um einer asylrelevanten Verfolgung im gesamten Staatsgebiet von Afghanistan entgehen zu können, ihre Freiheitsliebe und Gutheißung der Grundrechte insbesondere von Frauen sowie der Gleichberechtigung von Mann und Frau trotz der ihr zuzubilligenden Überzeugung unterdrücken.

Die Bf ist strafrechtlich unbescholten.

1.2.    Zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat der Bf

Unter Bezugnahme auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Stand 11.06.2021) werden auszugsweise folgende entscheidungsrelevanten die Person der Bf individuell betreffende Feststellungen zur Lage in Afghanistan getroffen:

1.2.1. Frauen

Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (CoA 26.1.2004). Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte von Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte (AA 16.7.2020). Nach wie vor gilt Afghanistan als eines der weltweit gefährlichsten Länder für Frauen (REU 26.6.2018).

Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt ein wenig verbessert hat (SIGAR 2.2021; vgl. HRW 30.6.2020, STDOK 25.6.2020, AA 16.7.2020), können sie ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst (AA 16.7.2020; vgl.: REU 2.12.2019, STDOK 25.6.2020). Dennoch arbeiten Frauen als Gesetzgeberinnen, Richterinnen, Lehrerinnen, Gesundheitsarbeiterinnen, Beamtinnen, Journalistinnen und Führungskräfte in Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Von den etwa 9 Millionen eingeschriebenen Schülern sind 3,5 Millionen Mädchen. Der gesetzliche Rahmen Afghanistans bietet Frauen - zumindest auf dem Papier - viele Schutzmaßnahmen, einschließlich gleicher Rechte für Frauen und Männer (SIGAR 2.2021). Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit (AA 16.7.2020; vgl. STDOK 25.6.2020).

Seit dem Fall der Taliban wurden jedoch langsam Fortschritte in dieser Hinsicht erreicht, welche hauptsächlich in urbanen Zentren wie z.B. Herat-Stadt zu sehen sind. Das Stadt-Land-Gefälle und die Sicherheitslage sind zwei Faktoren, welche u.a. in Bezug auf Frauenrechte eine wichtige Rolle spielen. Einem leitenden Mitarbeiter einer in Herat tätigen Frauenrechtsorganisation zufolge kann die Lage der Frauen innerhalb der Stadt nicht mit den Lebensbedingungen der Bewohnerinnen ländlicher Teile der Provinz verglichen werden. Daher muss die Lage von Frauen in Bezug auf das jeweilige Gebiet betrachtet werden. Die Lage der Frau stellt sich in ländlichen Gegenden, wo regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv sind und die Sicherheitslage volatil ist, anders dar als z.B. in Herat-Stadt (STDOK 13.6.2019). In der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif und den angrenzenden Distrikten sind die Lebensumstände für Frauen verglichen mit anderen Landesteilen beispielsweise gut. Hier gibt es Frauen, welche sich frei bewegen, studieren oder arbeiten können und auch selbst entscheiden dürfen, ob sie heiraten oder nicht. Es gibt aber auch in Mazar-e Sharif Frauen, deren Familien dies nicht erlauben (STDOK 21.7.2020).

Die afghanische Regierung wird von den Vereinten Nationen (UN) als ehrlicher und engagierter Partner im Kampf gegen Gewalt an Frauen beschrieben (EASO 12.2017; vgl. STDOK 4.2018, UNAMA/OHCHR 5.2018), der sich bemüht Gewalt gegen Frauen - beispielsweise Ermordung, Prügel, Verstümmelung, Kinderheirat und weitere schädliche Praktiken - zu kriminalisieren und Maßnahmen zur Rechenschaftspflicht festzulegen (UNAMA/OHCHR 5.2018). Jedoch ist sexuelle Belästigung in Afghanistan, speziell innerhalb der afghanischen Regierung, im Präsidentenpalast sowie anderen Regierungsinstitutionen, sowohl national als auch international zum Thema regelmäßiger Diskussionen geworden (STDOK 25.6.2020; vgl. AT 6.11.2019). Aus unterschiedlichen Regierungsbüros berichten seit Mai 2019 vermehrt afghanische Frauen von sexueller Belästigung durch männliche Kollegen und hochrangige Personen (STDOK 25.6.2020; vgl. RY 1.8.2019, BBC 10.7.2019).

Die afghanische Regierung hat die erste Phase des nationalen Aktionsplans (NAP) zur Umsetzung der UN-Resolution 1325 (aus dem Jahr 2000) des UN-Sicherheitsrates implementiert; dies führte zu einer stärkeren Vertretung von Frauen in öffentlichen Einrichtungen, wie z.B. dem Hohen Friedensrat. Gemäß Artikel 83 und 84, sind Maßnahmen für die Teilnahme von Frauen im Ober- und Unterhaus des Parlamentes vorsehen (WILFPFA 7.2019). Unter anderem hat die afghanische Regierung das nationale Schwerpunktprogramm "Women's Economic Empowerment" gestartet. Um Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen zu bekämpfen, hat die Regierung in Afghanistan die Position eines stellvertretenden Generalstaatsanwalts geschaffen, der für die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und Kinder zuständig ist. Es wurden Kommissionen gegen Belästigung in allen Ministerien eingerichtet. Des Weiteren hat der Oberste Gerichtshof eine spezielle Abteilung geschaffen, um Fälle von Gewalt gegen Frauen zu überprüfen. Darüber hinaus waren in mehr als 20 Provinzen Sondergerichte zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen tätig (UNGA 28.2.2019). So hat die afghanische Regierung unter anderem, gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft verschiedene Projekte zur Reduzierung der Geschlechterungleichheit gestartet. Das Projekt "Enhancing Gender Equality and Mainstreaming in Afghanistan" (EGEMA) beispielsweise ist ein Gemeinschaftsprojekt der afghanischen Regierung und des UNDP (United Nations Development Program) Afghanistan und hat den Hauptzweck, das Ministerium für Frauenrechte (MoWA) zu stärken. Es läuft von Mai 2016 bis Dezember 2020 (UNDP o.D)

Im Zuge der Friedensverhandlungen bekannten sich die Taliban zu jenen Frauenrechten (STDOK 25.6.2020; vgl. BBC 27.2.2020, BP 31.8.2020, TN 31.5.2019, Taz 6.2.2019), die im Islam vorgesehen sind, wie zu Lernen, zu Studieren und sich den Ehemann selbst auszuwählen. Zugleich kritisierten sie, dass 'im Namen der Frauenrechte' Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden (Taz 6.2.2019). Die Taliban haben während ihres Regimes afghanischen Frauen und Mädchen Regeln aufoktroyiert, die auf ihren extremistischen Interpretationen des Islam beruhen, und die ihnen ihre Rechte - einschließlich des Rechts auf Schulbesuch und Arbeit - vorenthalten und Gewalt gegen sie gerechtfertigt haben (USAT 3.9.2019). Die afghanischen Frauen sind jedoch ob der Verhandlungen mit den Taliban besorgt und fürchten um ihre mühsam erkämpften Rechte (HRW 22.3.2021, IWPR 8.3.2021; vgl. BP 31.8.2020, WP 12.9.2020). Eine jener vier Frauen, die an den Verhandlungen mit den Taliban teilnehmen, glaubt nicht, dass sich die Taliban-Kämpfer, die an der Frontlinie stehen, geändert hätten (BP 31.8.2020). Am 18.3.2021 empfing die russische Regierung Vertreter der afghanischen Regierung, der Taliban und von Partnerländern zu einem Gipfeltreffen, das die Friedensgespräche voranbringen sollte. Der 12-köpfigen afghanischen Regierungsdelegation gehörte eine Frau, Dr. Habiba Sarabi, an - ein Rückschritt gegenüber der Teilnahme von vier Frauen unter den 20 Mitgliedern beim innerafghanischen Dialog in Doha, Katar, im September 2020. Die 10-köpfige Taliban-Delegation war wie in der Vergangenheit ausschließlich männlich. Afghanische Frauenrechtsaktivistinnen haben die Sorge geäußert, dass Frauen von den geplanten Friedensgesprächen in der Türkei weitgehend ausgeschlossen werden, wodurch die Rechte der Frauen bei einer endgültigen Einigung stark gefährdet sind (HRW 22.3.2021; vgl. VIDC 26.4.2021).

