TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/12 W123 2194845-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 12.08.2021
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Entscheidungsdatum

12.08.2021

Norm

AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §54 Abs2
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §58 Abs2
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art8
FPG §52
IntG §11 Abs2
IntG §9 Abs4 Z1
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W123 2194845-1/28E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Michael ETLINGER über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.04.2018, Zl. 1123670208-161023394, nach Durchführung einer öffentlich mündlichen Verhandlung am 13.09.2019 zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird mit der Maßgabe stattgegeben, dass es zu lauten hat:

„Es wird gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

Dem Beschwerdeführer wird gemäß § 54 Abs. 1 Z 1 und Abs. 2 iVm § 55 Abs. 1 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel ‚Aufenthaltsberechtigung plus‘ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.“

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1.       Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 22.07.2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2.       Im Rahmen der am selben Tag durchgeführten Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer, befragt zu seinem Fluchtgrund, an, dass sein Vater für die amerikanische Firma XXXX gearbeitet habe.

3.       Mit dem angefochtenen Bescheid der belangten Behörde wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Es wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

4.       Gegen den obgenannten Bescheid der belangten Behörde richtet sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde vom 04.05.2018.

5.        Die Beschwerde wurden vom Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 07.10.2019, W123 2194845-1/12E, als unbegründet abgewiesen.

6.        Die dagegen erhobene Revision wurde mit Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs vom 07.01.2021 zu Ra 2019/18/0451-9 und Ra 2019/18/0473 bis 0478-9 in Bezug auf den Status der Asylberechtigten und den Status eines subsidiär Schutzberechtigten sowie die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG zurückgewiesen. Im Übrigen wurde der Revision stattgegeben und das Erkenntnis W123 2194845-1/12E vom 07.10.2019 hinsichtlich der erlassenen Rückkehrentscheidung wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

7.       Begründend verwies der Verwaltungsgerichtshof insbesondere darauf, dass in den Erkenntnissen W204 2208976-1/12E und W204 2219878-178E, die Ehefrau und das Kind des Beschwerdeführers betreffend, nicht ausreichend deren Vulnerabilität berücksichtigt worden sei. Die Nichtgewährung von subsidiären Schutz und die darauf aufbauenden Spruchpunkte seien daher vom Verwaltungsgerichtshof gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben gewesen. Aufgrund dessen sei den maßgeblichen Erwägungen im Erkenntnis W123 2194845-1/12E hinsichtlich des Nichtbestehens eines Eingriffes in das festgestellte Familienleben des Beschwerdeführers der Boden entzogen worden.

8.       Das Bundesverwaltungsgericht forderte den Beschwerdeführer im Rahmen eines Parteiengehörs vom 25.06.2021 in weiterer Folge auf, seinen aktuellen Gesundheitszustand bekannt zu geben und diesen durch ärztliche Nachweise zu belegen. Der Beschwerdeführer wurde überdies aufgefordert, eine finanzielle Abhängigkeit zwischen ihm und den in Österreich lebenden Familienangehörigen mit Bescheinigungsmitteln zu belegen. Darüber hinaus wurde dem Beschwerdeführer der Auftrag erteilt, mittels Bescheinigungsmitteln seine Deutschkenntnisse zu belegen, Belege hinsichtlich einer entgeltlichen oder ehrenamtlichen Tätigkeit, Unterlagen über den Besuch von Kursen, Schulen oder Universitäten sowie Mitgliedschaften bei Vereinen vorzulegen. Abschließend wurde dem Beschwerdeführer aufgetragen bekanntzugeben, ob Kontakt zu in Afghanistan lebenden Familienangehörigen oder Freunden bestehe und wie die Kontaktaufnahme vonstattengehe.

