Entscheidungsdatum
12.08.2021Norm
AsylG 2005 §11Spruch
W159 2238753-1/13E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Clemens KUZMINSKI als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geboren XXXX , Staatsangehöriger von Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.11.2020, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 17.06.2021 zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX
gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 leg. cit. wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer, ein unbegleiteter Minderjähriger Staatsbürger Afghanistans, gelangte am 02.03.2020 irregulär nach Österreich und stellte am 04.03.2020 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 05.03.2020 wurde er von der Landespolizeidirektion XXXX , Abteilung Fremdenpolizei einer Erstbefragung nach dem Asylgesetz unterzogen, wobei er zu den Fluchtgründen ausführte, dass sein älterer Bruder Mitglied der Afghanischen Polizei sei und aus diesem Grund seine Familie von den Taliban mit dem Tod bedroht worden sei. Sein Vater habe um ihn und seinen Bruder XXXX Angst gehabt, darum habe er beide weggeschickt. Er habe jedoch seinen Bruder auf der Flucht verloren. Bei einer Rückkehr fürchte er den Tod durch die Taliban.
Nach Zulassung zum Asylverfahren erfolgte ein am 01.07.2020 eine Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich. Eingangs der Einvernahme verwies der Beschwerdeführer darauf hin, dass sein (älterer) Bruder in XXXX lebe und über einen Konventionsreisepass verfüge. Er gehe regelmäßig zum Freitagsgebet in die Moschee. Sonst sei er mit seinen Freunden unterwegs, spiele Fußball und treibe Sport. Er habe wohl Magenbeschwerden gehabt und sei im Landesklinikum XXXX in Behandlung gewesen. Nun gehe es ihm aber gut. Er möchte die Deutsche Sprache erlernen und einen technischen Beruf erlernen. Er wies darauf hin, dass sein richtiger Vorname XXXX sei, er sei Afghanischer Staatsbürger, sei weder verlobt noch habe er Kinder und gehöre der Paschtunischen Volksgruppe sowie der sunnitischen Religion an. Er sei 16 Jahre alt und sei in der Provinz Laghman geboren. Sein genaues Geburtsdatum wisse er nicht. In Afghanistan habe er bis zur achten Klasse die Schule besucht, dann habe er in der Landwirtschaft gearbeitet. Seine Familie habe landwirtschaftliche Grundstücke gepachtet gehabt. Seine Familienangehörigen würden sich in der Provinz Laghman im Distrikt XXXX im Dorf XXXX aufhalten. Sein Vater sei krank, leide unter Blutkrebs. Sein älterer Bruder, der Lehrer an der Polizeiakademie sei, sorge für die Familie. Sein Vorname sei XXXX . Außerdem habe er noch weitere Familienangehörige und Verwandte im Dorf. Die finanzielle Situation seiner Familie sei nicht besonders gut, er habe mit seiner Familie regelmäßigen Kontakt. Er sei im Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Laghman geboren und aufgewachsen und habe sich dort auch bis zur Ausreise aufgehalten. Sein jüngerer Bruder gehe in die Schule, sein älterer Bruder arbeite als Lehrer in der Polizeischule und ein weiterer Bruder namens XXXX sei mit ihm unterwegs gewesen, aber er habe ihn an der iranisch-türkischen Grenze aus den Augen verloren.
Gefragt zu den Fluchtgründen gab er an, dass die Taliban die Familie aufgrund der Tätigkeit seines Bruders an der Polizeiakademie gewarnt habe und sie auch Drohbriefe in das Haus geworfen haben. Auch hat ein anderer Bruder, der jetzt in XXXX lebe, die gleichen Probleme gehabt. Sein Vater sei sehr besorgt gewesen und habe ihm und seinen Bruder XXXX weggeschickt. Persönlich sei er nicht persönlich bedroht worden, er habe allerdings auch das Haus nicht oft verlassen. Sein Bruder, der an der Polizeiakademie lehre, sei dort durch seine Arbeit geschützt und sein jüngerer Bruder sei noch sehr klein, dass er nicht so sehr in Gefahr sei. Sahabaz und er seien jedoch in einem gefährdeten Alter gewesen und hätten sie Angst gehabt von den Taliban mitgenommen zu werden. Ca. ein Jahr vor der Ausreise hätten die Taliban Drohbriefe in das Haus geworfen. Sein Vater sei sehr besorgt gewesen und habe dann begonnen, das Geld für die Ausreise aufzutreiben, aber das habe einige Zeit gedauert. Sein Vater habe ihm aber die Drohbriefe nicht gezeigt und habe auch nicht im Detail mit ihm darüber sprechen wollen. Er habe ihnen aber gesagt, dass sie in Gefahr geraten würden, wenn sie weiterhin in Afghanistan bleiben würden. Sein Bruder, der als Asylberechtigter in XXXX lebe, habe die gleichen Probleme gehabt. Das Land XXXX , das zuständige Jugendwohlfahrtsträger, bevollmächtigte namentlich genannte Mitarbeiter der XXXX mit der gesetzlichen Vertretung des Beschwerdeführers.
Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.11.2020, Zl. XXXX wurde unter Spruchpunkt I. der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen, jedoch unter Spruchteil II. der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und unter Spruchteil III. eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr erteilt.
In der Begründung des Bescheides wurde der bisherige Verfahrensgang einschließlich der bereits im wesentlichen Inhalt wiedergegebenen Einvernahmen dargestellt und Feststellungen zum Herkunftsstaat getroffen, sowie zur Person des Beschwerdeführers. Beweiswürigend wurde insbesondere ausgeführt, dass der Beschwerdeführer keineswegs in der Lage gewesen sei, die Behörde davon zu überzeugen, dass ihm in seinem Heimatland Gefahr oder Verfolgung drohe. Es sei auch nicht nachvollziehbar, dass man nach einem Erhalt eines Drohbriefes noch ein Jahr mit der Ausreise zuwarte und hätte in erster Linie sein Bruder, der eigentlich im Fokus der Taliban stehe, ausreisen müssen. Dieser lebe jedoch nach wie vor in Afghanistan. Auch wenn sein Bruder XXXX aufgrund eines ähnlichen Vorfalles der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden sei, sei sein Ausreisegrund individuell zu betrachten gewesen und sei das Bundesamt keineswegs zu dem Ergebnis gelangt, dass der Beschwerdeführer aufgrund begründeter Flucht vor Verfolgung aus Afghanistan ausgereist sei.