Restriktive Einstellung und Gewalt gegenüber Frauen betreffen jedoch nicht nur Gegenden, welche unter Taliban-Herrschaft stehen, sondern hängen grundsätzlich mit der Tatsache zusammen, dass die afghanische Gesellschaft zum Großteil sehr konservativ ist. Gewalt gegenüber Frauen ist sehr oft auch innerhalb der Familien gebräuchlich. So kann bezüglich der Behandlung von Frauen insbesondere in ländlichen Gebieten grundsätzlich kein großer Unterschied zwischen den Taliban und der Bevölkerung verzeichnet werden. In den Städten hingegen ist die Situation ganz anders (STDOK 13.6.2019; vgl. STDOK 25.6.2020).

Auch im Jahr 2020 wurden Frauen durch den bewaffneten Konflikt in vielfältiger Weise geschädigt, unter anderem durch Tod, Verletzungen und sexuelle Gewalt. Frauen trugen auch die Hauptlast der breiteren Auswirkungen des bewaffneten Konflikts, die sich negativ auf die Wahrnehmung einer breiten Palette von Menschenrechten auswirkten, einschließlich der Bewegungsfreiheit und des Zugangs zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Justiz sowie des Rechts, nicht aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung diskriminiert zu werden. Frauen waren auch im Jahr 2020 konfliktbedingter sexueller Gewalt ausgesetzt. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die gemeldeten Zahlen das wahre Ausmaß der konfliktbedingten sexuellen Gewalt in Afghanistan widerspiegeln. Tief konservative Geschlechternormen, Stigmatisierung und ein Mangel an speziell auf Opfer ausgerichteten Diensten tragen dazu bei, dass wahrscheinlich eine hohe Dunkelziffer gibt (UNAMA 2.2021a).

Das afghanische Frauenministerium dokumentierte innerhalb eines Jahres (November 2018 - November 2019) 6.449 Fälle von Gewalt und Missbrauch gegen Frauen. Der Großteil dieser Fälle wurde in den Provinzen Kabul, Herat, Kandahar und Balkh registriert. Dem Frauenministerium zufolge wurden rund 2.886 Fälle an Ermittlungsbehörden und Gerichte weitergeleitet, 456 Frauen bekamen Anwälte zugewiesen und 682 Fälle wurden durch Mediation zwischen den Parteien gelöst. Außerdem wurden 2.425 Fälle an Organisationen weitergeleitet, die sich für Frauenrechte einsetzen (STDOK 25.6.2020; vgl. RFE/RL 25.11.2019). Im Vergleich dazu registrierte die AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für den Untersuchungsraum 2019 4.693 Vorfälle und für 2018 4.329 Vorfälle (AIHCR 23.3.2020; vgl. STDOK 25.6.2020). Ein hohes Maß an Gewalt gegen Frauen ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen, wie z.B. die Sensibilisierung der Frauen für ihre Menschenrechte und die Reaktion auf häusliche Gewalt, ein geringes öffentliches Bewusstsein für die Rechte der Frauen, eine schwache Rechtsstaatlichkeit und die Ausbreitung von Unsicherheit in verschiedenen Teilen des Landes (AIHRC 23.3.2020). Die afghanische Regierung versäumt es weiterhin, hochrangige Beamte, die für sexuelle Übergriffe verantwortlich sind, strafrechtlich zu verfolgen (HRW 13.1.2021).

Einigen Schätzungen zufolge haben in den letzten sechs Jahren mindestens 900 afghanische Journalistinnen ihre Arbeit aufgegeben, weil sie unter Druck gesetzt wurden, hauptsächlich aus Sicherheitsgründen. Viele haben das Land in den letzten Jahren aufgrund von Sicherheitsbedenken, einschließlich gezielter Tötungen, verlassen (IWPR 8.3.2021). Das CPAWJ (Zentrum zum Schutz afghanischer Journalistinnen) hat in den vergangenen zwölf Monaten [Anm.: März 2020 - März 2021] mehr als 100 Fälle von Aggression gegen Journalistinnen registriert - darunter Beleidigungen, körperliche Angriffe, Morddrohungen und Morde. Von den 21 Fällen, die von den betroffenen Frauen an das Zentrum verwiesen wurden, wurden zehn vom Innenministerium bewertet, fünf wurden von der Polizei untersucht und vier der Frauen wurden in Zufluchtsorten untergebracht (RSF 11.3.2021; vgl. CPAWJ 7.3.2021).

In vielen Fällen haben Aufständische Frauen beschuldigt, durch die Übernahme einer öffentlichen Rolle gegen gesellschaftliche Normen zu verstoßen. Es ist oft nicht klar, ob die ISKP, die Taliban oder andere Gruppen für die Drohungen und Angriffe verantwortlich sind (HRW 16.3.2021).

Weibliche Genitalverstümmelung ist in Afghanistan nicht üblich (AA 16.7.2020).

[…]

Berufstätigkeit von Frauen, Politische Partizipation und Öffentlichkeit

Das Gesetz sieht die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, sagt jedoch nichts zu gleicher Bezahlung bei gleicher Arbeit. Das Gesetz untersagt Eingriffe in das Recht von Frauen auf Arbeit; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und bei den Anstellungsbedingungen diskriminiert (USDOS 30.3.2021). Viele afghanische Männer teilen die Ansicht, Frauen sollen das Haus nicht verlassen, geschweige denn politisch aktiv sein (STDOK 25.6.2020, vgl. WS 2.12.2019). Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit (AA 16.7.2020; vgl. BBW 28.8.2019). Die städtische Bevölkerung hat im Vergleich zur Bevölkerung auf dem Land weniger ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und viele Frauen gehen aus Furcht vor sozialer Ächtung keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach (STDOK 4.2018). In den meisten Teilen Afghanistans ist es Tradition, dass Frauen und Mädchen selten von außerhalb des Hauses gesehen oder gehört werden sollten (BBC 6.9.2019). Zusätzlich zu patriarchalen Normen, Diskriminierung und Stigmatisierung schränkt der anhaltende Konflikt die Bewegungsfreiheit von Frauen ein, was wiederum ihren ohnehin schon eingeschränkten Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und dem Arbeitsmarkt untergräbt (UNAMA 2.2021a).

