TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/27 W177 2154174-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.07.2021
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Entscheidungsdatum

27.07.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §2 Abs1 Z15
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §75 Abs24
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W177 2154174-1/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Volker NOWAK als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Rechtsanwältin Mag.a Julia M. KOLDA, Pachergasse 17/5A/3, 4400 Steyr gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, vom 28.03.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung vom 29.06.2021 zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgeben und es wird XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge kurz „BF“),, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte nach Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 24.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 25.12.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des BF nach dem AsylG 2005 statt. Der BF gab an, afghanischer Staatsangehöriger zu sein. Er habe eine zwölfjährige Schulbildung, die er teilweise auch im Iran absolviert habe, und Berufserfahrung als Fotograph und Grafikdesigner. In Afghanistan habe er sich zuletzt in der Provinz Sar-e Pol aufgehalten. Er sei Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und Moslem schiitischer Glaubensrichtung. Seine Muttersprache sei Dari. Er sei ledig und habe keine Kinder. Seine Eltern, seine Verlobte, sein Bruder und seine drei Schwestern würden noch in Afghanistan leben. In Europa habe der BF keine Verwandte. Als Fluchtgrund gab er zusammengefasst an, dass er Afghanistan verlassen habe, weil es aufgrund seiner Tätigkeit als Fotograph und Grafikdesigner eine schriftliche Drohung der Taliban erhalten. Sie hätten um eine jährliche Spende gebeten. Er habe Angst von den Taliban getötet zu werden. Außerdem wären die Taliban grausam und würden ihn verfolgen, weil er Hazara und Schiite sei.

3. Bei der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (nunmehr kurz „BFA“) am 14.12.2016 gab der BF an, gesund zu sein. Er habe sich zuletzt sechs Jahre in Kabul aufgehalten, weil er dort gearbeitet habe. Seine Familie stamme aus der Provinz Sar-e Pol. Diese würde sich mittlerweile im Iran aufhalten. In Afghanistan habe er nur mehr Onkeln und Tanten, die in Mazar-e Sharif und Kabul leben würden. Er sei im Iran geboren worden und habe bis zum Jahr 2009 dort gelebt.

Er könne eine Tazkira als identitätsbezeugenden Dokument vorlegen. Er könne ebenso noch den Drohbrief, eine Bestätigung des Ministeriums über diesen, zwei Dienstausweise und ein Konvolut an integrationsbegründenden Unterlagen vorlegen.

In seinem Heimatland sei er in keiner Weise politisch tätig gewesen. Er sei afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und Moslem schiitischer Glaubensrichtung. Er habe im Iran neun Jahre die Schule besucht, die letzten drei Schuljahre habe er in Afghanistan absolviert und mit der Matura abgeschlossen. Danach habe er vier bis fünf Jahre Berufserfahrung als Grafiker und Fotograph gesammelt. Zu in Afghanistan lebenden Verwandten habe er keinen Kontakt mehr.

Er sei über Pakistan, den Iran und die Türkei nach Europa gekommen, wo er in Griechenland auf das Gebiet der EU eingereist sei. Danach wäre er über die offenen Grenzen nach Österreich gekommen. Er habe keine Straftaten begangen und gegen ihn würde es in seinem Heimatland auch keinen Heftbefehl geben.

Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte der BF im Wesentlichen aus, dass sein Vater kein Spendengeld an die Taliban bezahlt hätte und die Taliban dann in seinem Heimatdorf einen Drohbrief hinterlassen hätten. Er habe seine Familie oftmals besucht. Nachdem der Drohbrief hinterlassen worden sei, sei er nicht mehr in sein Heimatdorf gefahren. Sein Vater sei zur Polizei gekommen, wo man ihm gesagt habe, dass man ihm nicht helfe, weil täglich zehnmal welche mit solchen Zetteln kommen würden. Das Büro des Infrastrukturministeriums habe seinem Vater aber den Erhalt des Drohbriefes bestätigt. Mit dieser Bestätigung habe sein Vater dann eine Anzeige bei der Polizei in der Provinzhauptstadt erstattet. Ein bekannter Polizist habe seinem Vater gesagt, dass die Lage gefährlich sei. Der Mullah habe seinem Vater gesagt, dass er 300.000 Afghani zahlen solle, damit dies Taliban ihm und dem BF nichts antun würden. Der BF wäre in deren Augen nämlich ein Ungläubiger, weil er in Kabul auf der Universität arbeite und Kontakte ins Ausland habe. Nachdem sowohl die Polizei als auch der Mullah seinem Vater mitgeteilt hätten, dass es besser wäre Afghanistan zu verlassen, sei der BF schließlich ausgereist. Da sein Vater nicht gezahlt habe, sei auch er einen Monat später aus Afghanistan ausgereist mit. Der Mullah hätte gemeint, dass es sinnlos sei, zu zahlen. Die Taliban hätten wohl Interesse an der Familie bekommen, weil diese als Hazara und Schiiten nicht deren Aufruf, in die Moschee zu gehen, gefolgt sei. Man habe regelmäßig im Monat oder im halben Jahr für die armen Leute spenden müssen, wobei die Taliban dieses Geld für sich genommen hätten. In Friedenszeiten habe man die Wahl gehabt, dass man das Geld den Armen direkt geben hätte können. Dies habe sein Vater immer getan. Da die Polizei gesagt habe, die Lage sei Ernst, habe er sein Heimatland verlassen. Da er auch auf der Universität gewesen wäre und dort auch einige ausländische Lehrer gearbeitet hätten, hätten die Taliban Interesse an ihm. Diese Privatuniversität stehe auf der schwarzen Liste der Taliban. Auch sei er in Gefahr, weil er Hazara und Schiite sei. Auch wenn er deswegen persönlich keine Probleme gehabt hätte, hätten in Afghanistan alle Schiiten Probleme.