Zu Spruchpunkt I. wurde rechtlich ausgeführt, dass im vorliegenden Fall keine konkret gegen die Person des Antragstellers gerichtete Verfolgungsgefahr aus den in den GFK genannten Gründen glaubhaft vorgebracht worden sei. Auch handle es sich bei der Verfolgung durch die Taliban nicht um eine dem Staat zurechenbare Verfolgung, sondern um eine private Auseinandersetzung und sei aus den herangezogenen Länderinformationen auch nicht ersichtlich, dass die staatlichen Organisationen in Afghanistan im gesamten Staatsgebiet bei einer Verfolgung durch die Taliban weder schutzfähig- noch schutzwillig wären. Vielmehr stelle gerade der mit militärischen Mitteln geführte Kampf gegen die Taliban die prioritäre Aufgabe der afghanischen Sicherheitskräfte dar. Die Behröde sei daher nach eingehender Würdigung des Vorbringens zur Ansicht gelangt, dass dem Beschwerdeführer im Herkunftsstaat keine Verfolgung drohe.
Zu Spruchpunkt II. wurde hingegen ausgeführt, dass die Behörde von einer realen Gefahr oder Bedrohung im Sinne des § 8 AsylG ausgehe und der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat somit mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer realen Gefahr ausgesetzt wäre, in dem Recht nach § 3 EMRK verletzt zu werden (Spruchpunkt II.). Deswegen sei auch eine befristete Aufenthaltsberechtigung nach § 8 Abs. 4 AsylG zu erteilen gewesen (Spruchpunkt III.)
Gegen diesen Bescheid erhob der Antragsteller, gesetzlich vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft XXXX , Kinder- und Jugendhilfe, diese vertreten durch namentlich genannte Mitarbeiter der XXXX , fristgerecht Beschwerde gegen Spruchteil I. In der Beschwerde wurde zunächst zusammenfassend der Sachverhalt dargelegt und hinsichtlich der Person des Beschwerdeführers wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer seine Tazkira mit Foto als Nachweis seiner Identität vorgelegt habe, daher seine Identität feststehe, auch seinen Namen hätte auf XXXX korrigiert werden müssen. Der Beweiswürdigung wurde entgegengehalten, dass sein Bruder, der für die Polizei arbeite, aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit unter dem Schutz des Sicherheitsapparates stehe, dieser Schutz komme jedoch dem Beschwerdeführer und seinem Bruder XXXX nicht zu. Auch sei aus den gleichen Gründen dem Beschwerdeführer bereits seinen älteren Bruder XXXX der Status eines Asylberechtigten zuerkannt worden. Weiters falle der Beschwerdeführer nach den UNHCR-Richtlinien als Familienangehöriger von Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft verbunden seien unter Risikoprofil, das mit besonderen internationalem Schutzbedarf verbunden sei. Die Behörde hätte auch bei der Beweiswürdigung berücksichtigen müssen, dass es sich bei dem Beschwerdeführer um einen 17 Jahre alten Jugendlichen handle, der zum Zeitpunkt der vorgefallenen Ereignisse erst 15 Jahre alt gewesen sei und hätte die Behörde bei der Beweiswürdigung auch auf das jugendliche Alter des Beschwerdeführers eingehen müssen. Die Behörde habe daher ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren unterlassen und liege bei dem Beschwerdeführer der Konventionsgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie vor. Bei richtiger Gesetzesanwendung hätte die Behörde daher zum Schluss kommen müssen, dass dem minderjährigen Beschwerdeführer asylrelevante Verfolgung in seinem Heimatland drohe und handle es sich bei ihm ohnedies um eine besonders vulnerable Person. Schließlich wurde auch die Anberaumung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung durch ein unabhängiges und unparteiisches Gericht ausdrücklich beantragt. Angeschlossen wurde eine Kopie der Niederschrift der Einvernahme seines Bruders XXXX in seinem Asylverfahren sowie der Zuerkennungsbescheid.
Das Bundesverwaltungsgericht führte am 17.06.2021 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, zu der eine Mitarbeiterin der XXXX , als gesetzliche Vertreterin erschien, während sich die belangte Behörde für ihr Nichterscheinen entschuldigte. Verlesen wurden die der Beschwerde angeschlossenen Einvernahmeprotokolle des Bruders XXXX , sowie dessen positiver Asyl-Zuerkennungsbescheid. Weiters legte der Beschwerdeführer seine Original-Tazkira vor, welche von der Dolmetscherin übersetzt wurde. Daraus ergibt sich der Richtige Vorname XXXX und das Alter „aufgrund des Äußeren Erscheinungsbildes“ von 10 Jahren im Zeitraum XXXX (was mit dem von der Behörde angenommenen Geburtsdatum XXXX durchaus vereinbart werden kann).
Der Beschwerdeführer hielt sein bisheriges Vorbringen aufrecht und wollte nichts ergänzen oder korrigieren. Er sei Paschtune und sunnitischer Moslem und gehöre der Untervolksgruppe der Kuchis an und übe seine Religion in Österreich auch aus. Sein genaues Geburtsdatum kenne er nicht. Er sei in Afghanistan in der Provinz Laghman geboren und habe von seiner Geburt bis zur Ausreise in der Provinz Laghman im Distrikt XXXX im Dorf XXXX gelebt. Dort habe er auch acht Jahre lang die Schule besucht. Sein Vater habe in der Landwirtschaft gearbeitet, sie hätten ein- bis zwei Felder selbst gehabt und weitere Grundstücke gepachtet. Seine Familie habe sowohl Ackerbau als auch Viehzucht betrieben. Sie hätten zu den sesshaften Kuchis gezählt. Er selbst habe seinem Vater in der Landwirtschaft geholfen und seine Eltern würden nach wie vor in seinem Heimatdorf leben. Er habe vier Schwestern, zwei seien verheiratet und zwei noch zuhause. Weiters habe er vier Brüder. Sein ältester Bruder sei Polizist. Ein Bruder sei gemeinsam mit ihm aus Afghanistan ausgereist. Sie hätten sich jedoch aus den Augen verloren und wisse er nunmehr, dass er sich in der Türkei aufhalte. Sein jüngster Bruder sei noch zuhause. Sein ältester Bruder sei Lehrer an der Polizeiakademie. Sein Rang sei Oberleutnant. Gefragt nach seiner Ausbildung gab er an, dass er damals noch klein gewesen sei, aber sein Bruder sei auf einer Akademie gewesen. Sein ältester Bruder habe auch Probleme und deshalb habe die ganze Familie Probleme, Frauen jedoch weniger als die Männer. Sie hätten wegen seines älteren Bruders Briefe der Taliban bekommen. Sein Vater habe diese Briefe gefunden und sie seien alle gefährdet gewesen. Sein Vater habe ihnen damals die Briefe nicht gezeigt, nunmehr wisse er jedoch, was in den Briefen stehe. Sein Vater sei aufgefordert worden, seine Söhne aus der Armee zu nehmen, andererseits wäre die gesamte Familie einer Gefahr ausgesetzt. Die Beschwerdeführervertreterin legte eine (schlecht lesbare) Kopie des Drohbriefes vor, wobei die Dolmetscherin ersucht wurde, eine Übersetzung des Briefes zu versuchen.