Die Erwerbsbeteiligung von Frauen hat sich auf 27% erhöht (UNGA 3.4.2019) wobei nach Angaben der Weltbank der Anteil der arbeitenden Frauen im Jahr 2020 mit 22,8% angegeben wurde (WB 21.6.2020). Erfolgreiche afghanische Frauen arbeiten als Juristinnen, Filmemacherinnen, Pädagoginnen und in anderen Berufen (STDOK 25.6.2020; vgl. OI 3.12.2019). Ob Frauen berufstätig sind oder nicht, hängt vor allem vom Verhalten ihrer Familien, wie auch ihrem Ausbildungsniveau ab. Neben dem allgemeinen Mangel an Arbeitsmöglichkeiten aufgrund der Arbeitsmarktlage und Jobvoraussetzungen, welche Frauen aufgrund der historischen Benachteiligung bei der Ausbildung von Mädchen schwerer erfüllen können als Männer, sind es vor allem kulturelle Hindernisse die, als Problemfelder gelten und Frauen von einer (bezahlten) Arbeitstätigkeit abhalten (STDOK 21.7.2020). Frauen berichten weiterhin, mit Missgunst konfrontiert zu sein, wenn sie nach beruflicher oder finanzieller Unabhängigkeit streben - sei es von konservativen Familienmitgliedern, Hardlinern islamischer Gruppierungen (STDOK 25.6.2020; vgl. REU 20.5.2019) oder gewöhnlichen afghanischen Männern (STDOK 25.6.2020; vgl. WS 26.11.2019). Frauen, die sich in nicht-traditionelle und historisch männerdominierte Bereiche - wie Medien, Sicherheitskräfte und Politik - vorgewagt haben, sind einem höheren Risiko von Vergeltungsmaßnahmen durch die Taliban und regierungsfeindliche Elemente ausgesetzt (SIGAR 2.2021).

Bemühungen der afghanischen Regierung, Schlüsselpositionen mit Frauen zu besetzen und damit deren Präsenz zu erhöhen, halten weiter an (KP 24.3.2019), bleiben jedoch weiterhin begrenzt (AI 7.4.2021). So ist die afghanische Regierung seit dem Jahr 2014 bemüht, den Anteil von Frauen in der Regierung von 22% auf 30% zu erhöhen (USAID 24.7.2019). Frauen besetzen innerhalb der afghanischen Regierung und Spitzenverwaltung beispielsweise folgende Positionen: elf stellvertretende Ministerinnen, drei Ministerinnen und fünf Botschafterinnen. Nicht alle erachten diese Veränderungen als positiv - manche suggerieren, Präsident Ghanis Ernennungen seien symbolisch und die Kandidatinnen unerfahren oder dass ihnen die notwendigen Kompetenzen fehlen würden (RFE/RL 6.12.2018). Im Rahmen einer Ausbildung für Beamte des öffentlichen Dienstes sollen Frauen mit den notwendigen Kompetenzen und Fähigkeiten ausgestattet werden, um ihren Dienst in der afghanischen Verwaltung erfolgreich antreten zu können. Ab dem Jahr 2015 und, bis 2020 sollten mehr als 3.000 Frauen in einem einjährigen Programm für ihren Posten in der Verwaltung ausgebildet werden. Mit Stand Juli 2019 hatten 2.800 Frauen das Programm absolviert. 900 neue Mitarbeiterinnen waren in Kabul, Balkh, Kandahar, Herat und Nangarhar in den Dienst aufgenommen worden (USAID 24.7.2019).

Viele Frauen werden von der Familie unter Druck gesetzt, nicht arbeiten zu gehen (USDOS 30.3.2021); traditionell wird der Mann als Ernährer der Familie betrachtet, während Frauen Tätigkeiten im Haushalt verrichten. Dies bedeutet für die Frauen eine gewisse Sicherheit, macht sie allerdings auch wirtschaftlich abhängig - was insbesondere bei einem Partnerverlust zum Problem wird (Najimi 2018). Auch werden bei der Anstellung Männer bevorzugt. Es ist schwieriger für ältere und verheiratete Frauen, Arbeit zu finden, als für junge alleinstehende. Berufstätige Frauen berichten über Beleidigungen, sexuelle Belästigung, fehlende Fahrgelegenheiten und fehlende Kinderbetreuungseinrichtungen. Auch wird von Diskriminierung beim Gehalt berichtet (USDOS 30.3.2021; vgl. AI 7.4.2021). Das hohe Ausmaß an sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ist ein Grund, warum Familien ihren weiblichen Mitgliedern eine Arbeitstätigkeit außerhalb des Hauses, oder ein Studium nicht erlauben (STDOK 21.7.2020). Mittlerweile wurden landesweit mehr als 1.000 Unternehmen von Frauen gegründet, die sie selbst auch leiten. Die im Jahr 2017 gegründete afghanischen Gewerbebehörde „Women's Chamber of Commerce and Industry“, zählt mittlerweile 850 von Frauen geführten Unternehmen zu ihren Mitgliedern (STDOK 25.6.2020; vgl. OI 3.12.2019).

Die First MicroFinance Bank (FMFB-A), eine Tochter der Aga Khan Agency for Microfinance, bietet Finanzdienstleistungen und Mikrokredite primär für Frauen (STDOK 4.2018; vgl. FMFB o.D.a) und hat 39 Niederlassungen in 14 Provinzen (FMFB o.D.b).

Politische Partizipation und Öffentlichkeit

Die politische Partizipation von Frauen ist in ihren Grundstrukturen rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; von diesem Drittel des Oberhauses sind gemäß Verfassung 50% für Frauen bestimmt. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 68 der 250 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert (AA 16.7.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, SIGAR 2.2021).

Bei den Wahlen zum Unterhaus (Wolesi Jirga) im Oktober 2018 traten landesweit 417 Kandidatinnen an (MBZ 7.3.2019); insgesamt vertreten 79 Frauen 33 Provinzen (AAN 17.5.2019). Das per Präsidialdekret erlassene Wahlgesetz sieht eine Frauenquote von mindestens 25% in den Provinz- (AA 16.7.2020; vgl. SIGAR 2.2021), Distrikt- und Dorfräten vor. Bis zum Ende des Jahres 2019 war dies in keinem Distrikt- oder Dorfrat der Fall (USDOS 30.3.2021). Zudem sind mindestens zwei von sieben Sitzen in der Unabhängigen Wahlkommission (Independent Electoral Commission, IEC) für Frauen vorgesehen. Die Independent Administrative Reform and Civil Service Commission (IARCSC) hat sich die Erhöhung des Frauenanteils im öffentlichen Dienst von 22% auf 24% für das Jahr 2019 und 26% im Jahr 2020 zum Ziel gesetzt (AA 16.7.2020).

Traditionelle gesellschaftliche Praktiken schränken die Teilnahme von Frauen in der Politik und bei Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft ein; wie z.B. die Notwendigkeit eines männlichen Begleiters oder einer Erlaubnis um zu arbeiten. Frauen, die politisch aktiv sind, sind auch weiterhin mit Gewalt konfrontiert und Angriffsziele der Taliban und anderer Aufständischengruppen. Dies, gemeinsam mit einem Rückstand an Bildung und Erfahrung, führt dazu, dass die Zentralregierung männlich dominiert ist (USDOS 30.3.2021).

Am 6.12.2020 wurden neun Frauen zu zweiten stellvertretenden Provinzgouverneurinnen für soziale und wirtschaftliche Angelegenheiten ernannt, und zwar in Badghis, Ghazni, Laghman, Logar, Kapisa, Kunar, Nimruz, Nuristan und Zabul (UNGASC 12.3.2021).