Danach wurden dem BF Länderfeststellungen ausgehändigt und ihm eine Frist von drei Werktagen eingeräumt, um eine Stellungnahme hierzu abzugeben.

In Österreich lebe er von der Grundversorgung und arbeite nicht. Er lerne fleißig die deutsche Sprache und spiele Gitarre. Er habe viele Freunde, mit denen er die Freizeit verbringen würde jedoch keine Verwandten. Er sei weder Mitglied in einem Verein noch ehrenamtlich tätig gewesen. Er habe Angst um seinen Vater, der sich in Syrien im Krieg befinden würde.

4. In einer seitens seiner damaligen Rechtsvertretung, der Deserteurs- und Flüchtlingsberatung, am 22.12.2016 ergangenen Stellungnahme wurde darauf hingewiesen, dass sich der BF sein Fluchtvorbringen detailliert geschildert und mit Beweismittel untermauert habe. Es sei auch in Einklang mit den Gegebenheiten in seiner Heimatprovinz. Außerdem sei die Lage für Schiiten und Hazara in Afghanistan nach wie vor gefährlich. Jedenfalls werde dem BF aufgrund seiner Tätigkeit für eine international ausgerichtete Universität in Afghanistan seitens der Taliban eine politische Gesinnung unterstellt, die dazu führe, dass ihm der Status des Asylberechtigten gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen sei.

5. Mit Bescheid vom 28.03.2017 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Ebenso wurde Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde dem BF kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt. Weiters wurde gegen den BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.). Begründend wurde festgehalten, dass das vom BF getätigte Vorbringen nicht verifizierbar gewesen sei. Der Drohbrief und die Bestätigung des Ministeriums würden, mangels Datierung und inhaltlicher Kürze, nicht die vom BF gefürchtete Verfolgungsgefahr bestätigen. Ebenso sei eine Gefährdung des BF nicht wahrscheinlich, zumal sich seine Angehörigen nicht mehr in Heimatprovinz aufhalten würden und er dadurch auch nicht mehr in diese reisen müsse. Dass der BF wegen seiner Tätigkeit für die größte Privatuniversität des Landes als einfacher Mitarbeiter auf die schwarze Liste der Taliban gesetzt worden sei, habe als ebenfalls nicht glaubwürdig erachtet werden müssen. In Ermangelung einer persönlichen Bedrohung sei auch nicht ersichtlich gewesen, dass der BF aufgrund der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara und der Religionszugehörigkeit der Schiiten bedroht sei. Eine Verfolgungsgefahr sei auch deswegen nicht ersichtlich gewesen, zumal der BF jahrelang unbehelligt diese Tätigkeiten in Kabul habe ausführen können.

Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan wäre dem BF eine Ansiedlung in Kabul zumutbar. Eine Gefahrenlage im Sinne des Art. 3 EMRK würde beim BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht vorliegen. Es bestünde daher im Falle seiner Rückkehr auch keine reale Gefahr, die einer Zuerkennung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würde. Der BF sei jung, gesund und arbeitsfähig. Ebenso habe er Berufserfahrung in Afghanistan. Betreffend den Ausspruch einer Rückkehrentscheidung würden die öffentlichen Interessen überwiegen.

6. Mit Verfahrensanordnung vom 04.04.2017 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG der Verein Menschenrechte Österreich für das Beschwerdeverfahren als Rechtsberatung zur Seite gestellt. Ebenso wurde mit Verfahrensanordnung vom 31.03.2017 ein Rückkehrberatungsgespräch gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG angeordnet.