Nur sein ältester Bruder sei beim Militär. Er selbst habe mit staatlichen Behörden in Afghanistan keine Probleme gehabt. Die Taliban hätten wohl seinen Bruder und ihn mitnehmen wollen, deswegen seien auch die Briefe auch ins Haus geworfen worden. Sie seien beide in Gefahr gewesen. Persönlich angesprochen sei er jedoch von den Mitgliedern der Taliban nicht worden. Er habe auch keine Drohanrufe bekommen. Wann die Drohbriefe gekommen sind, könne er auch nicht genau sagen. Es sei etwa ein Jahr vor der Ausreise gewesen. Sie hätten jedoch nicht genug Geld gehabt, gleich auszureisen. Wegen der Arbeit seines Bruders hätten sie diese Drohbriefe bekommen. Auch sein Bruder, der jetzt in Österreich lebe, sei in Gefahr gewesen. Er sei zuerst noch zu klein gewesen, dann sei er älter geworden und die Gefahr sei für ihn größer geworden. Auch hätten die Leute in ihrer Umgebung schlecht über sie gesprochen und sie erniedrigt, da sie behauptet hätten, dass der in Europa lebende Bruder ungläubig geworden sei. Auch sein ältester Bruder, der Lehrer an der Polizeiakademie sei, habe Briefe erhalten, aber er habe in einem Stützpunkt gelebt und sei nicht zuhause gewesen. Früher sei er etwa einmal in der Woche nachhause gekommen, aber jetzt, wo sich die Lage in Laghman verändert habe, und die Taliban erstärkt seien, sei er nur mehr auf dem Stützpunkt.
Sein in Österreich lebender Bruder habe mit jenem Bruder, der nunmehr in der Türkei lebe, Kontakt und telefoniere auch manchmal mit ihm. Auch mit seinem ältesten Bruder in Afghanistan habe er Kontakt. Dieser habe ihm gesagt, dass die Lage in Laghman sehr schlecht sei, sich ständig verschlechtere. Gefragt, ob die in Laghman lebenden Familienmitglieder konkrete Probleme hätten, gab er an, dass die Taliban mit den Frauen wenig zu tun hätten. Sein Vater sei krank und sein jüngster Bruder sei noch klein und minderjährig. Dieser sei derzeit ca. 14 Jahre. Mit seinem älteren Bruder XXXX habe er eine gute Beziehung. Er unterstütze ihn. Er zeige ihm die Wege. Sein Bruder habe lange in Österreich gearbeitet. Derzeit sei er auf Arbeitssuche. Er selbst lebe in einem Flüchtlingsquartier in XXXX und sein Bruder in XXXX . Er habe keine schweren Erkrankungen, leide jedoch gelegentlich unter Magenbeschwerden. Er besuche einen Deutschkurs auf dem Niveau A1 und trainiere in der Asylunterkunft. Gefragt nach den Rückkehrbefürchtungen, gab er an, dass er dort in Afghanistan mit dem Tod konfrontiert würde. Gefragt nach seinen Plänen in Österreich, gab er an, dass er viel lernen müsse und eine Lehre machen möchte. Er möchte sich hier ein Leben aufbauen. Sein Bruder, der nach Österreich gekommen sei, habe die selben Fluchtgründe gehabt.
Schließlich wurde der aktuelle Strafregisterauszug des Beschwerdeführers, in dem keine Verurteilung aufscheint, verlesen und den Verfahrensparteien das akutelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan (soweit verfahrensrelevant) unter Einräumung einer Frist von zwei Wochen zur Abgabe einer Stellungnahme übermittelt.
Von der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme machte der minderjährige Beschwerdeführer durch seine gesetzliche Vertretung Gebrauch, wobei nochmals auf die Asylrelevanz der Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie hingewiesen wurde und weiters, dass auch Familienmitglieder von Regierungsmitarbeitern zum Ziel regierungsfeindlicher Kräfte geworden seien. Weiters wurde ausführlich auf die Rekrutierungsstrategie der Taliban sowie den zunehmenden Einfluss der Taliban in Afghanistan und die sich verschlechternde Sicherheitslage eingegangen.
Schließlich langte auch die Übersetzung des Drohbriefes ein, aus dem unterschwellige Drohungen gegen die gesamte Familie des Beschwerdeführers wegen der Tätigkeit seines älteren Bruders bei der Polizei, sowie die Aufforderung sich den Taliban anzuschließen, zu entnehmen sind.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat wie folgt festgestellt und erwogen:
1. Feststellungen:
Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer ist Staatsbürger von Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Paschtunen und der Untervolksgruppe der Kuchis an und ist Moslem, Sunnit. Er übt seine Religion in Österreich auch aus. Sein richtiger Name ist XXXX , seine Identität steht aufgrund der vorgelegten Tazkira fest. Das von der Behörde angenommene Geburtsdatum XXXX ist auch in Anbetracht der Tazkira plausibel. Der Beschwerdeführer wurde im Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Laghman geboren, hat dort auch bis zur Ausreise gelebt. Seine Familie hat Landwirtschaft, zum Teil auf eigenen, zum Teil auf gepachteten Grundstücken betrieben und zwar sowohl Viehzucht, als auch Ackerbau. Sie gehören zu den sesshaften Kuchis. Der Beschwerdeführer besuchte acht Jahre lang die Schule und hat nebenbei seinen Eltern in der Landwirtschaft geholfen. Sein Vater ist schwer krank, er leidet unter Krebs. Sein ältester Bruder XXXX arbeitet als Lehrer an der Polizeiakademie. Sein Rang ist Oberleutnant. Er hält sich nur mehr auf dem Polizeistützpunkt auf, wo er geschützt ist, denn er wurde massiv von den Taliban bedroht und unterliegt einer hohen Gefährdung. Wegen der Tätigkeit seines Bruders ist auch sein nächstjüngerer Bruder XXXX , geb. XXXX , nach Österreich geflohen und wurde ihm mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.03.2016, Zl. XXXX , die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.