Frauen sind nur selten in laufende Friedensverhandlungen integriert. Die Verhandlungen in Moskau im Februar 2019 waren eine Ausnahme, als zwei Frauen als Mitglieder der inoffiziellen Regierungsdelegation mit den Taliban verhandelten (TD 27.5.2019). Bei der Loya Jirga im Mai 2019 waren 30% der Delegierten Frauen. Einige von ihnen gaben jedoch an, dass sie ignoriert, marginalisiert und bevormundet wurden (NYT 3.5.2019; vgl. STDOK 25.6.2020).

Beispiele für Frauen außerhalb der Politik, die in der Öffentlichkeit stehen, sind die folgenden: In der Provinz Kunduz existiert ein Radiosender - Radio Roshani - nur für Frauen. In der Vergangenheit wurde sowohl die Produzentin bzw. Gründerin mehrmals von den Taliban bedroht, als auch der Radiosender selbst angegriffen. Durch das Radio werden Frauen über ihre Rechte informiert; Frauen können während der Sendung Fragen zu Frauenrechten stellen. Eines der häufigsten Probleme von Frauen in Kunduz sind gemäß einem Bericht Probleme in polygamen Ehen (BBC 6.9.2019). Zan TV, der einizige afghanische Sender nur für Frauen, wurde im Jahr 2017 gegründet. Bei Zan-TV werden Frauen ausgebildet, um alle Jobs im Journalismusbereich auszuüben. Der Gründer des TV-Senders sagt, dass sein Ziel eine zu 80-85% weibliche Belegschaft ist; denn Männer werden auch benötigt, um zu zeigen, dass eine Zusammenarbeit zwischen Männern und Frauen möglich ist. Wie andere Journalistinnen und Journalisten, werden auch die Mitarbeiterinnen von Zan-TV bedroht und beleidigt (BBC 19.4.2019).

Strafverfolgung und rechtliche Unterstützung

Der Großteil der gemeldeten Fälle von Gewalt an Frauen stammt aus häuslicher Gewalt (USDOD 6.2019). Der Zugang von Frauen zur Justiz für diese Verbrechen bleibt ebenfalls dürftig, da der Justizsektor nur begrenzte Wiedergutmachung für die Gewalt bietet, die viele afghanische Frauen erleben (UNAMA 2.2021a). Häusliche Gewalt wird Berichten zufolge vor Gericht nicht als legitimer Grund für eine Scheidung angesehen (STDOK 21.7.2020). Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Shura/Schura und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z.B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden aufgefordert, den 'Familienfrieden' durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen (AA 16.7.2020). Im Fall einer Scheidung wird häufig die Frau als alleinige Schuldige angesehen. Auch ist es verpönt, Probleme außerhalb der Familie, vor Gericht zu lösen (STDOK 21.7.2020). Für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können, werden in einigen Fällen vom Ministerium für Frauenangelegenheiten und nicht-staatlichen Akteuren Ehen arrangiert (USDOS 30.3.2021). Um Frauen und Kinder, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, zu unterstützen, hat das Innenministerium (MoI) im Jahr 2014 landesweit Family Response Units (FRU) eingerichtet. Manche dieser FRUs sind mit Fachleuten wie Psychologen und Sozialarbeitern besetzt, welche die Opfer befragen und aufklären und ihre physische sowie psychische medizinische Behandlung überwachen. Ziel des MoI ist es, für alle FRUs eine weibliche Leiterin, eine zusätzliche weibliche Polizistin sowie einen Sicherheitsmann bereitzustellen (USDOD 6.2019). Einige FRUs haben keinen permanent zugewiesenen männlichen Polizisten und es gibt Verzögerungen bei der Besetzung der Dienstposten in den FRUs (USDOD 12.2018). Gesellschaftlicher Widerstand erschwert es den FRUs Verbrechen geschlechtsspezifischer Gewalt, Zwangsheirat und Menschenhandel anzuzeigen (USDOD 12.2019).

EVAW-Gesetz und neues Strafgesetzbuch

Das Law on Elimination of Violence against Women (EVAW-Gesetz) wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt und ist eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen Gewalt an Frauen und beinhaltet auch Maßnahmen gegen die weit verbreitete häusliche Gewalt (AA 16.7.2020; vgl. SIGAR 2.2021). Das EVAW sowie Ergänzungen im Strafgesetzbuch werden jedoch nur unzureichend umgesetzt (AA 16.7.2020). Das für afghanische Verhältnisse progressive Gesetz beinhaltet eine weite Definition von Gewaltverbrechen gegen Frauen, darunter auch Belästigung, und behandelt erstmals in der Rechtsgeschichte Afghanistans auch Früh- und Zwangsheiraten sowie Polygamie (AAN 29.5.2018). Das EVAW-Gesetz wurde im Jahr 2018 im Zuge eines Präsdialdekrets erweitert und kriminalisiert 22 Taten als Gewalt gegen Frauen. Dazu zählen: Vergewaltigung, Körperverletzung oder Prügel, Zwangsheirat, Erniedrigung, Einschüchterung und Entzug von Erbschaft. Das neue Strafgesetzbuch kriminalisiert sowohl die Vergewaltigung von Frauen als auch Männern - das Gesetz sieht dabei eine Mindeststrafe von 5 bis 16 Jahren für Vergewaltigung vor, und bis zu 20 Jahre oder mehr, wenn erschwerende Umstände vorliegen. Sollte die Tat zum Tod des Opfers führen, so ist für den Täter die Todesstrafe vorgesehen. Im neuen Strafgesetzbuch wird explizit die Vergewaltigung Minderjähriger kriminalisiert, auch wird damit erstmals die strafrechtliche Verfolgung von Vergewaltigungsopfern wegen Zina (Sex außerhalb der Ehe) verboten (USDOS 30.3.2021).

Unter dem EVAW-Gesetz muss der Staat Verbrechen untersuchen und verfolgen - auch dann, wenn die Frau die Beschwerde nicht einreichen kann bzw. diese zurückzieht. Dieselben Taten werden auch im neuen afghanischen Strafgesetzbuch kriminalisiert (UNAMA/OHCHR 5.2018; vgl. AAN 29.5.2018). Das Gesetz sieht außerdem die Möglichkeit von Entschädigungszahlungen für die Opfer vor (AI 28.8.2019).

Die Behörden setzen diese Gesetze nicht immer vollständig durch, obwohl die Regierung gewisse Angelegenheiten, die unter das EVAW-Gesetz fallen, auch über die EVAW-Strafverfolgungseinheiten umsetzt. Einem UN-Bericht zufolge, dem eine eineinhalbjährige Studie (8.2015-12.2017) mit 1.826 Personen (Mediatoren, Repräsentanten von EVAW-Institutionen) vorausgegangen war, verweisen EVAW-Institutionen und NGOs Fälle von Ehrenmorden und anderen schweren Straftaten oftmals an Mediationen oder andere traditionelle Schlichtungssysteme (UNAMA/OHCHR 5.2018; vgl. AAN 29.5.2018).

Frauenhäuser, sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt

Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigungen oder Zwangsehen sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft (mit-)ursächlich für die Notlage ist. Landesweit gibt es in den großen Städten Frauenhäuser, deren Angebot sehr oft in Anspruch genommen wird. Manche Frauen finden vorübergehend Zuflucht, andere wiederum verbringen dort viele Jahre (AA 16.7.2020). Es gibt 27 - 28 Frauenhäuser (USDOS 30.3.2021) in Afghanistan unter dem MOWA (Ministry of Women Affairs) und der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission), die vom Staat und von NGOs betrieben werden (RA KBL 12.10.2020a).