7. Gegen den Bescheid des BFA richtete sich die am 04.04.2017 beim BFA eingelangte und fristgerecht durch seine rechtsfreundliche Vertretung, die Deserteurs- und Flüchtlingsberatung, in vollem Umfang erhobene Beschwerde. In dieser wurde ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren aufgrund mangelhafter Länderfeststellungen und mangelnder Ermittlungen in Hinblick auf die angebotenen Beweismittel sowie eine Verletzung des Parteiengehörs und eine mangelhafte Beweiswürdigung geltend gemacht.

So habe die belangte Behörde nicht die Beweismittel auf ihre Echtheit überprüft und dem BF nicht die gesamten Länderfeststellungen ausgehändigt. Ebenso sei diese nicht ausreichend auf die Gefährdungslage als Hazara und Schiite in Afghanistan eingegangen. Ebenso sei es den Länderberichten zu entnehmen, dass in Kabul gezielt gegen Mitarbeiter internationaler Organisationen vorgegangen werde. Dies müsse unter der Prämisse betrachtet werden, dass der BF als fluchtauslösenden Grund eine Bedrohung aufgrund seiner Tätigkeit für eine international agierende Universität geltend gemacht habe. Dass diese eine Gefährdungslage nach sich ziehen würde, könne sowohl UNHCR-Richtlinien zu Afghanistan als auch der Rechtsprechung des BVwG entnommen werden.

Im Falle einer Rückkehr des BF müsse auch einfließen, dass ihm in ganz Afghanistan kein ausreichendes soziales Netz zur Verfügung stehen würde und der BF, als im Iran hauptsozialisierter Hazara, der der schiitischen Glaubensrichtung des Islam angehöre, eine erhöhte Vulnerabilität zukomme, um aufgrund der schlechten Sicherheitslage in Afghanistan Diskriminierungen und willkürlichen Übergriffen ausgesetzt zu sein. Außerdem sei die Rückkehrentscheidung im Sinne der gesetzlichen Vorlagen seitens der belangten Behörde nicht nachvollziehbar begründet worden. Ebenfalls wurde das Durchführen einer mündlichen Verhandlung beantragt.

8. Die gegenständliche Beschwerde und der bezugshabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge kurz „BVwG“) am 21.04.2017 vom BFA vorgelegt. Zugleich wurde auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Beschwerdeverhandlung verzichtet.

9. Mit Schreiben vom 29.07.2020 teilte der BF mit, dass er in gegenständlicher Rechtssache Rechtsanwältin Mag.a Julia M. KOLDA mit der rechtsfreundlichen Vertretung bevollmächtigt hat.

10. Aufgrund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des BVwG vom 25.02.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache der Gerichtsabteilung W199 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W177 neu zugewiesen.

11. Mit Schriftsatz vom 27.06.2021 legte die Rechtsvertretung des BF ein Konvolut an integrationsbegründenden Unterlagen vor. Er sei ehrenamtlich tätig geworden und werde im Zuge selbstständiger Tätigkeiten schon als Photograph und Grafikdesigner gebucht. Der BF sei in Afghanistan liberal und ohne religiöse Zwänge erzogen worden und habe sich schon dort der Kunst gewidmet und auch Songtexte verfasst, die er als Rapper vorgetragen habe, wodurch er auch, abseits seiner beruflichen Tätigkeit, lokalen Ruhm erlangt habe. Er könne auch eine Einstellungszusage und Referenzschreiben vorlegen. Ebenso wurde Richtigstellung betreffend die Dauer des Aufenthaltes im Iran und seines Schulbesuches vorgenommen. So sei der BF von 2006 bis 2009 und ab 2011 in Afghanistan aufhältig gewesen.

12. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 29.06.2021 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in welcher der BF, seine rechtsfreundliche Vertretung und ein Zeuge persönlich teilnahmen. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm an dieser Verhandlung, wie bereits in der Beschwerdevorlage angekündigt, nicht teil.

Der BF gab zu Beginn der Verhandlung an, dass er in der Lage sei, der Verhandlung folgen zu können. Es wurde auf die Verlesung der für das Ermittlungsverfahren wesentlichen Aktenteile verzichtet und die Aktenteile seitens des erkennenden Richters zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung und zum Inhalt der heutigen Niederschrift erklärt. Danach erfolgte die vorläufige Beurteilung über die politische und menschenrechtliche Situation in seinem Herkunftsstaat, auch unter der Berücksichtigung von COVID-19. Die Rechtsvertretung des BF bestritt diese und stellte in Aussicht binnen einer erstreckbaren Frist von einer Woche einen ergänzenden Schriftsatz einzubringen.

Danach stellte der BF richtig, dass er Angehöriger der Volksgruppe der Sadat sei. Er sei bis zum Jahr 2011 im Iran gewesen, seine Familie ein Jahr länger. Nachdem der BF Afghanistan verlassen habe, sei seine Familie einige Wochen später in den Iran gezogen. Sein Vater sei seit 2016 in Syrien tätig, wo er iranische Gruppierungen unterstütze.