9.       Mit Stellungnahme vom 08.07.2021 gab der Beschwerdeführer an, dass sich hinsichtlich seines Gesundheitszustandes keine negative Änderung ergeben habe. Eine finanzielle Abhängigkeit seiner Ehefrau und seiner Tochter, welche beide mittlerweile den Status von subsidiär Schutzberechtigten innehaben würden, bestehe aufgrund des Umstandes, dass seine Ehefrau aufgrund ihrer Betreuungspflichten nicht arbeiten könne. Daher sei die Familie auf den Beschwerdeführer als „Familienerhalter“ angewiesen. Der Beschwerdeführer übermittelte Kursbestätigungen über die Teilnahme an Deutsch B1 1. und 2. Teil. Darüber hinaus wurden Bestätigungen der katholischen Pfarre XXXX , des Marktgemeindeamtes XXXX , des Österreichischen Roten Kreuz, Regionalkoordination XXXX , und der Volkshilfe Oberösterreich über die ehrenamtliche Tätigkeit des Beschwerdeführers vorgelegt. Des Weiteren wurde vom Beschwerdeführer eine Bescheinigung über die erfolgreiche Absolvierung eines Erste-Hilfe-Kurses und die Teilnahmebestätigung am Projekt „ XXXX “ der XXXX Austria übermittelt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

Der Beschwerdeführer ist ein volljähriger afghanischer Staatsangehöriger der Volksgruppe der Paschtunen. Der Beschwerdeführer ist in der Provinz Kabul geboren und aufgewachsen und hat bis zu seiner Flucht im Heimatort dieser Provinz gelebt. Der Beschwerdeführer besuchte sechs Jahre die Schule und verrichtete Tätigkeiten auf dem Feld. Zwei Monate besuchte er bei einem Nachbarn einen praktischen Unterricht für Elektroinstallationen. Die Familie des Beschwerdeführers (Vater, Mutter, fünf Schwestern und ein Bruder) wohnten im Zeitpunkt der Flucht des Beschwerdeführers aus Afghanistan noch in der Heimatprovinz des Beschwerdeführers.

Der Beschwerdeführer hat am 20.04.2018 XXXX nach islamischem Recht und am 19.02.2019 in Österreich standesamtlich geheiratet. Die Frau des Beschwerdeführers ist mit ihrer Familie nach Österreich gekommen und stellte am 17.07.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid der belangten Behörde vom 05.10.2018 negativ entschieden wurde. Die dagegen erhobene Beschwerde vom 05.11.2018 wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 07.10.2019 zu W204 2208976-1/12E vollinhaltlich abgewiesen. Am 22.03.2019 brachte die Frau des Beschwerdeführers eine Tochter, XXXX , zur Welt. Als gesetzliche Vertreterin stellte sie für ihre Tochter am 02.04.2019 einen Antrag auf internationalen Schutz, welcher mit Bescheid der belangten Behörde vom 08.05.2019 abgewiesen wurde. Am 04.06.2019 erhob die Frau des Beschwerdeführers als gesetzliche Vertreterin ihrer Tochter Beschwerde, welche mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 07.10.2019, W204 2219878-1/8E, ebenfalls vollinhaltlich abgewiesen wurde. Die gegen diese Entscheidungen erhobenen Revisionen wurden mit Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs vom 07.01.2021, Ra 2019/18/0451-9 und Ra 2019/18/0473 bis 0478-9, in Bezug auf den Status der Asylberechtigten zurückgewiesen. Im Übrigen wurde den Revisionen stattgegeben und die Erkenntnisse wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Mit Erkenntnis vom 11.06.2021, W204 2208976-1/26E und W204 2219878-1/23E, wurde sowohl der Ehefrau als auch der Tochter des Beschwerdeführers der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt und beiden eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte auf ein Jahr erteilt.

Der Beschwerdeführer lebt mit seiner Ehefrau und der gemeinsamen Tochter in einem Haushalt. Er übernimmt im Rahmen seiner Vaterrolle wichtige Aufgaben für die Aufrechterhaltung des Familienlebens und Unterstützung seiner Ehefrau.

Der Beschwerdeführer ist gesund. Die Ehefrau des Beschwerdeführers leidet an Keratokonus, einer Augenkrankheit, welche durch eine fortschreitende Ausdünnung der Hornhaut des Auges gekennzeichnet ist. Die Sehleistung der Ehefrau beträgt ohne Sehhilfe nur 10 Prozent, mit Sehhilfe 80 Prozent.