Frauenhäuser sind in der afghanischen Gesellschaft höchst umstritten, da immer wieder Gerüchte gestreut werden, diese Häuser seien Orte für „unmoralische Handlungen“ und die Frauen in Wahrheit Prostituierte. Sind Frauen erst einmal im Frauenhaus untergekommen, ist es für sie sehr schwer, danach wieder in ein Leben außerhalb zurückzufinden. Für Frauen, die auf Dauer weder zu ihren Familien noch zu ihren Ehemännern zurückkehren können, hat man in Afghanistan bisher keine Lösung gefunden. Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt (AA 16.7.2020). Selbst in Städten wie Mazar-e Sharif ist es nur schwer vorstellbar, dass Frauen völlig alleine leben (STDOK 21.7.2020; vgl. STDOK 16.7.2020). Auch unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben (AA 16.7.2020). Oftmals versuchen Väter, ihre Töchter aus den Frauenhäusern zu holen und sie in Beziehungen zurückzudrängen, aus denen sie geflohen sind, oder Ehen mit älteren Männern oder den Vergewaltigern zu arrangieren (NYT 17.3.2018). Auch das Ministerium für Frauenangelegenheiten arrangiert manchmal Ehen für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können (USDOS 30.3.2021).

Nach UN-Angaben aus dem Jahr 2017 werden neben den Frauenhäusern auch 17 Family Guidance Centers (FGCs) von zivilgesellschaftlichen Organisationen betrieben, wo Frauen bis zu einer Woche unterkommen können, bis eine längerfristige Lösung gefunden wurde oder sie nach Hause zurückkehren. Frauen aus ländlichen Gebieten ist es logistisch allerdings nur selten möglich, eigenständig ein Frauenhaus oder FGC zu erreichen (AA 16.7.2020).

Die EVAW-Institutionen und andere Einrichtungen, die Gewaltmeldungen annehmen und für die Schlichtung zuständig sind, bringen die Gewaltopfer während des Verfahrens oft in Schutzhäuser (z.B. Frauenhäuser), nachdem die Familie und das Opfer konsultiert wurden (UNAMA/OHCHR 5.2018). Es gibt in allen 34 Provinzen EVAW-Ermittlungseinrichtungen und die EVAW-Gerichtsabteilungen wurden im Laufe des Jahres 2020 erweitert, um auf der ersten und der Berufungsebene in allen 34 Provinzen zu arbeiten (USDOS 30.3.2021; vgl. UNSC 30.3.2021).

In manchen Fällen werden Frauen inhaftiert, wenn sie Verbrechen, die gegen sie begangen wurden, anzeigen. Manchmal, wenn die Unterbringung in Frauenhäusern nicht möglich ist, werden Frauen in Schutzhaft genommen, um sie vor Gewalt seitens ihrer Familienmitglieder zu beschützen. Die Schutzzentren für Frauen sind insbesondere in den Großstädten manchmal überlastet und die Notunterkünfte sind im Westen, Zentrum und Norden des Landes konzentriert. Es kommt auch vor, dass Frauen stellvertretend für männliche Verwandte inhaftiert werden, um den Delinquenten unter Druck zu setzen, sich den Behörden zu stellen (USDOS 30.3.2021).

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt

Die Überwachung und Berichterstattung über sexuelle Gewalt in Afghanistan wird durch chronische Instabilität, strukturelle Geschlechterungleichheit und ein Klima der Straflosigkeit behindert, mit minimalem Zugang zu Hilfsleistungen für Opfer. Die Hilfsleistungen werden durch pandemiebedingte Bewegungseinschränkungen weiter eingeschränkt, und mindestens zwei multisektorale Hilfszentren haben nach Drohungen der Taliban im Jahr 2020 ihre Arbeit eingestellt (UNSC 30.3.2021). Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist, unabhängig von der Ethnie, weit verbreitet und kaum dokumentiert (AA 16.7.2020; vgl. AI 30.1.2020). Von den im Jahre 2019 4.693 durch AIHRC dokumentierten Fällen von Gewalt gegen Frauen waren 194 (4,1%) sexueller Gewalt zuzuschreiben (AIHRC 23.3.2020). Akte konfliktbezogener sexueller Gewalt werden Mitgliedern der Taliban zugeschrieben, aber auch Mitglieder der afghanischen Nationalarmee, der afghanischen Nationalpolizei und der afghanischen Lokalpolizei sind darin verwickelt (UNSC 30.3.2021).

Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord (AA 16.7.2020). Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt (STDOK 3.7.2014) und kommen auch weiterhin vor (USDOS 30.3.2021). Afghanische Expertinnen und Experten sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden (UNAMA/OCHR 5.2018).

Zwangsheirat und Verheiratung von Mädchen unter 16 Jahren sind noch weit verbreitet (AA 16.7.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, MBZ 7.3.2019, 20 minutes 28.11.2018), wobei die Datenlage hierzu sehr schlecht ist (AA 16.7.2020). Als Mindestalter für Vermählungen definiert das Zivilgesetz Afghanistans für Mädchen 16 Jahre (15 Jahre, wenn dies von einem Elternteil bzw. einem Vormund und dem Gericht erlaubt wird) und für Burschen 18 Jahre (USDOS 30.3.2021; vgl. AA 16.7.2020). Dem Gesetz zufolge muss vor der Eheschließung nachgewiesen werden, dass die Braut das gesetzliche Alter für die Eheschließung erreicht hat, jedoch besitzt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung Geburtsurkunden (USDOS 30.3.2021). In der Praxis wird das Alter, in dem Buben und Mädchen heiraten können, auf der Grundlage der Pubertät festgelegt. Aufgrund der fehlenden Registrierung von Ehen wird die Ehe von Kindern kaum überwacht (MBZ 7.3.2019). Auch haben Mädchen, die nicht zur Schule gehen, ein erhöhtes Risiko, verheiratet zu werden (MBZ 7.3.2019). Gemäß dem EVAW-Gesetz werden Personen, die Zwangsehen bzw. Frühverheiratung arrangieren, für mindestens zwei Jahre inhaftiert; jedoch ist die Durchsetzung dieses Gesetzes limitiert (USDOS 30.3.2021). Nach Untersuchungen von UNICEF und dem afghanischen Ministerium für Arbeit und Soziales wurde in den letzten fünf Jahren die Anzahl der Kinderehen um 10% reduziert. Die Zahl ist jedoch weiterhin hoch: In 42% der Haushalte ist mindestens eine Person unter 18 Jahren verheiratet (MBZ 7.3.2019).