Nach Verlesung des Schriftsatzes des BF vom 27.06.2021 erfolgte die Erörterung der Sach- und Rechtslage. Er habe bisher immer die Wahrheit gesagt. Er vermeinte, dass die bisher im Verfahren getätigten Angaben der Wahrheit entsprochen hätten und er diesbezüglich keine Ergänzungen und nichts mehr zu korrigieren habe, zumal er bereits auf die Richtigstellungen und Neuigkeiten in seinem Schriftsatz vom 27.06.2021 verwiesen könne. Er sei damals nach Afghanistan zurückgekehrt, weil er auch im Iran keine Perspektive gesehen habe.

Die Rechtsvertretung verweist auf Internetlinks mit Videos über das künstlerische Schaffen des BF in Kabul. Diese musikalischen Tätigkeiten könne auch ein heute anwesender Zeuge bestätigen. Dieser sei afghanischer Staatsangehöriger. Er kenne der BF über eine Freundin, die mit dem BF zusammen in einer Band gewesen sei. In Österreich habe er den BF in einem Asylheim wiedererkannt. Der BF sei aufgrund seiner Musik im Westen von Kabul sehr bekannt gewesen. Dort habe sich seine Universität befunden und würden sich auch viele Iranrückkehrer aufhalten. Diese hätten die Rapmusik nach Afghanistan gebracht. Erst in Österreich habe er erfahren, dass der BF auch fotografieren würde.

Nach Erörterung der Sach- und Rechtslage führte die Rechtsvertretung des BF aus, das seine Fotographien schon veröffentlich worden wären und legte zum Beweis dafür eine Zeitschrift vor. Danach führte der BF konkret gefragt aus, dass er schon in Kabul künstlerische Fotographien gemacht habe und seine Text einen gesellschaftskritischen Inhalt gehabt hätten. Aus diesem Grund sei auch bewusst ein Mädchen in der Band gewesen, weshalb sie einmal nach einer Probe auch mit einem Messer bedroht worden wären.

Nach Vorlage weitere integrationsbegründender Unterlagen wurde festgehalten, dass der BF „durch und durch“ ein typischer Künstler sei. Er sei dies bereits in seinem Heimatland gewesen, wodurch er alleine deswegen schon aus ideologischen Gründen in Schwierigkeiten gerate.

Danach folgte der Schluss der Verhandlung, wobei die Verkündung einer Entscheidung gemäß § 29 Abs. 3 VwGVG entfiel.

13. Am 07.07.2021 legte die Rechtsvertretung des BF einen ergänzenden Schriftsatz und ein Konvolut an Unterlagen vor. In diesem befanden sich auch Bilder des BF, die zeigen, dass er sich für die Gleichberechtigung aller Menschen einsetze und seine Fähigkeiten es ihm ermöglichen würden, gegen eine falsche Kultur zu protestieren. Dies sei auch seinem selbstverfassten Schreiben zu entnehmen, in dem er anführte, dass er sich bereits in Afghanistan durch seine Musik, seinem Interesse für Mode und Musik gegen die Gesellschaftsstrukturen aufgelehnt habe. Dies könnten sowohl seine vorgelegten Bilder als auch die vorgelegten Songtexte sowie Audio- und Videomitschnitte seiner Band darlegen.

Es gäbe zahlreiche Berichte zu Afghanistan, dass Künstler dort besonders gefährdet wären. Aufgrund des stetigen Erstarkens der Taliban und der steigenden Anzahl der gezielten Anschläge auf Zentren der Bildung und der Wissenschaft, sei davon auszugehen, dass der BF im Falle einer Rückkehr einer konkreten Verfolgungsgefahr ausgesetzt wäre, weil er sich insbesondere für Fotographie, Mode und Rapmusik interessiere. Es könne vom BF nicht erwartet werden, dass er sich und seine Kunst verleugnet, zumal dies von einem gläubigen Menschen auch nicht erwartet werden dürfe.

Außerdem müsse berücksichtigt werden, dass sich die Versorgungslage aufgrund der COVID-19-Pandemie weiter verschlechtere und die Sicherheitslage durch den Abzug der internationalen Truppen in naher Zukunft auch nicht stabiler werden würde. Ebenso sei der BF als verwestlichter Rückkehrer Angehöriger einer Personengruppe, die einer größeren Vulnerabilität ausgesetzt wären.