Der Beschwerdeführer verfügt über das Deutschzertifikat A2. Darüber hinaus hat der Beschwerdeführer am 1. und 2. Teil des Kurses „Deutsch B1“ teilgenommen.

Der Beschwerdeführer befindet sich in der Grundversorgung und verrichtete für geringfügiges Entgelt Tätigkeiten bei der Gemeinde. Er leistet darüber hinaus im Rahmen einer ehrenamtlichen Tätigkeit regelmäßig und selbständig Arbeiten auf dem Friedhof und an den Grünanlagen der katholischen Pfarre XXXX . Des Weiteren war der Beschwerdeführer für das Rote Kreuz im Zuge mehrerer Remunerationsprojekte tätig. Der Beschwerdeführer gehörte der Fußballhauptmannschaft der Gemeinde XXXX an.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

2. Beweiswürdigung:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgebenden Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben mittels Durchführung einer öffentlich mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, durch Einsichtnahme in den Akt der belangten Behörde unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben des Beschwerdeführers vor dieser und den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, des bekämpften Bescheides und des Beschwerdeschriftsatzes sowie in die vom Beschwerdeführer vorgelegten Urkunden.

Die Feststellungen zu Identität, Sprachkenntnissen, Herkunft und Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers gründen sich auf seine diesbezüglich gleichbleibenden und daher glaubhaften Angaben vor dem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes, der belangten Behörde, in dem Beschwerdeschriftsatz und in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Es ist im Verfahren nichts hervorgekommen, das Zweifel an der Richtigkeit dieser Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers aufkommen lässt.

Die Feststellungen zur Beziehung zwischen ihm und seiner Ehefrau und der gemeinsamen Tochter ergeben sich aus seinen glaubwürdigen und nachvollziehbaren Angaben in der Beschwerdeverhandlung.

Die Feststellungen zur Erkrankung der Ehefrau des Beschwerdeführers ergeben sich aus den im Akt erliegenden Befunden.

Die Feststellungen bezüglich der Deutschkenntnisse des Beschwerdeführers und seiner Tätigkeit im Rahmen verschiedener ehrenamtlicher Projekte, basieren auf den übermittelten Unterlagen.

Die Feststellung zum Bezug der staatlichen Grundversorgung war aufgrund aktueller Auszüge aus dem GVS-System zu treffen, die zur strafrechtlichen Unbescholtenheit aufgrund eines Strafregisterauszugs vom 09.08.2021.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 07.10.2019, W123 2194845-1/12E, wurde die gegen die Spruchpunkte I.-III. dieses Bescheides erhobene Beschwerde rechtskräftig abgewiesen. Das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes erwuchs in dieser Hinsicht in Rechtskraft.

Folglich sind die Spruchpunkt I. bis III. des angefochtenen Bescheides nicht mehr Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.


Zur Beschwerde gegen die Spruchpunkt IV. bis VI. des angefochtenen Bescheides:

3.1.    Rückkehrentscheidung und Prüfung gemäß Art. 8 EMRK:

3.1.1. § 52 Abs. 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) lautet, soweit hier relevant:

„Rückkehrentscheidung

[…]

(2) Gegen einen Drittstaatsangehörigen hat das Bundesamt unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn

[…]

2. dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird,

und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

[…]“

Im Zusammenhang mit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung ist der Schutz des Privat- und Familienlebens zu beachten. In dieser Hinsicht ist § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) zu prüfen, welcher auszugsweise lautet:

„Schutz des Privat- und Familienlebens

§ 9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.

[…]“

3.1.2. Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Nach Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Bei der Beurteilung der Frage, ob die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- und/oder Familienlebens iSd Art. 8 EMRK vorliegen bzw. ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte darstellt, ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. VwGH 25.09.2018, Ra 2018/21/0108).

Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg 17.340/2004 ausführte, darf eine Aufenthaltsbeendigung nicht verfügt werden, wenn dadurch das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens des Betroffenen verletzt werden würde. Bei der Beurteilung nach Art. 8 EMRK ist eine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl. die in VfSlg 18.223/2007 und 18.224/2007 wiedergegebene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte). Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind die Auswirkungen der Entscheidung und die Konsequenzen einer Außerlandesbringung des Beschwerdeführers auf das Familienleben und auf das Kindeswohl etwaiger Kinder des Betroffenen zu erörtern (vgl. hiezu VfGH 24.09.2018, E 1416/2018; 26.02.2019, E 3079/2018; zur Bedeutung der mit einer Trennung des Beschwerdeführers von seinem Kind verbundenen Auswirkungen vgl. VfSlg 19.362/2011). Einer mit der Ausweisung verbundenen Trennung von Familienmitgliedern kommt eine entscheidungswesentliche Bedeutung zu (vgl. VfSlg 18.388/2008, 18.389/2008, 18.392/2008). Die Intensität der privaten und familiären Bindungen im Inland ist dabei zu berücksichtigen (VfSlg 18.748/2009).

Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entsteht ein von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Familienleben zwischen Eltern und Kind mit dem Zeitpunkt der Geburt (vgl. EGMR 21.06.1988, Fall Berrehab, Appl 10.730/84 [Z 21]; 26.05.1994, Fall Keegan, Appl 16.969/90 [Z 44]). Diese besonders geschützte Verbindung kann in der Folge nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden (vgl. EGMR 19.02.1996, Fall Gül, Appl 23.218/94 [Z 32]). Ferner ist es nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ein grundlegender Bestandteil des Familienlebens, dass sich Eltern und Kinder der Gesellschaft des jeweiligen anderen Teiles erfreuen können. Davon ausgehend kann eine unzureichende Berücksichtigung des Kindeswohles zur Fehlerhaftigkeit der Interessenabwägung und somit zu einer Verletzung des Art. 8 EMRK führen (vgl. VfGH 28.02.2012, B 1644/10 mit Hinweis auf EGMR 31.01.2006, Fall Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Appl 50.435/99, sowie insbesondere EGMR 28.06.2011, Fall Nunez, Appl 55.597/09; 12.10.2016, E 1349/2016).

Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes sind die konkreten Auswirkungen einer Aufenthaltsbeendigung für ein Elternteil auf das Wohl eines Kindes zu ermitteln und bei der Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK zu berücksichtigen (vgl. VfSlg 19.362/2011; VfGH ua 11.06.2018, E 435/2018).

3.1.3. Der Beschwerdeführer führt als Ehemann und als Vater einer Tochter im Kleinkindalter ein Familienleben. Der Beschwerdeführer stellt eine wichtige Bezugsperson für seine sich noch in der (klein-)kindlichen Entwicklung befindlichen Tochter dar. Insbesondere kommt dem Beschwerdeführer eine wichtige Rolle in der Betreuung seiner Tochter aufgrund der fortschreitenden Augenerkrankung seiner Ehefrau zu. Obwohl seine Ehefrau in erster Linie den Betreuungspflichten nachkommt, ist er unabdingbar in der nächtlichen Pflege der gemeinsamen Tochter und bildet damit ebenso einen wesentlichen Teil ihres Alltags (vgl. VH-Protokoll vom 13.09.2019 S. 16).

Eine den Beschwerdeführer treffende aufenthaltsbeendende Maßnahme würde damit eine dauernde Trennung von seiner Tochter und seiner Ehefrau bedeuten, was sein Familienleben als Vater mit seiner Tochter und als Ehemann im Sinne des Art. 8 EMRK jedenfalls verletzen würde (vgl. VwGH 25.09.2018, Ra 2018/21/0108; VfGH 26.06.2018, E 1791/2018), zumal es lebensfremd wäre, anzunehmen, der Kontakt zwischen einem Kleinkind und einem Elternteil könnte über Telekommunikation und elektronische Medien aufrecht erhalten werden (vgl. u.a. VfGH 19.06.2015, E 426/2015).

3.1.4. Der Beschwerdeführer hält sich seit fünf Jahren in Österreich auf. Er war in dieser Zeit aufgrund seiner Zulassung zum Asylverfahren gemäß § 13 Abs. 1 AsylG 2005 zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt. Er hat – abgesehen von seinem Familienleben – auch sonstige Integrationsbestrebungen an den Tag gelegt.