Auch der Beschwerdeführer wurde – zumindest indirket – durch Drohbriefe der Taliban bedroht, wenn er auch nicht persönlich von den Taliban angesprochen wurde und auch nicht versucht wurde, den Beschwerdeführer zu entführen. Er hat gemeinsam mit seinem Bruder XXXX 2019 Afghanistan verlassen und wurde von seinem Bruder in der Türkei getrennt. Dieser hält sich nach wie vor dort auf.
Der Beschwerdeführer lebt in einer Flüchtlingsunterkunft in XXXX , während sein Bruder XXXX in XXXX lebt. Der Beschwerdeführer hat jedoch ständigen Kontakt mit ihm und besucht ihn auch manchmal. Er absolviert in Österreich einen A1-Kurs, betreibt Sport und möchte, sobald er besser Deutsch kann eine Lehre, z.B. als Mechaniker, beginnen. Der Beschwerdeführer leidet unter gelegentlichen Magenproblemen, aber sonst keinen schwerwiegenden Erkrankungen. Er ist unbescholten.
Zu Afghanistan wird verfahrensbezogen Folgendes festgestellt:
Covid-19
1. COVID-19
Letzte Änderung: 31.03.2021
Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO: https:// www.who.int/ emergencies/ diseases/nov el-coronav irus-2019/ situation-reports oder derJohns-HopkinsUniversität: https:// gisanddata.maps.arcgis.com/apps/ opsdashboard/index.html#/bda7594740fd40299423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.
Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan
Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (Afghan MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens
und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; cf. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a). Bis Dezember 2020 gab es insgesamt 50.536 [Anmerkung: offizielle] Fälle im Land.
Davon ein Drittel in Kabul. Die tatsächliche Zahl der positiven Fälle wird jedoch weiterhin deutlich
höher eingeschätzt (IOM 18.3.2021; vgl. HRW 14.1.2021).
Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem
Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; cf. IOM 18.3.2021).
Die Infektionen steigen weiter an und bis zum 17.3.2021 wurden der WHO 56.016 bestätigte Fälle von COVID-19 mit 2.460 Todesfällen gemeldet (IOM 18.3.2021; WHO 17.3.2021), wobei die tatsächliche Zahl der positiven Fälle um ein Vielfaches höher eingeschätzt wird. Bis zum 10.3.2021 wurden insgesamt 34.743 Impfstoffdosen verabreicht (IOM 18.3.2021).
Maßnahmen der Regierung und der Taliban
Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat verschiedene Maßnahmen zur Vorbereitung
und Reaktion auf COVID-19 ergriffen. „Rapid Response Teams“(RRTs) besuchen Verdachtsfälle zu Hause. Die Anzahl der aktiven RRTs ist von Provinz zu Provinz unterschiedlich, da ihre Größe und ihr Umfang von der COVID-19-Situation in der jeweiligen Provinz abhängt.
Sogenannte „Fix-Teams“ sind in Krankenhäusern stationiert, untersuchen verdächtige COVID- 19-Patienten vor Ort und stehen in jedem öffentlichen Krankenhaus zur Verfügung. Ein weiterer Teil der COVID-19-Patienten befindet sich in häuslicher Pflege (Isolation). Allerdings ist die häusliche Pflege und Isolation für die meisten Patienten sehr schwierig bis unmöglich, da die räumlichen Lebensbedingungen in Afghanistan sehr begrenzt sind (IOM 23.9.2020). Zu den Sensibilisierungsbemühungen gehört die Verbreitung von Informationen über soziale Medien, Plakate, Flugblätter sowie die Ältesten in den Gemeinden (IOM 18.3.2021; vgl. WB 28.6.2020).
Allerdings berichteten undokumentierte Rückkehrer immer noch von einem insgesamt sehr geringen
Bewusstsein für die mit COVID-19 verbundenen Einschränkungen sowie dem Glauben an weitverbreitete Verschwörungen rund um COVID-19 (IOM 18.3.2021; vgl. IOM 1.2021).
Gegenwärtig gibt es in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif keine Ausgangssperren.
Das afghanische Gesundheitsministerium hat die Menschen jedoch dazu ermutigt, einen physischen Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten, eine Maske zu tragen, sich 20 Sekunden lang die Hände mit Wasser und Seife zu waschen und Versammlungen zu vermeiden (IOM 18.3.2021).
Laut IOM sind Hotels, Teehäuser und andere Unterkunftsmöglichkeiten derzeit [Anm.: März2021] nur für Geschäftsreisende geöffnet. Für eine Person, die unter der Schirmherrschaft der IOM nach Afghanistan zurückkehrt und eine vorübergehende Unterkunft benötigt, kann IOM ein Hotel buchen. Personen, die ohne IOM nach Afghanistan zurückkehren, können nur in einer Unterkunftseinrichtung übernachten, wenn sie fälschlicherweise angeben, ein Geschäftsreisender zu sein. Da die Hotels bzw. Teehäuser die Gäste benötigen, um wirtschaftlich überleben zu können, fragen sie nicht genau nach. Wird dies durch die Exekutive überprüft, kann diese - wenn der Aufenthalt auf der Angabe von falschen Gründen basiert - diesen jederzeit beenden. Die betreffenden Unterkunftnehmer landen auf der Straße und der Unterkunftsbetreiber muss mit einer Verwaltungsstrafe rechnen (IOM AUT 22.3.2021). Laut einer anderen Quelle gibt es jedoch aktuell [Anm.: März 2021] keine Einschränkungen bei der Buchung eines Hotels oder der Unterbringung in einem Teehaus und es ist möglich, dass Rückkehrer und Tagelöhner die Unterbringungsmöglichkeiten nutzen (RA KBL 22.3.2021).