Mahr ist eine Art Morgengabe, deren Ursprung sich im Koran findet. Es handelt sich um einen Geldbetrag, den der Bräutigam der Braut geben muss. Dies ist in Afghanistan weit verbreitet (MoLSAMD/UNICEF 7.2018), insbesondere im ländlichen Raum (WAW o.D.) und sollte nicht mit dem Brautpreis (Walwar auf Pashto und Toyana/Sherbaha auf Dari) verwechselt werden. Der Brautpreis ist eine Zahlung, die an den Vater der Braut ergeht, während Mahr ein finanzielles Versprechen des Bräutigams an seine Frau ist. Dem islamischem Recht (Sharia) zufolge haben Frauen, die einen Ehevertrag abschließen, einen Anspruch auf Mahr, damit sie und ihre Kinder im Falle einer Scheidung oder Tod des Ehegatten (finanziell) abgesichert sind. Der hanafitischen Rechtsprechung zufolge darf eine Frau die Mahr nach eigenem Ermessen nutzen - das heißt, sie kann diese auch zurückgeben oder mit ihrem Mann oder ihrer Großfamilie teilen. Befragungen in Gemeinschaften zufolge wird die Mahr fast nie so umgesetzt, wie dies in der islamischen Rechtsprechung vorgeschrieben ist - selbst dann, wenn die betroffenen Personen das Heiratsgesetz, in dem die Mahr festgehalten ist, kennen (AAN 25.10.2016). Entgegen dem islamischen Recht erhält in der Regel nicht die Braut, sondern ihre Familie das Geld. Familien mit geringem Einkommen neigen daher dazu, ihre Töchter bereits in jungen Jahren zu verheiraten, da die Morgengabe für jüngere Mädchen in der Regel höher ist (MoLSAMD/UNICEF 7.2018). Oft sind die Männer deutlich älter und haben schon andere Ehefrauen (WAW o.D.).

Die Praktiken des Badal (Vergeltung) und Ba‘ad/Swara (die Praxis der Streitschlichtung, bei der die Familie des Täters ein Mädchen an die Familie des Opfers verkauft) (STDOK 7.2016), sind stark von den wirtschaftlichen Bedingungen getrieben und tief mit den sozialen Traditionen verwurzelt (MoLSAMD/UNICEF 7.2018). Das Gesetz kriminalisiert Zwangs-, Minderjährigen- und Ba'ad-Ehen sowie die Einmischung in das Recht der Frau, ihren Ehepartner zu wählen. NGOs berichten von Fällen, in denen Ba'ad nach wie vor praktiziert wird, oft in abgelegenen Provinzen. Die Praxis des Brautaustauschs zwischen Familien wurde nicht kriminalisiert und bleibt weit verbreitet (USDOS 30.3.2021; vgl. WAW o.D.). Durch einen Brauttausch im Sinne von Badal sollen hohe Kosten für beide Familien niedrig gehalten werden (MoLSAMD/UNICEF 7.2018). Wenn die Familie oder eine Jirga diese Entscheidung trifft, müssen sich die betroffenen Frauen oder Mädchen fügen (EASO 12.2017).

Familienplanung und Verhütung

Das Recht auf Familienplanung wird von wenigen Frauen genutzt. Auch wenn der weit überwiegende Teil der afghanischen Frauen Kenntnisse über Verhütungsmethoden hat, nutzen nur etwa 22% (überwiegend in den Städten und gebildeteren Schichten) die entsprechenden Möglichkeiten (AA 16.7.2020; vgl. UNPF 17.7.2018). Dem Afghanistan Demographic and Health Survey zufolge würden etwa 25% aller Frauen gerne Familienplanung betreiben (UNPF 17.7.2018). Dem Strafgesetzbuch zufolge ist das Verteilen von Kondomen zulässig, jedoch beschränkte die Regierung die Verbreitung nur auf verheiratete Paare (USDOS 30.3.2021).

Das Gesundheitsministerium bietet Sensibilisierungsmaßnahmen u.a. für Frauen an und verteilt Arzneimittel (Pille). In Herat-Stadt und den umliegenden Distrikten steigt die Zustimmung dafür und es gibt Frauen, welche die Pille verwenden; in den ländlichen Gebieten hingegen stoßen solche Maßnahmen meistens auf Unverständnis und werden nicht akzeptiert. Internationale NGOs und das Gesundheitsministerium bieten hauptsächlich in den Geburtenabteilungen der Krankenhäuser Aufklärungskampagnen durch Familienplanungsberater an (STDOK 13.6.2019).

Ein von den US-Amerikanern initiiertes Programm, welches im Zeitraum von 1.2015 bis 1.2020 (RA KBL 20.10.2020) lief, USAID’s Helping Mothers and Children Thrive (HEMAYAT), zielte darauf ab, den Zugang und die Verwendung von Verhütungsmitteln, Mütter-, Neugeborenen- und Kindergesundheitsdienstleistungen zu erhöhen. Ein weiteres Ziel war das Zuweisungssystem auf Provinzebene zu verbessern. Allein durch die Ausbildung und die Bereitstellung von Ausrüstung konnten 25 Hebammenzentren in den Provinzen Balkh, Herat und Kandahar etabliert werden (SIGAR 30.7.2019).

Viele Frauen gebären Kinder bereits in sehr jungem Alter (AA 16.7.2020). Frühe und Kinderheiraten und eine hohe Fertilitätsrate mit geringen Abständen zwischen den Geburten tragen zu einer sehr hohen Müttersterblichkeit [Anm.: Tod einer Frau während der Schwangerschaft bis 42 Tage nach Schwangerschaftsende] bei. Diese ist mit 638 Todesfällen pro 100.000 Lebendgeburten die höchste in der Region (UNICEF 8.2020; zum Vergleich Österreich: 4).

Es gibt keine Berichte über Zwangsabtreibungen oder unfreiwillige Sterilisationen seitens der staatlichen Behörden (USDOS 30.3.2021).

Reisefreiheit von Frauen

Diesbezüglich bewegen sich die Aussagen der Quellen innerhalb einer gewissen Bandbreite. Die Reisefreiheit von Frauen ohne männliche Begleitung ist durch die sozialen Normen definitiv eingeschränkt (USDOS 30.3.2021; vgl. STDOK 25.6.2020, STDOK 4.2018, MBZ 7.3.2019, STDOK 13.6.2019). Eine Quelle gibt an, dass Frauen sich grundsätzlich, abgesehen von großen Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif, nicht ohne einen männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen können. Es gelten strenge soziale Anforderungen an ihr äußeres Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, deren Einhaltung sie jedoch nicht zuverlässig vor sexueller Belästigung schützt (AA 16.7.2020; vgl. STDOK 25.6.2020, MBZ 7.3.2019, STDOK 13.6.2019). In der Stadt Mazar-e Sharif wird das Tragen des Hijab nicht so streng gehandhabt, wie in den umliegenden Gegenden oder in anderen Provinzen (STDOK 4.2018). Generell hängt das Ausmaß an Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit der Frauen unter anderem vom Wohnort, der Einstellung ihrer Familien, der Sicherheitslage und dem Bildungsgrad ab (STDOK 21.7.2020). In ländlichen Gebieten und Gebieten unter Kontrolle von regierungsfeindlichen Gruppierungen werden Frauen, die soziale Normen missachten, beispielsweise durch das Nicht-Tragen eines Kopftuches oder einer Burka, bedroht und diskriminiert (MBZ 7.3.2019).

Nur wenige Frauen in Afghanistan fahren Auto. In Städten und Dörfern werden Frauen hinter dem Steuer angefeindet, etwa von Gemeindevorständen, Talibansympathisanten oder gar Familienmitgliedern. Die Hauptstadt Kabul ist landesweit einer der wenigen Orte, wo autofahrende Frauen zu sehen sind (STDOK 4.2018; vgl. STDOK 13.6.2019). Es gibt in Mazar-e Sharif eine Fahrschule für Frauen. In rund drei Jahren haben dort ca. 500 Frauen einen Führerschein gemacht, was von der DoWA (Departments of Women’s Affairs) unterstützt wird (STDOK 21.7.2020).