Der Beschwerdeführer besuchte in Österreich neben den Deutschkursen auch weiterführende Kurse, wie einen Erste-Hilfe-Kurs. Er spricht bereits gut Deutsch und verfügt über das Deutschzertifikat A2. Der Beschwerdeführer hat verschiedene ehrenamtliche Tätigkeiten ausgeübt.

Anzumerken ist, dass diese Integrationsbemühungen des Beschwerdeführers für sich allein, d.h. ohne seine familiären Umstände, nicht ausgereicht hätten, um eine Rückkehrentscheidung zu verhindern.

Der Beschwerdeführer hat zu einem gewissen Grad noch eine Bindung an seinen Herkunftsstaat. Er hat einen Großteil seines Lebens in Afghanistan im afghanischen Familienverband verbracht, ist dort aufgewachsen und hat dort seine Sozialisation erfahren. Der Beschwerdeführer spricht die afghanische Landessprache Paschtu auf muttersprachlichem Niveau. Dennoch muss maßgeblich berücksichtigt werden, dass der Beschwerdeführer, außer zu einem Freund, zu welchem er eine freundschaftliche Beziehung über das Internet aufrecht hält, keinen Kontakt zu seinen Familienangehörigen in Afghanistan mehr hat. Die Bindung zu seiner Ehefrau und seinem Kind in Österreich, welche beide subsidiär Schutzberechtigte sind, ist, die sich auch in der Verhandlung des Bundesverwaltungsgerichtes bestätigen ließ, hingegen als sehr groß zu bewerten. Allfällige weitere Bindungen zum Herkunftsstaat sind im Verfahren nicht hervorgekommen, auch wurden sie nicht vorgebracht.

Die strafgerichtliche Unbescholtenheit des Beschwerdeführers wurde festgestellt. Auch sonst sind im Verfahren keine Verstöße des Beschwerdeführers gegen die öffentliche Ordnung hervorgekommen.

3.1.5. In Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen familiären Interessen des Beschwerdeführers unter Berücksichtigung der geprüften Kriterien gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG und unter Einbeziehung der Wertungen gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG ist davon auszugehen, dass insbesondere das familiäre Interesse des Beschwerdeführers am Verbleib im Bundesgebiet im konkreten Fall das öffentliche Interesse an einem geordneten Fremdenwesen überwiegt. Dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten und verhältnismäßig ist, kann im Beschwerdefall nicht erblickt werden.

3.1.6. Nach § 9 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG ist die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind.

Da die Ehefrau und die Tochter des Beschwerdeführers subsidiär Schutzberechtigte sind, und somit diesen eine Niederlassung in Afghanistan nicht zumutbar ist, würde die durch eine den Beschwerdeführer betreffende Rückkehrentscheidung erfolgende Verletzung seines Familienlebens auf Umständen beruhen, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Eine ihn treffende Rückkehrentscheidung ist daher gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig.

3.2.    Zur Erteilung eines Aufenthaltstitels:

3.2.1. Gemäß § 58 Abs. 2 AsylG 2005 ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 von Amts wegen zu prüfen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs. 1 bis 3
BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt wird.

§ 55 AsylG 2005 lautet:

„Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK

§ 55. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine ‚Aufenthaltsberechtigung plus‘ zu erteilen, wenn

1. dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und

2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955) erreicht wird.

(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist eine ‚Aufenthaltsberechtigung‘ zu erteilen.“

Die belangte Behörde hat dem Beschwerdeführer den Aufenthaltstitel gemäß § 58 Abs. 7 AsylG 2005 auszufolgen. Der Beschwerdeführer hat hieran gemäß § 58 Abs. 11 AsylG 2005 mitzuwirken. Der Aufenthaltstitel gilt gemäß § 54 Abs. 2 AsylG 2005 zwölf Monate lang, beginnend mit dem Ausstellungsdatum.

3.2.2. Dass die Voraussetzung der Z 1 leg.cit. im Beschwerdefall vorliegt, ergibt sich aus den zuvor getroffenen Erwägungen.