Indien hat inzwischen zugesagt, 500.000 Dosen seines eigenen Impfstoffs zu spenden, erste Lieferungen sind bereits angekommen. 100.000 weitere Dosen sollen über COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) verteilt werden. Weitere Gespräche über Spenden laufen mit China (BAMF 8.2.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Die Taliban erlauben den Zugang für medizinische Helfer in Gebieten unter ihrer Kontrolle im Zusammenhang mit dem Kampf gegen COVID-19 (NH 3.6.2020; vgl. Guardian 2.5.2020) und gaben im Januar 2020 ihre Unterstützung für eine COVID-19-Impfkampagne in Afghanistan bekannt, die vom COVAX-Programm der Weltgesundheitsorganisation mit 112 Millionen Dollar unterstützt wird. Nach Angaben des Taliban-Sprechers Zabihullah Mudschahid würde die Gruppe die über Gesundheitszentren durchgeführte Impfaktion „unterstützen und erleichtern“. Offizielle Stellen glauben, dass die Aufständischen die Impfteams nicht angreifen würden, da sie nicht von Tür zu Tür gehen würden (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021).
Bei der Bekanntgabe der Finanzierung sagte ein afghanischer Gesundheitsbeamter, dass das COVAX-Programm 20% der 38 Millionen Einwohner des Landes abdecken würde (REU 26.1.2021; vgl. ABC News 27.1.2021, ArN 27.1.2021, IOM 18.3.2021). Die Weltbank und die asiatische Entwicklungsbank gaben laut einer Sprecherin des afghanischen Gesundheitsministeriums an, dass sie bis Ende 2022 Impfstoffe für weitere 20% der Bevölkerung finanzieren würden (REU 26.1.2021; vgl. RFE/RL 23.2.2021a).
Im Februar 2021 hat Afghanistan mit seiner COVID-19-Impfkampagne begonnen, bei der zunächst
Mitglieder der Sicherheitskräfte, Mitarbeiter des Gesundheitswesens und Journalisten geimpft werden (RFE/RL 23.2.2021a). Die Regierung kündigte an, 60% der Bevölkerung zu impfen, als die ersten 500.000 Dosen COVID-19-Impfstoff aus Indien in Kabul eintrafen. Es wurde angekündigt, dass zuerst 150.000 Mitarbeiter des Gesundheitswesens geimpft werden sollten, gefolgt von Erwachsenen mit gesundheitlichen Problemen. Die Impfungen haben in Afghanistan am 23.2.2021 begonnen (IOM 18.3.2021).
Gesundheitssystem und medizinische Versorgung
COVID-19-Patienten können in öffentlichen Krankenhäusern stationär diagnostiziert und behandelt
werden (bis die Kapazitäten für COVID-Patienten ausgeschöpft sind). Staatlich geführte Krankenhäuser bieten eine kostenlose Grundversorgung im Zusammenhang mit COVID-19 an, darunter auch einen molekularbiologischen COVID-19-Test (PCR-Test). In den privaten Krankenhäusern, die von der Regierung autorisiert wurden, COVID-19-infizierte Patienten zu behandeln, werden die Leistungen in Rechnung gestellt. Ein PCR-Test auf COVID-19 kostet 3.500 Afghani (AFN) (IOM 18.3.2021).
Krankenhäuser und Kliniken haben nach wie vor Probleme bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung
der Kapazität ihrer Einrichtungen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung wesentlicher Gesundheitsdienste, insbesondere in Gebieten mit aktiven Konflikten. Gesundheitseinrichtungen im ganzen Land berichten nach wie vor über Defizite bei persönlicher Schutzausrüstung, medizinischem Material und Geräten zur Behandlung von COVID-19 (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, HRW 13.1.2021, AA 16.7.2020, WHO 8.2020). Bei etwa 8% der bestätigten COVID-19-Fälle handelt es sich um Mitarbeiter im Gesundheitswesen (BAMF 8.2.2021).
Während öffentliche Krankenhäuser im März 2021 weiterhin unter einem Mangel an ausreichenden
Testkapazitäten für die gesamte Bevölkerung leiden, können stationäre Patienten während ihres Krankenhausaufenthalts kostenfreie PCR-Tests erhalten. Generell sind die Tests seit Februar 2021 leichter zugänglich geworden, da mehr Krankenhäuser von der Regierung die Genehmigung erhalten haben, COVID-19-Tests durchzuführen. In Kabul werden die Tests beispielsweise im Afghan-Japan Hospital, im Ali Jennah Hospital, im City Hospital, im Alfalah-Labor oder in der deutschen Klinik durchgeführt (IOM 18.3.2021).
In den 18 öffentlichen Krankenhäusern in Kabul gibt es insgesamt 180 Betten auf Intensivstationen.
Die Provinzkrankenhäuser haben jeweils mindestens zehn Betten auf Intensivstationen.
Private Krankenhäuser verfügen insgesamt über 8.000 Betten, davon wurden 800 für die Intensivpflege ausgerüstet. Sowohl in Kabul als auch in den Provinzen stehen für 10% der Betten auf
der Intensivstation Beatmungsgeräte zur Verfügung. Das als Reaktion auf COVID-19 eingestellte Personal wurde zu Beginn der Pandemie von der Regierung und Organisationen geschult (IOM 23.9.2020). UNOCHA berichtet mit Verweis auf Quellen aus dem Gesundheitssektor, dass die niedrige Anzahl an Personen die Gesundheitseinrichtungen aufsuchen auch an der Angst der Menschen vor einer Ansteckung mit dem Virus geschuldet ist (UNOCHA 15.10.2020), wobei auch die Stigmatisierung, die mit einer Infizierung einhergeht, hierbei eine Rolle spielt (IOM 18.3.2021; vgl. UNOCHA 12.11.2020, UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021).
Durch die COVID-19 Pandemie hat sich der Zugang der Bevölkerung zu medizinischer Behandlung verringert (AAN 1.1.2020). Dem IOM Afghanistan COVID-19 Protection Monitoring Report zufolge haben 53 % der Bevölkerung nach wie vor keinen realistischen Zugang zu Gesundheitsdiensten.