[…]

1.2.2. Maidan Wardak

Die Provinz Wardak, auch bekannt als Maidan Wardak, grenzt im Norden an Parwan und Bamyan, im Osten an Kabul und Logar und im Süden und Westen an Ghazni (UNOCHA Wardak 4.2014, NPS Wardak o.D., OPr Wardak 1.2.2017). Die Provinz ist in die folgenden Distrikte unterteilt: Chak-e-Wardak, Daimir Dad, Hissa-e-Awali Behsud, Jaghatu, Jalrez, Markaz-e-Behsud, Maidan Shahr, Nerkh, Sayyid Abad (NSIA 1.6.2020; vgl. IEC Wardak 2019, UNOCHA Wardak 4.2014, NPS Wardak o.D., OPr Wardak 1.2.2017). Die Provinzhauptstadt Maidan Shahr befindet sich etwa 40-50 Kilometer südwestlich von Kabul (OPr Wardak 1.2.2017; vgl. ARTE 3.4.2020).

Die National Statistics and Information Authority of Afghanistan (NSIA) schätzt die Bevölkerung in Wardak im Zeitraum 2020/21 auf 637.634 Personen (NSIA 1.6.2020). Sie besteht aus Tadschiken, Paschtunen und Hazara (OPr Wardak 1.2.2017; vgl. NPS Wardak o.D.).

Wardak ist aufgrund seiner strategischen Position, der Nähe zu Kabul und der Lage an wichtigen Fernstraßen eine bedeutsame Provinz (ARN 23.6.2019). Der Highway Kabul-Kandahar durchquert die Distrikte Maidan Shahr, Narkh und Saydabad (UNOCHA Wardak 4.2014). Die Taliban richten gelegentlich Kontrollpunkte an Abschnitt dieser Fernstraße in der Provinz Wardak ein (AVA 1.10.2019; vgl. UNSG 7.12.2018; vgl. PAJ 27.10.2018; AP 7.10.2018).

Eine weitere wichtige Straße führt von Maidan Shahr durch die Distrikte Jalrez, Hissa-e-Awali Behsud, Markaz-e Behsud zum Haji-gak-Pass und weiter nach Bamyan (UNOCHA Wardak 4.2014; vgl. AAN 16.12.2019). Der Abschnitt im Distrikt Jalrez befindet sich unter Kontrolle der Taliban (AAN 16.12.2019; vgl. KNow 25.8.2019). Die Taliban betreiben entlang dieser Straße Kontrollpunkte und heben Steuern ein (AAN 16.12.2019; vgl. KNow 25.8.2019, PAJ 5.11.2018) und es sind Fälle dokumentiert, dass Durchreisende entführt oder getötet wurden (KNow 25.8.2019; vgl. DA 11.6.2019, RY 2.6.2019); vorwiegend Hazara (KNow 25.8.2019).

Hintergrundinformationen zu Konflikt und Akteuren

Wardak ist eine der am heftigsten umkämpften Provinzen Afghanistans und wird zum größten Teil von den Taliban kontrolliert (WP 10.8.2020; vgl. PBS 31.12.2019). Das Machtgleichgewicht in der Provinz Wardak blieb über Jahre hinweg relativ stabil (WP 10.8.2020). Die Sicherheitslage hat sich im Lauf des Jahres 2019 verschlechtert (KP 19.7.2019; vgl. KP 2.7.2019; DA 11.6.2019) und seit der Unterzeichnung eines Friedensabkommens zwischen den USA und den Taliban im Februar 2020 hat der Einfluss der Taliban in Wardak zugenommen (WP 10.8.2020). Nach Schätzungen des Long War Journal befinden sich die Distrikte Daimir Dad, Nerkh, Jalrez und Sayyid Abad mit Stand Mai 2021 unter Talibankontrolle, während Chak-e-Wardak, Hissa-e-Awali Behsud, Jaghatu und Maidan Shahr umkämpft sind (LWJ o.D.).

Migrationen von Kuchi-Nomaden führen regelmäßig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen aufgrund von Landstreitigkeiten in den überwiegend von Hazara bewohnten Distrikten Hesa-i Awal-e Behsud, Markaz-e Behsud und Daymirdad in Wardak (ACCORD 6.8.2019; vgl. Giustozzi 10.2019, TN 8.7.2020, EASO 9.2020). Als sich die Spannungen zwischen den Kuchi-Nomaden und den lokalen Hazara-Bewohnern im Jahr 2015 verschärften, wurde von dem Hazara-Kommandanten Abdul Ghani Alipur eine Volksaufstandstruppe, die sogenannte Widerstandsfront [Anm.: Behsud Resistance Front (Jabha-ye Moqawamat)], gegründet. Im November 2018 wurde Alipur vom afghanischen Geheimdienst unter dem Vorwurf von Menschenrechtsverletzungen und Korruption verhaftet. Seiner Milizgruppe wurde vorgeworfen, Sicherheitskräfte angegriffen zu haben (TN 27.11.2018a, vgl. EASO 9.2020) sowie paschtunische Fahrgäste auf der Schnellstraße zwischen Maydan Shar und Jalrez erpresst, belästigt und entführt zu haben, angeblich als Vergeltung für Angriffe auf Hazara (TN 27.11.2018b; vgl. AAN 16.12.2019, EASO 9.2020). Seine Unterstützer behaupteten, Alipur hätte gegen die Taliban gekämpft (TN 26.11.2018). Nachdem in mehreren Teilen des Landes gewaltsame Hazara-Proteste ausgebrochen waren, wurde Alipur aus der NDS-Haft entlassen (RFE/RL 26.11.2018; vgl. EASO 9.2020). Im Juni 2020 wurden Berichten zufolge Dutzende von Straßenbauarbeitern von bewaffneten Männern der Hazara-Miliz von Alipur entführt und misshandelt (PAJ 23.6.2020; vgl. EASO 9.2020), und es wurde über die Tötung von mehr als einem Dutzend Menschen aufgrund von bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Anwohnern und Kuchi-Nomaden berichtet (TN 25.6.2020; vgl. EASO 9.2020).

Polizisten, die an den Außenposten an der Grenze zwischen Regierungskontrolle und Taliban-Einfluss stationiert sind, berichtet über häufige Angriffe der Aufständischen. In Distrikten, die außerhalb der Regierungskontrolle liegen, berichten Zivilisten von einem verstärkten Einsatz von Artillerie durch Regierungseinheiten (WP 10.8.2020). Auch im volatilen Distrikt Sayyid Abad gab es in den letzten Jahren fast täglich Kämpfe zwischen Regierungskräften und Taliban. Dort wurden, laut Angaben der Bewohner, durch Sicherheitskräfte im November 2019 rund 80 Wohnhäuser zerstört, da in der Vergangenheit gemäß Angaben der Behörden die Taliban immer wieder Wohnhäuser als Unterkünfte und Befestigungen nutzten (AN 3.11.2019).

Aus Sicherheitsgründen lebt die Bürgermeisterin von Maidan Shahr, Zarifa Ghafari, in Kabul und pendelt täglich 50 km zu ihrem Amtssitz (ARTE 3.4.2020).