14. Der BF legte im Verlauf des Verfahrens folgende Unterlagen vor:

?        Afghanische Tazkira

?        Drohbrief samt ministerieller Bestätigung über den Erhalt des Drohbriefes

?        Zwei Dienstausweise

?        Bilder, die den Vater des BF zeigen

?        Teilnahmebestätigungen an diversen Deutschkursen

?        Teilnahmebestätigung an einem Werte- und Orientierungskurs

?        Zahlreiche Referenz- und Empfehlungsschreiben

?        Fotos, die den BF bei Laufveranstaltungen zeigen

?        Ausdrucke der Internetseite einer Universität in Kabul

?        Einstellungszusage

?        Eine Zeitschrift, in der Fotographien des BF veröffentlicht wurden

?        Abrechnungen von Schecks nach der Durchführung von gemeinnützigen Tätigkeiten

?        ÖSD-Zertifikat A2 und Prüfungszeugnis Deutsch B1

?        Zeugnis über die Pflichtschulabschluss-Prüfung

?        Afghanisches Zeugnis

?        Teilnahmebestätigungen an zahlreichen Bildungs- und Integrationskursen

?        Zahlreiche Unterstützung- und Empfehlungsschreiben

?        Zahlreiche Fotographien des BF

?        Schriftliche Stellungnahme des BF über seine künstlerischen Aktivitäten in Kabul

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der Einsichtnahme in die bezughabenden Verwaltungsakten, der mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister und Strafregister werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person und zu den Fluchtgründen des BF:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren. Der Beschwerdeführer ist Staatsbürger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Sadat an und ist Angehöriger der schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Der BF wurde im Iran geboren, wo er bis zu seinem dreizehnten Lebensjahr aufhältig gewesen ist und auch sieben Jahre in die Schule ging. Danach hat er sich für drei Jahre in Afghanistan aufgehalten, wo er auch maturiert hat. Nach einem weiteren zweijährigen Aufenthalt im Iran ist der BF wieder nach Afghanistan zurückgekehrt, wo er in Kabul gelebt hat. Dort war er als Grafikdesigner und Fotograph tätig und unter anderen an einer Universität angestellt. Er interessierte sich für Mode und machte Rapmusik in einer Band. Mit dieser Band erlangte er einen Bekanntheitsgrad im Westen Kabuls. Die Band veröffentliche ihre Lieder und dazugehörige Videos auch im Internet. Der BF reiste danach aus Afghanistan aus und gelangte in der Folge im Laufe des Jahres 2015 nach Europa, wo er in Österreich am 24.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

Die Familienangehörigen des BF, unter ihnen seine Eltern, seinem Bruder sowie seinen drei Schwestern, halten sich allesamt außerhalb Afghanistans auf. Abgesehen vom Vater des BF, der seit 2016 in Syrien lebt, halten sich alle Angehörigen im Iran auf. Zu in Afghanistan lebenden weitschichtigen Verwandten hat der BF keinen Kontakt mehr. Der BF ist ledig und hat keine Kinder.

Der BF wuchs im Iran und in Afghanistan als schiitischer Muslim in einem liberalen Elternhaus auf. Im Zuge seines Aufenthaltes in Kabul, wo er sich in einem Stadtteil in dem sich viele Iranrückkehrer aufhalten, niedergelassen hat, hat der BF als Grafikdesigner und Fotograph gearbeitet. Der BF hat schon in Kabul künstlerische Fotographien gemacht.

Er hat auch mit seiner Band die Rapmusik aus dem Iran in den Westen Kabuls gebracht und dort durch seine musikalische Tätigkeit einen Bekanntheitsgrad erreicht. Es wurden Songtexte verfasst, die einen gesellschaftskritischen Inhalt gehabt haben. Aus Gründen der Gesellschaftskritik ist auch ein Mädchen in der Band gewesen. Es existieren im Internet hochgeladene Fotographien des BF und Songtexte sowie Audio- und Videomitschnitte seiner Band. Diesen ist zu entnehmen, dass sich der BF für die Gleichberechtigung aller Menschen einsetzt und er mit seinen künstlerischen Fähigkeiten gegen eine falsche Kultur protestiert. Der BF hat sich bereits in Afghanistan durch seine Musik, seinem Interesse für Mode und Musik gegen die dortigen Gesellschaftsstrukturen aufgelehnt.

Er ist bereits in seinem Heimatland künstlerisch gewesen, wodurch er alleine deswegen schon aus ideologischen Gründen im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan in Schwierigkeiten geraten würde.

Dem BF droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan als gesellschaftskritischer Künstler, insbesondere aufgrund seiner Tätigkeit als Fotograph und als Rapmusiker, physische und/oder psychische Gewalt, gegen die kein ausreichender staatlicher Schutz zur Verfügung steht.

Dem BF steht als gesellschaftskritischer Künstler, insbesondere aufgrund seiner Tätigkeit als Fotograph und als Rapmusiker, keine innerstaatliche Fluchtalternative offen.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich aktuell strafgerichtlich unbescholten.