Ferner berichteten 23 % der durch IOM Befragten, dass sie sich die gewünschten Präventivmaßnahmen, wie den Kauf von Gesichtsmasken, nicht leisten können. Etwa ein Drittel der befragten Rückkehrer berichtete, dass sie keinen Zugang zu Handwascheinrichtungen (30%) oder zu Seife/Desinfektionsmitteln (35%) haben (IOM 23.9.2020).
Sozioökonomische Auswirkungen und Arbeitsmarkt
COVID-19 trägt zu einem erheblichen Anstieg der akuten Ernährungsunsicherheit im ganzen Land bei (USAID 12.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, UNOCHA 19.12.2020). Die sozioökonomischen Auswirkungen von COVID-19 beeinflussen die Ernährungsunsicherheit, die inzwischen ein ähnliches Niveau erreicht hat wie während der Dürre von 2018 (USAID, 12.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, UNOCHA 12.11.2020). In der ersten Hälfte des Jahres 2020 kam es zu einem deutlichen Anstieg der Lebensmittelpreise, die im April 2020 im Jahresvergleich um rund 17% stiegen, nachdem in den wichtigsten städtischen Zentren Grenzkontrollen und Lockdown-Maßnahmen eingeführt worden waren. Der Zugang zu Trinkwasser war jedoch nicht beeinträchtigt, da viele der Haushalte entweder über einen Brunnen im Haus verfügen oder Trinkwasser über einen zentralen Wasserverteilungskanal erhalten. Die Auswirkungen der Handelsunterbrechungen auf die Preise für grundlegende Haushaltsgüter haben bisher die Auswirkungen der niedrigeren Preise für wichtige Importe wie Öl deutlich überkompensiert. Die Preisanstiege scheinen seit April 2020 nach der Verteilung von Weizen aus strategischen Getreidereserven, der Durchsetzung von Anti-Preismanipulationsregelungen und der Wiederöffnung der Grenzen für Nahrungsmittelimporte nachgelassen zu haben (IOM 23.9.2020; vgl. WHO 7.2020), wobei gemäß dem WFP (World Food Program) zwischen März und November 2020 die Preise für einzelne Lebensmittel (Zucker, Öl, Reis…) um 18-31% gestiegen sind (UNOCHA 12.11.2020).
Zusätzlich belastet die COVID-19-Krise mit einhergehender wirtschaftlicher Rezession die privaten Haushalte stark (AA 16.7.2020).
Die Lebensmittelpreise haben sich mit Stand März 2021 auf einem hohen Niveau stabilisiert:
Nach Angaben des Ministeriums für Landwirtschaft, Bewässerung und Viehzucht waren die Preise für Weizenmehl von November bis Dezember 2020 stabil, blieben aber auf einem Niveau, das 11 %, über dem des Vorjahres und 27 % über dem Dreijahresdurchschnitt lag. Insgesamt blieben die Lebensmittelpreise auf den wichtigsten Märkten im Dezember 2020 überdurchschnittlich hoch, was hauptsächlich auf höhere Preise für importierte Lebensmittel zurückzuführen ist (IOM 18.3.2021).
Laut einem Bericht der Weltbank zeigen die verfügbaren Indikatoren Anzeichen für eine stark schrumpfende Wirtschaft in der ersten Hälfte des Jahres 2020, was die Auswirkungen der COVID- 19-Krise im Kontext der anhaltenden Unsicherheit widerspiegelt. Die Auswirkungen von COVID-19 auf den Landwirtschaftssektor waren bisher gering. Bei günstigen Witterungsbedingungen während der Aussaat wird erwartet, dass sich die Weizenproduktion nach der Dürre von 2018 weiter erholen wird. Lockdown-Maßnahmen hatten bisher nur begrenzte Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion und blieben in ländlichen Gebieten nicht durchgesetzt. Die Produktion von Obst und Nüssen für die Verarbeitung und den Export wird jedoch durch Unterbrechung der Lieferketten und Schließung der Exportwege negativ beeinflusst (IOM 18.3.2021; vgl. WB 15.7.2020).
Es gibt keine offiziellen Regierungsstatistiken, die zeigen, wie der Arbeitsmarkt durch COVID-19 beeinflusst wurde bzw. wird. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat, einschließlich des Arbeitsmarktes (IOM 23.9.2020; vgl. AA 16.7.2020). Die afghanische Regierung warnt davor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40% steigen wird. Die Lockdown-Maßnahmen haben die bestehenden prekären Lebensgrundlagen in dem Maße verschärft, dass bis Juli 2020 84% der durch IOM-Befragten angaben, dass sie ohne Zugang zu außerhäuslicher Arbeit (im Falle einer Quarantäne) ihre grundlegenden Haushaltsbedürfnisse nicht länger als zwei Wochen erfüllen könnten; diese Zahl steigt auf 98% im Falle einer vierwöchigen Quarantäne (IOM 23.9.2020).
Insgesamt ist die Situation vor allem für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftssektoren
von den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ betroffen sind (IOM 23.9.2020; vgl. Martin/Parto 11.2020).
Die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die durch die COVID-19-Pandemie geschaffen wurden, haben auch die Risiken für vulnerable Familien erhöht, von denen viele bereits durch langanhaltende Konflikte oder wiederkehrende Naturkatastrophen ihre begrenzten finanziellen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazitäten aufgebraucht hatten (UNOCHA 19.12.2020).
Die tiefgreifenden und anhaltenden Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die afghanische Wirtschaft bedeuten, dass die Armutsquoten für 2021 voraussichtlich hoch bleiben werden. Es wird erwartet, dass das BIP im Jahr 2020 um mehr als 5 % geschrumpft sein wird (IWF). Bis Ende 2021 ist die Arbeitslosenquote in Afghanistan auf 37,9% gestiegen, gegenüber 23,9% im Jahr 2019 (IOM 18.3.2021).
Nach einer Einschätzung des Afghanistan Center for Excellence sind die am stärksten von der COVID-19-Krise betroffenen Sektoren die verarbeitende Industrie (Non-Food), das Kunsthandwerk und die Bekleidungsindustrie, die Agrar- und Lebensmittelverarbeitung, der Fitnessbereich und das Gesundheitswesen sowie die NGOs (IOM 18.3.2021).