3.2.3. Das Modul 1 der Integrationsvereinbarung ist gemäß § 9 Abs. 4 IntG erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige einen Nachweis des Österreichischen Integrationsfonds über die erfolgreiche Absolvierung der Integrationsprüfung gemäß § 11 vorlegt (Z 1), über einen Schulabschluss verfügt, der der allgemeinen Universitätsreife im Sinne des § 64 Abs. 1 Universitätsgesetz 2002, BGBl. I Nr. 120/2002, oder einem Abschluss einer berufsbildenden mittleren Schule entspricht (Z 3), einen Aufenthaltstitelt „Rot-Weiß-Rot Karte" gemäß § 41 Abs. 1 oder 2 NAG besitzt (Z 4) oder als Inhaber eines Aufenthaltstitels „Niederlassungsbewilligung Künstler" gemäß § 43a NAG eine künstlerische Tätigkeit in einer der unter § 2 Abs. 1 Z 1 bis 3 Kunstförderungsgesetz, BGBl. I Nr. 146/1988, genannten Kunstsparte ausübt; bei Zweifeln über das Vorliegen einer solchen Tätigkeit ist eine diesbezügliche Stellungnahme des zuständigen Bundesministers einzuholen.

§ 11 IntG lautet:

„Die Integrationsprüfung zur Erfüllung des Moduls 1 wird bundesweit nach einem einheitlichen Maßstab durchgeführt.

(2) Die Prüfung umfasst Sprach- und Werteinhalte. Mit der Prüfung ist festzustellen, ob der Drittstaatsangehörige über vertiefte elementare Kenntnisse der deutschen Sprache zur Kommunikation und zum Lesen und Schreiben von Texten des Alltags auf dem Sprachniveau A2 gemäß dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen und über Kenntnisse der grundlegenden Werte der Rechts- und Gesellschaftsordnung der Republik Österreich verfügt. Der Prüfungserfolg ist mit „Bestanden“ oder „Nicht bestanden“ zu beurteilen. Zur erfolgreichen Absolvierung der Prüfung muss sowohl das Wissen über Sprach- sowie über Werteinhalte nachgewiesen werden. Wiederholungen von nicht bestandenen Prüfungen sind zulässig. Die Wiederholung von einzelnen Prüfungsinhalten ist nicht zulässig.

(3) Der Prüfungsinhalt, die Modalitäten der Durchführung, die Prüfungsordnung zur Erfüllung des Moduls 1 sowie die Kriterien für die Prüfung der Gleichwertigkeit werden durch Verordnung des Bundesministers für Europa, Integration und Äußeres festgelegt.

3.2.4. Im vorliegenden Verfahren brachte der Beschwerdeführer u.a. ein ÖSD-Zertifikat auf dem Niveau A2 in Vorlage. Da der Beschwerdeführer wie festgestellt am 27.02.2019 die A2-Integrationsprüfung bestanden hat, hat er damit das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Abs. 4 Z 1 Integrationsgesetz erfüllt.

3.2.5. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte IV., V. und VI. war folglich stattzugeben.

In Abänderung des angefochtenen Bescheides wird festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung gemäß § 9 BFA-VG auf Dauer unzulässig ist.

Gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 wird dem Beschwerdeführer aufgrund des Vorliegens der Voraussetzungen der Z 1 und 2 leg.cit. der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ erteilt. Dieser Aufenthaltstitel ist gemäß § 54 Abs. 1 Z 1 und Abs. 2 AsylG 2005 für die Dauer von zwölf Monaten beginnend mit dem Ausstellungsdatum auszustellen.

Zu B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen (siehe dazu insbesondere die unter A) zitierte Judikatur). Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

Aufenthaltsberechtigung befristete Aufenthaltsberechtigung Ersatzentscheidung Integration Interessenabwägung mündliche Verhandlung öffentliche Interessen Privat- und Familienleben private Interessen Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W123.2194845.1.00

Im RIS seit

24.11.2021

Zuletzt aktualisiert am

24.11.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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