Auf Regierungsseite befindet sich die Provinz Wardak im Verantwortungsbereich des 203. ANA Corps (USDOD 1.7.2020; vgl. KP 4.7.2019), das der Task Force Southeast unter der Leitung von US-Truppen untersteht (USDOD 1.7.2020).

Einheiten des Nationalen Sicherheitsdirektorates (NDS), der vom US-Geheimdienst CIA unterstützt wird, führen in der Provinz Wardak nächtliche Operationen durch, wobei es Berichten zufolge zu willkürlichen Angriffen gegen Zivilisten, Hinrichtungen und anderen Menschenrechtsverletzungen kommt. Die Täter werden nicht zur Rechenschaft gezogen (FP 6.2.2020, HRW 30.10.2019, BAMF 15.7.2019).

Jüngste Entwicklungen und Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung

[…]

Im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA 145 zivile Opfer (55 Tote und 90 Verletzte) in der Provinz Wardak. Dies entspricht einem Rückgang von 21% gegenüber 2019. Die Hauptursachen für die Opfer waren Bodenkämpfe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (UNAMA 2.2021a).

Bei einem Angriff der Taliban auf eine Basis des NDS in der Nähe der Provinzhauptstadt Maidan Shahr wurden im Jänner 2019 über 100 Sicherheitskräfte getötet (NYT 21.1.2019; vgl. Guardian 21.1.2019, ORF 21.1.2019). Am 18.3.2021 starben bei dem Absturz eines Helikopters der afghanischen Armee im Distrikt Behsud neun Menschen. Hazara-Kommandeur Abdul Ghani Alipur der genannten Behsud Resistance Front (Jabha-ye Moqawamat) wurde vom Verteidigungsministerium vorgeworfen, für den Abschuss verantwortlich zu sein (BAMF 29.3.2021; vgl. AnA 20.3.2021). Am 30.1.2021 war es in Behsud nach einem Protestmarsch gegen die Einsetzung neuer Polizeikommandeure zu Auseinandersetzungen zwischen staatlichen Sicherheitskräften und bewaffneten Männern der Behsud Resistance Front gekommen. Dabei hätten staatliche Sicherheitskräfte das Feuer eröffnet, wobei mindestens neun Menschen gestorben und weitere verletzt worden seien (BAMF 29.3.2021; vgl. TN 30.1.2021, AVA 30.1.2021).

Im Mai 2021 übernahmen die Taliban die Kontrolle über den Distrikt Nerkh, einen strategischen Distrikt etwa 40 Kilometer von Kabul entfernt. Spezialkräfte wurden in dem Gebiet eingesetzt, um den Distrikt Nerkh zurückzuerobern, nachdem Truppen einen "taktischen Rückzug" angetreten hatten (RFE/RL 12.5.2021; vgl. TN 12.5.2021, AJ 12.5.2021). Ein Taliban-Sprecher sagte, die Gruppe habe das Gebiet erobert, und die Aufständischen hätten das Polizeipräsidium und einen Armeestützpunkt eingenommen (RFE/RL 12.5.2021; vgl. TN 12.5.2021). Mehrere wichtige Fernstraßen in die zentralen und südlichen Provinzen des Landes führen durch den Distrikt Nerkh (RFE/RL 12.5.2021).

In der Provinz kommt es regelmäßig zu Sicherheitsoperationen (KP 26.4.2021; TN 18.2.2020; PAJ 24.10.2019) und Luftschlägen (TN 25.4.2021; PAJ 18.2.2020; PAJ 24.10.2019; NG 17.10.2019; AT 8.12.2019). Die Taliban greifen regelmäßig Kontrollpunkte, Einrichtungen oder Konvois der Sicherheitskräfte an und es kommt zu Gefechten mit den Regierungstruppen, was zu Verlusten unter den Sicherheitskräften und den Aufständischen führt (ATV 23.9.2020; WP 10.8.2020; AN 3.11.2019; GW 21.7.2020; AN 6.9.2020; IAR 21.9.2020; FRP 29.7.2019; TN 18.2.2020; PAJ 24.10.2019; NG 17.10.2019) aber auch zivile Opfer nach sich zieht (BAMF 26.4.2021; KP 26.4.2020; TN 25.4.2021).

[…]

2. Beweiswürdigung:

2.1.    Der oben angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unzweifelhaften Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes der belangten Behörde und des Verfahrensaktes des Bundesverwaltungsgerichts.

2.2.    Die Feststellungen zur Person, Staatsangehörigkeit, Herkunftsprovinz und Volksgruppenzugehörigkeit der Bf sowie zu ihrem Familienstand, Religionsbekenntnis, Werdegang und Leben in Afghanistan, beruhen auf ihren eigenen, insoweit unbedenklichen Angaben. Das erkennende Gericht hat keine Veranlassung, an diesen – im gesamten Verfahren gleich gebliebenen – Aussagen zu zweifeln.

Die Feststellungen zur Unbescholtenheit ergeben sich aus dem Verfahrensakt der Bf sowie einer Einsicht in das Strafregister.

2.3.    Die Feststellungen zum Leben der Bf in Österreich und ihren hier gesetzten Integrationsschritten gründen auf den Angaben der Bf im verwaltungsbehördlichen Verfahren sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht in Zusammenschau mit den zahlreichen im Akt einliegenden Integrationsunterlagen (s. AS 113 bis 137, Stellungnahmen vom 30.10.2019, 21.12.2019, 15.09.2020 und 01.07.2021 sowie Beilage ./B zur Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 10.01.2020). Aus diesen Unterlagen ergibt sich zudem, dass die Bf aktiv um eine Integration bemüht ist, am gesellschaftlichen Leben in Österreich teilnimmt und sich ohne Einschränkungen im öffentlichen Raum bewegt.

2.4.    Die Feststellungen zur Bf als eine am „westlichen“ Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau, die eine Lebensweise angenommen und verinnerlicht hat, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt, ergeben sich aus einer Zusammenschau der Angaben der Bf im gesamten Verfahren:

Die Bf gab bereits in ihrer Einvernahme vor der belangten Behörde auf die Frage, wie sie gerne in Afghanistan gelebt hätte bzw. was sie vermisste an, dass sie in Afghanistan keine Rechte gehabt habe, weder die Schule besuchen noch ohne männliche Begleitung das Haus verlassen habe können. Sie habe nicht einkaufen gehen gekonnt. Frauen müssten immer zu Haue wie in einem Gefängnis bleiben. Im Gegensatz dazu könne sie in Österreich die Schule besuchen, alleine einkaufen gehen, sich alleine aussuchen wie sie sich kleinen möchte. Sie könne ohne Angst ausgehen und ihre Freunde treffen, einen Beruf erlernen und später auch arbeiten. Sie wolle Friseurin werden, brauche dazu jedoch einen Pflichtschulabschluss und müsse die deutsche Sprache auf dem Niveau B1 beherrschen (AS 106f). Seit sie in Österreich lebe könne sie sich aussuchen wie sie sich kleiden möchte. In Afghanistan habe sie ein langes traditionelles Hemd und eine weite Hose tragen müssen und auch den gesamten Körper sowie ihre Hände bedecken müssen (AS 109). Bereits aus diesen ursprünglichen Angaben der Bf geht deutlich hervor, dass sich die Bf mit den in Afghanistan vorherrschenden Normen und Konventionen nicht einverstanden zeigt und nach einem selbstbestimmten Leben strebt.

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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