Frauen und Kinder
Auch auf den Bereich Bildung hatte die COVID-19 Pandemie Auswirkungen. Die Regierung ordnete an, alle Schulen im März 2020 zu schließen (IOM 23.9.2020), und die CBE-Klassen (gemeindebasierte Bildung-Klassen) konnten erst vor Kurzem wieder geöffnet werden (IPS 12.11.2020). In öffentlichen Schulen sind nur die oberen Schulklassen (für Kinder im Alter von 15 bis 18 Jahren) geöffnet. Alle Klassen der Primär- und unteren Sekundarschulen sind bis auf Weiteres geschlossen (IOM 23.9.2020). Im Oktober 2020 berichtete ein Beamter, dass 56 Schüler und Lehrer in der Provinz Herat positiv getestet wurden (von 386 Getesteten). 35 bis 60 Schüler lernen in einem einzigen Raum, weil es an Einrichtungen fehlt und die Richtlinien zur sozialen Distanzierung nicht beachtet werden (IOM 18.3.2021). Kinder (vor allem Jungen), die von den Auswirkungen der Schulschließungen im Rahmen von COVID-19 betroffen waren, sahen sich nun auch einer erhöhten Anfälligkeit gegenüber der Rekrutierung durch die Konfliktparteien ausgesetzt (IPS 12.11.2020; cf. UNAMA 10.8.2020). Die Krise verschärft auch die bestehende Vulnerabilität von Mädchen betreffend Kinderheirat und Schwangerschaften von Minderjährigen (UNOCHA 19.12.2020; cf. IPS 12.11.2020, UNAMA 10.8.2020). Die Pandemie hat auch spezifische Folgen für Frauen, insbesondere während eines Lockdowns, einschließlich eines erhöhten Maßes an häuslicher Gewalt (HRW 13.1.2021; vgl. UNOCHA 19.12.2020, AAN 1.10.2020).
Frauen und Mädchen sind durch den generell geringeren Zugang zu Gesundheitseinrichtungen zusätzlich betroffen (Martins/Parto 11.2020; vgl. HRW 13.1.2021, AAN 1.10.2020).
Bewegungsfreiheit
Im Zuge der COVID-19 Pandemie waren verschiedene Grenzübergänge und Straßen vorübergehend
gesperrt (RFE/RL 21.8.2020; vgl. NYT 31.7.2020, IMPACCT 14.8.2020, UNOCHA 30.6.2020), wobei aktuell alle Grenzübergänge geöffnet sind (IOM 18.3.2021). Im Juli 2020 wurden auf der afghanischen Seite der Grenze mindestens 15 Zivilisten getötet, als pakistanische Streitkräfte angeblich mit schwerer Artillerie in zivile Gebiete schossen, nachdem Demonstranten auf beiden Seiten die Wiedereröffnung des Grenzübergangs gefordert hatten und es zu Zusammenstößen kam (NYT 31.7.2020).
Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat werden aktuell international wie auch national angeflogen und auch findet Flugverkehr zu nationalen Flughäfen statt (F 24 o.D.; vgl. IOM 18.3.2021). Derzeit verkehren Busse, Sammeltaxis und Flugzeuge zwischen den Provinzen und Städten. Die derzeitige Situation führt zu keiner Einschränkung der Bewegungsfreiheit (IOM 18.3.2021).
IOM Österreich unterstützt auch derzeit Rückkehrer im Rahmen der freiwilligen Rückkehr und Teilnahme an Reintegrationsprogrammen. Neben der Reiseorganisation bietet IOM Österreich dabei Unterstützung bei der Ausreise am Flughafen Wien Schwechat an (STDOK 14.7.2020).
Von 1.1.2020 bis 22.9.2020 wurden 70 Teilnahmen an dem Reintegrationsprojekt Restart III akzeptiert und sind 47 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 23.9.2020). Mit Stand 18.3.2021 wurden insgesamt 105 Teilnahmen im Rahmen von Restart III akzeptiert und sind 86 Personen freiwillig nach Afghanistan zurückgekehrt (IOM 18.3.2021).
Quellen:
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2. Politische Lage
Letzte Änderung: 31.03.2021
Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.4.2019).
Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen (NSIA 6.2020) bis 39
Millionen Menschen (WoM 6.10.2020).
Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen, die vorsieht, dass kein Gesetz gegen
die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger
Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (CoA 26.2.2004;
vgl. STDOK 7.2016, Casolino 2011).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik
direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (CoA 26.2.2004; vgl. Casolino
2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu
(AAN 13.2.2015) und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden
direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund
persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.5.2019).
Im direkt gewählten Unterhaus der Nationalversammlung, der Wolesi Jirga (Haus des Volkes) mit 249 Sitzen, kandidieren die Abgeordneten für eine fünfjährige Amtszeit. In der Meshrano Jirga (House of Elders), dem Oberhaus mit 102 Sitzen, wählen die Provinzräte zwei Drittel der Mitglieder für eine Amtszeit von drei oder vier Jahren, und der Präsident ernennt das verbleibende Drittel für eine Amtszeit von fünf Jahren. Die Verfassung sieht die Wahl von Bezirksräten vor, die ebenfalls Mitglieder in die Meshrano Jirga entsenden würden, aber diese sind noch nicht eingerichtet worden. Zehn Sitze der Wolesi Jirga sind für die nomadische Gemeinschaft der Kutschi reserviert, darunter mindestens drei Frauen, und 65 der allgemeinen Sitze der Kammer sind für Frauen reserviert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit gelegentlich kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzesentwürfen die grundsätzliche Funktionsfähigkeit des Parlaments. Gleichzeitig werden aber die verfassungsmäßigen Rechte genutzt, um die Arbeit der Regierung gezielt zu behindern, Personalvorschläge der Regierung zum Teil über lange Zeiträume zu blockieren, und einzelne Abgeordnete lassen sich ihre Zustimmung mit Zugeständnissen - wohl auch finanzieller Art - belohnen. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaftspflicht der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 16.7.2020).
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen
Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 – mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (USDOS 11.3.2020). Es ist geplant die Wahlen in Ghazni im Oktober 2021 nachzuholen (AT 19.12.2020; vgl. TN 19.12.2020). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.9.2019 statt (RFE/RL 20.10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, AA 1.10.2020).