Festgestellt wird, dass der BF in Afghanistan keiner landesweiten Verfolgung wegen der bloßen Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Sadat oder religiösen Minderheit der Schiiten ausgesetzt ist.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Aufgrund der im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 16.12.2020 in den Aktualisierungen vom 02.04.2021 und 16.06.2021 (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):

Länderspezifische Anmerkungen

Das genaue Ausmaß der COVID-19-Krise in Afghanistan ist unbekannt. In der vorliegenden Länderinformation erfolgt lediglich ein Überblick und keine erschöpfende Berücksichtigung der aktuellen COVID-19-PANDEMIE, weil die zur Bekämpfung der Krankheit eingeleiteten oder noch einzuleitenden Maßnahmen ständigen Änderungen unterworfen sind. Besonders betroffen von kurzfristigen Änderungen sind Lockdown-Maßnahmen, welche die Bewegungsfreiheit einschränken und damit Auswirkungen auf die Möglichkeiten zur Ein- bzw. Ausreise aus / in bestimmten Ländern und auch Einfluss auf die Reisemöglichkeiten innerhalb eines Landes haben kann.

Insbesondere können zum gegenwärtigen Zeitpunkt seriöse Informationen zu den Auswirkungen der Pandemie auf das Gesundheitswesen, auf die Versorgungslage sowie generell zu den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und anderen Folgen nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden.

Die hier gesammelten Informationen sollen daher die Lage zu COVID-19 in Afghanistan zum Zeitpunkt der Berichtserstellung (3.2021) wiedergeben. Es sei zu beachten, dass sich bestimmte Sachverhalte (zum Beispiel Flugverbindungen bzw. die Öffnung und Schließung von Flughäfen oder etwaige Lockdown-Maßnahmen) kurzfristig ändern können.

Diese Informationen werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert. Zusätzliche Informationen zu den einzelnen Themengebieten sind den jeweiligen Kapiteln zu entnehmen.

COVID-19

Letzte Änderung: 10.06.2021

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19-Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; vgl. IOM 18.3.2021).

Die WHO äußerte ihre Besorgnis über die Gefahr der Verbreitung mutierter Viren in Afghanistan. In Pakistan ist bereits ein deutlicher Anstieg der Infektionen mit einer neuen Variante, die potenziell ansteckender ist und die jüngere Bevölkerung trifft, festgestellt worden. Das afghanische Gesundheitsministerium bereite sich auf eine potenzielle dritte Welle vor. Die Überwachung an der Grenze soll ausgeweitet und Tests verbessert werden. Angesichts weiterer Berichte über unzureichende Testkapazitäten im Land bleibt die Wirkung der geplanten Maßnahmen abzuwarten (BAMF 29.3.2021).

Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. TG 25.5.2021, DW 21.5.2021, UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Woche nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID-19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gesprochen (UNOCHA 3,6,2021; vgl. TG 25.5.2021). Waren die [Anm.: offiziellen] Zahlen zwischen Februar und März relativ niedrig, so stieg die Anzahl zunächst mit April und dann mit Ende Mai deutlich an (WHO 4.6.2021; vgl. TN 3.6.2021, UNOCHA 3.6.2021). Es gibt in Afghanistan keine landeseigenen Einrichtungen, um auf die aus Indien stammende Variante zu testen (UNOCHA 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Mit Stand 3.6.2021 wurden der WHO offiziell 75.119 Fälle von COVID-19 gemeldet (WHO 3.6.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).

Maßnahmen der Regierung und der Taliban

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. "Rapid Response Teams" (RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt. Sogenannte "Fix-Teams" sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID-19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020). Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).

Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren. Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021). Auch wenn der Lockdown offiziell nie beendet wurde, endete dieser faktisch mit Juli bzw. August 2020 und wurden in weiterer Folge keine weiteren Ausgangsperren erlassen (ACCORD 25.5.2021).

Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März 2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).

Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).

Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion "unterstützen und erleichtern" (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021), wenn der Impfstoff in Abstimmung mit ihrer Gesundheitskommission und in Übereinstimmung mit deren Grundsätzen eingesetzt wird (NH 7.4.2021). Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).

Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Das Gesundheitsministerium plant 2.200 Einrichtungen im ganzen Land, um Impfstoffe zu verabreichen, und die Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen, die in Taliban-Gebieten arbeiten (NH 7.4.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a). Um dies zu erreichen, müssen sich die Gesundheitsbehörden sowohl auf lokale als auch internationale humanitäre Gruppen verlassen, die dorthin gehen, wo die Regierung nicht hinkommt (NH 7.4.2021).

Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021). Wochen nach Beginn der ersten Phase der Einführung des Impfstoffs gegen COVID-19 zeigen sich in einige Distrikten die immensen Schwierigkeiten, die das Gesundheitspersonal, die Regierung und die Hilfsorganisationen überwinden müssen, um das gesamte Land zu erreichen, sobald die Impfstoffe in größerem Umfang verfügbar sind. Hilfsorganisationen sagen, dass 120 von Afghanistans rund 400 Distrikten - mehr als ein Viertel - als "schwer erreichbar" gelten, weil sie abgelegen sind, ein aktiver Konflikt herrscht oder mehrere bewaffnete Gruppen um die Kontrolle kämpfen. Ob eine Impfkampagne erfolgreich ist oder scheitert, hängt oft von den Beziehungen zu den lokalen Befehlshabern ab, die von Distrikt zu Distrikt sehr unterschiedlich sein können (NH 7.4.2021).

Mit Stand 2.6.2021 wurden insgesamt 626.290 Impfdosen verabreicht (WHO 4.6.2021; vgl UNOCHA 3.6.2021). Etwa 11% der Geimpften haben beide Dosen des COVID-19-Impfstoffs erhalten. Insgesamt gibt es nach wie vor große Bedenken hinsichtlich des gerechten Zugangs zu Impfstoffen für Afghanen, insbesondere für gefährdete Gruppen wie Binnenvertriebene, Rückkehrer und nomadische Bevölkerungsgruppen sowie Menschen, die in schwer zugänglichen Gebieten leben (UNOCHA 3.6.2021).

Gesundheitssystem und medizinische Versorgung

COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).

Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021). Mit Mai 2021 wird vor allem von einem starken Mangel an Sauerstoff berichtet (TN 3.6.2021; vgl. TG 25.5.2021).

Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021). Seit Mai 2021 sind 28 Labore in Afghanistan in Betrieb - mit Plänen zur Ausweitung auf mindestens ein Labor pro Provinz. Die nationalen Labore testen 7.500 Proben pro Tag. Die WHO berichtet, dass die Labore die Kapazität haben, bis zu 8.500 Proben zu testen, aber die geringe Nachfrage bedeutet, dass die Techniker derzeit reduzierte Arbeitszeiten haben (UNOCHA 3.6.2021).

In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen. Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen. Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020) wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).

Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten. Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).

Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt

COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 3.6.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die kürzlich veröffentlichte IPC-Analyse schätzt, dass sich im April 2021 12,2 Millionen Menschen - mehr als ein Drittel der Bevölkerung - in einem Krisen- oder Notfall-Niveau der Ernährungsunsicherheit befinden (UNOCHA 3.6.2021; vgl. IPC 22.4.2021). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis...) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020). Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).

Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert: Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).

Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID-19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).

Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020). Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).

Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch langanhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).

Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2021 um mehr als 5% geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).

Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).

Nach Erkenntnissen der WHO steht Afghanistan [Anm.: mit März 2021] vor einer schleppenden wirtschaftlichen Erholung inmitten anhaltender politischer Unsicherheiten und einem möglichen Rückgang der internationalen Hilfe. Das solide Wachstum in der Landwirtschaft hat die afghanische Wirtschaft teilweise gestützt, die im Jahr 2020 um etwa zwei Prozent schrumpfte, deutlich weniger als ursprünglich geschätzt. Schwer getroffen wurden aber der Dienstleistungs- und Industriesektor, wodurch sich die Arbeitslosigkeit in den Städten erhöhte. Aufgrund des schnellen Bevölkerungswachstums ist nicht zu erwarten, dass sich das Pro-Kopf-Einkommen bis 2025 wieder auf das Niveau von vor der COVID-19-Pandemie erholt (BAMF 12.4.2021).

Frauen, Kinder und Binnenvertriebene

Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete im März 2020 an, alle Schulen zu schließen (IOM 23.9.2020; vgl. ACCORD 25.5.2021), wobei diese ab August 2020 wieder stufenweise geöffnet wurden (ACCORD 25.5.2021). Angesichts einer zweiten COVID-19-Welle verkündete die Regierung jedoch Ende November die abermalige Schließung der Schulen (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021) wobei diese im Laufe des ersten Quartals 2021 wieder geöffnet wurden (SIGAR 30.4.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021, UNICEF 4.5.2021). Im Oktober 2020 berichtete ein Beamter, dass 56 Schüler und Lehrer in der Provinz Herat positiv getestet wurden (von 386 Getesteten). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Ende Mai 2021 wurde berichtet, dass in 16 Provinzen aufgrund steigender Fallzahlen für 14 Tage die Schulen geschlossen würden (BAMF 31.5.2021).

Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, waren nun auch anfälliger für Rekrutierung durch die Konfliktparteien (IPS 12.11.2020; vgl. UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). In den ersten Monaten des Jahres 2021 wurde im Durchschnitt eines von drei Kindern in Afghanistan außer Haus geschickt, um zu arbeiten. Besonders außerhalb der Städte wurde ein hoher Anstieg der Kinderarbeit berichtet (IOM 18.3.2021; vgl. ACCORD 25.5.2021). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (UNOCHA 19.12.2020; vgl. IPS 12.11.2020, UNAMA 10.8.2020, ACCORD 25.5.2021). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (ACCORD 25.5.2021; vgl. AI 3.2021, HRW 13.1.2021, UNOCHA 19.12.2020). Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (AI 3.2021; vgl. HRW 13.1.2021, Martins/Parto 11.2020, AAN 1.10.2020).

Binnenvertriebene sind besonders gefährdet, sich mit COVID-19 anzustecken, da sie bereits vorher anfällig waren, es keine Gesundheitseinrichtungen gibt, die Siedlungen überfüllt sind und sie nur begrenzten Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen haben. Aufgrund ihrer schlechten Lebensbedingungen sind die vertriebenen Gemeinschaften nicht in der Lage, Präventivmaßnahmen wie soziale Distanzierung und Quarantäne zu praktizieren und sind daher anfälliger für die Ansteckung und Verbreitung des Virus (AI 3.2021).

Bewegungsfreiheit

Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei später alle Grenzübergänge geöffnet wurden (IOM 18.3.2021). Seit dem 29.4.2021 hat die iranische Regierung eine unbefristete Abriegelung mit Grenzschließungen verhängt (UNOCHA 3.6.2021; vgl. AnA 29.4.2021). Die Grenze bleibt nur für den kommerziellen Verkehr und die Bewegung von dokumentierten Staatsangehörigen, die nach Afghanistan zurückkehren, offen. Die Grenze zu Pakistan wurde am 20.5.2021 nach einer zweiwöchigen Abriegelung durch Pakistan wieder geöffnet (UNOCHA 3.6.2021).

Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).

IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020). Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021). Mit Stand 25.5.2021 ist das Projekt Restart III weiter aktiv und Teilnehmer melden sich (IOM AUT 25.5.2021).

0.       Vergleichende Länderkundliche Analyse (VLA) i.S. §3 Abs 4a AsylG

Erläuterung

Bei der Erstellung des vorliegenden LIB wurde die im §3 Abs 4a AsylG festgeschriebene Aufgabe der Staatendokumentation zur Analyse „wesentlicher, dauerhafter Veränderungen der spezifischen, insbesondere politischen Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind“, berücksichtigt. Hierbei wurden die im vorliegenden LIB verwendeten Informationen mit jenen im vorhergehenden LIB abgeglichen und auf relevante, im o.g. Gesetz definierte Verbesserungen hin untersucht.

Als den oben definierten Spezifikationen genügend eingeschätzte Verbesserungen wurden einer durch Qualitätssicherung abgesicherten Methode zur Feststellung eines tatsächlichen Vorliegens einer maßgeblichen Verbesserung zugeführt (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt II). Wurde hernach ein tatsächliches Vorliegen einer Verbesserung i.S. des Gesetzes festgestellt, erfolgte zusätzlich die Erstellung einer entsprechenden Analyse der Staatendokumentation (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt IV) zur betroffenen Thematik.

Verbesserung i.S. §3 Abs 4a AsylG:

Ein Vergleich der Informationen zu asylrelevanten Themengebieten im vorliegenden LIB mit jenen des vormals aktuellen LIB hat ergeben, dass es zu keinem wie im §3 Abs 4a AsylG beschriebenen Verbesserungen in Afghanistan gekommen ist.

1.2.1. Politische Lage

Letzte Änderung: 11.06.2021

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 1.10.2020). Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 1.6.2020) bis 39 Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004; vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).

Die Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).

Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga, dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Distrikträten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021) und mindestens zwei Frauen sollen aus jeder Provinz gewählt werden (insgesamt 68) (USDOS 30.3.2021).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlichen kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Gleichzeitig werden aber die verfassungsmäßigen Rechte genutzt, um die Arbeit der Regierung gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über lange Zeiträume zu blockieren, und einzelne Abgeordnete lassen sich ihre Zustimmung mit Zugeständnissen - wohl auch finanzieller Art - belohnen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).

Politische Parteien und Wahlen

Letzte Änderung: 11.06.2021

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 12.5.2021). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen auf Basis ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004, USDOS 20.6.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.1.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.7.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.7.2020; vgl. DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.7.2020).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).

Wahlen

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 30.3.2021). Es ist geplant, die Wahlen in Ghazni im Oktober 2021 nachzuholen (AT 19.12.2020; vgl. TN 19.12.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.9.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 30.3.2021, AA 1.10.2020).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Letzte Änderung: 11.06.2021

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). 2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020a) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020a). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht-amerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa Al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020a). Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der afghanischen Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der afghanischen Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten, und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).

Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwisch

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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