Die ursprünglich für den 20.4.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.9.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019). Die unabhängige afghanische Wahlkommission (Afghanistan’s Independent Election Commission) hat mehr als vier Monate nach der Präsidentschaftswahl in Afghanistan Mohammed Ashraf Ghani zum Sieger erklärt (DW 18.2.2020). Der amtierende Präsident erhielt 50,64% der Stimmen, wie die Kommission verlautbarte (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Da Ghani im ersten Durchgang die Präsidentschaftswahl bereits gewonnen hat, war keine Stichwahl mehr notwendig (DW 18.2.2020). CEO bzw. Regierungsgeschäftsführer Abdullah Abdullah, kam den Resultaten zufolge auf 39,52% (DW 18.2.2020; vgl. REU 25.2.2020). Nach monatelangem, erbittertem Streit um die Gültigkeit von Hunderttausenden von Stimmen (DW 18.2.2020; vgl. FH 4.3.2020) waren nur noch 1,8 Millionen Wahlzettel berücksichtigt worden (FH 4.3.2020). Hingegen lag die Zahl der registrierten Wähler bei 9,6 Millionen bei einer geschätzten Bevölkerungszahl von 35 Millionen (DW 18.2.2020). Die umstrittene Entscheidungsfindung der Wahlkommission und deutlich verspätete Verkündung des endgültigen
Wahlergebnisses der Präsidentschaftswahlen vertiefte die innenpolitische Krise. Amtsinhaber Ashraf Ghani wurde mit einer knappen Mehrheit zum Wahlsieger im ersten Urnengang erklärt.
Sein wichtigster Herausforderer, Abdullah Abdullah erkannte das Wahlergebnis nicht an (AA 16.7.2020) und so ließen sich am 9.3.2020 sowohl Ghani als auch Abdullah als Präsident vereidigen
(NZZ 20.4.2020; vgl. TN 16.4.2020). Die daraus resultierende Regierungskrise wurde mit einem von beiden am 17.5.2020 unterzeichneten Abkommen zur gemeinsamen Regierungsbildung für beendet erklärt (AA 16.7.2020; vgl. NZZ 20.4.2020, DP 17.5.2020, TN 11.5.2020).
Diese Situation hatte ebenfalls Auswirkungen auf den afghanischen Friedensprozess. Das Staatsministerium für Frieden konnte zwar im März bereits eine Verhandlungsdelegation benennen, die von den wichtigsten Akteuren akzeptiert wurde, aber erst mit dem Regierungsabkommen vom 17.5.2020 und der darin vorgesehenen Einsetzung eines Hohen Rates für Nationale Versöhnung, unter Vorsitz von Abdullah, wurde eine weitergehende Friedensarchitektur der afghanischen Regierung formal etabliert (AA 16.7.2020). Dr. Abdullah verfügt als Leiter des Nationalen Hohen Versöhnungsrates über die volle Autorität in Bezug auf Friedens- und Versöhnungsfragen, einschließlich Ernennungen in den Nationalen Hohen Versöhnungsrat und das Friedensministerium. Darüber hinaus ist Dr. Abdullah Abdullah befugt, dem Präsidenten Kandidaten für Ernennungen in den Regierungsabteilungen (Ministerien) mit 50% Anteil vorzustellen (RA KBL 12.10.2020).
Politische Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 10.6.2020). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino
2011; vgl. CoA 26.1.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. CoA 26.1.2004, USDOS 20.6.2020). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (CoA 26.1.2004).
Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 16.7.2020). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.3.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 16.7.2020; vgl. DOA 17.3.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 16.7.2020).
Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein patrimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.3.2019).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind. In Afghanistan herrscht fast zwei Jahrzehnte nach dem Sturz des Taliban-Regimes durch die USA eine Pattsituation (NZZ 20.4.2020). 2020 fanden die ersten ernsthaften Verhandlungen zwischen allen Parteien des Afghanistan-Konflikts zur Beendigung des Krieges statt (HRW 13.1.2020). Das lang erwartete Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban wurde Ende Februar 2020 unterzeichnet (AJ 7.5.2020; vgl. NPR 6.5.2020, EASO 8.2020) - die afghanische Regierung war an dem Abkommen weder beteiligt, noch unterzeichnete sie dieses (EASO 8.2020). Das Abkommen zwischen den Vereinigten Staaten und den Taliban enthält das Versprechen der US-Amerikaner, ihre noch rund 13.000 Armeeangehörigen in Afghanistan innerhalb von 14 Monaten abzuziehen. Auch die verbliebenen nicht amerikanischen NATO-Truppen sollen abgezogen werden (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020; REU 6.10.2020). Der Abzug der ausländischen Truppenangehörigen, von denen die meisten Beratungs- und Ausbildungsfunktionen wahrnehmen, ist abhängig davon, ob die Taliban ihren Teil der Abmachung einhalten. Sie haben im Abkommen zugesichert, terroristischen Gruppierungen wie etwa Al-Qaida keine Zuflucht zu gewähren. Die Taliban verpflichteten sich weiter, innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung, Gespräche mit einer afghanischen Delegation aufzunehmen (NZZ 20.4.2020; vgl. USDOS 29.2.2020, EASO 8.2020). Die Kämpfe zwischen den afghanischen Regierungstruppen, den Taliban und anderen bewaffneten Gruppen hielten jedoch an und forderten in den ersten neun Monaten des Jahres fast 6.000 zivile Opfer, ein deutlicher Rückgang gegenüber den Vorjahren (HRW 13.1.2021).
Die Taliban haben die politische Krise im Zuge der Präsidentschaftswahlen derweil als Vorwand
genutzt, um den Einstieg in Verhandlungen hinauszuzögern. Sie werfen der Regierung vor, ihren Teil der am 29.2.2020 von den Taliban mit der US-Regierung geschlossenen Vereinbarung weiterhin nicht einzuhalten, und setzten ihre militärische Kampagne gegen die afghanischen Sicherheitskräfte mit hoher Intensität fort. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entspricht dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (AA 16.7.2020; vgl. REU 6.10.2020).
Im September 2020 starteten die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban in Katar (REU 6.10.2020; vgl. AJ 5.10.2020, BBC 22.9.2020). Die Gewalt hat jedoch nicht nachgelassen, selbst als afghanische Unterhändler zum ersten Mal in direkte Gespräche verwickelt wurden (AJ 5.10.2020). Insbesondere im Süden, herrscht trotz des Beginns der Friedensverhandlungen weiterhin ein ho