TE Vwgh Erkenntnis 1996/11/21 95/20/0229

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Veröffentlicht am 21.11.1996
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Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 1991 §1 Z1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Fürnsinn und die Hofräte Dr. Händschke, Dr. Baur, Dr. Bachler und Dr. Nowakowski als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Hemetsberger, über die Beschwerde des O in L, vertreten durch Dr. H, Rechtsanwalt in L, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 8. März 1995, Zl. 4.338.410/7-III/13/95, betreffend Asylgewährung, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.800,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger, ist am 31. Mai 1992 in das Bundesgebiet eingereist und hat am 4. Juni 1992 einen Asylantrag gestellt.

Der Beschwerdeführer begründete seinen schriftlichen Asylantrag zusammengefaßt damit, daß er Kurde und als solcher in der Türkei in allen Lebensbereichen benachteiligt gewesen sei. Er habe zuletzt in Istanbul gewohnt, wo er aktiv für die verbotene kurdische Partei "TKP-ML" (in Form der Verteilung von Propagandamaterial und von Flugblättern, Aufklebung von Plakaten, etc.) tätig gewesen sei. Er habe auch an organisierten Demonstrationen teilgenommen, zuletzt im Rahmen des am 21. März 1992 stattgefundenen "Neiros-Fest" (Newroz-Fest). Dabei sei er von der Polizei verhaftet und während der dreitägigen Haft geschlagen, gefoltert und über seine politischen Aktivitäten im Zusammenhang mit der TKP-ML verhört worden. Nach seiner Entlassung aus der Haft habe er in ständiger Angst gelebt. In der Folge sei ihm ein Einberufungsbefehl der türkischen Militärbehörde zugegangen, mit dem er zum Termin "August 1992" zum Militärdienst einberufen worden sei. Erfahrungsgemäß würden Angehörige der kurdischen Volksgruppe, insbesondere die politisch "auffällig gewordenen" Personen in Kurdistan gegen ihre Landsleute eingesetzt. Er lehne es ab, Waffengewalt gegen seine kurdischen Landsleute anzuwenden. Im Falle seiner Rückkehr würde ihm im Zusammenhang mit seiner Entziehung vom Militärdienst die unverzügliche Verhaftung und Verurteilung zu einer langjährigen Freiheitsstrafe, unter Umständen sogar zur Todesstrafe drohen.

Darüber hinaus machte der Beschwerdeführer geltend, daß er vor seiner Einreise in Österreich in keinem seiner Durchreiseländer (Bulgarien, Jugoslawien und Ungarn) vor Verfolgung sicher gewesen sei. In Ungarn zählten die Türken zu den außereuropäischen Flüchtlingen, hinsichtlich derer Ungarn einen Vorbehalt zur Genfer Flüchtlingskonvention erklärt habe. Es sei keinesfalls gesichert, daß er im Falle seiner Rückkehr in eines der genannten Länder vor einer Rückschiebung in die Türkei sicher wäre.

Bei seiner niederschriftlichen Einvernahme bestätigte der Beschwerdeführer im wesentlichen dieses Vorbringen im Asylantrag und führte über Befragung ergänzend aus, daß er nach seiner Verhaftung im März 1992 sowohl über die PKK als auch über die TKP-ML verhört worden sei. Bei diesem Verhör habe man ihm die Augen verbunden und elektrische Stöße versetzt. Man habe ihm dabei an einem Ohr und an den Hoden ein Kabel angeklemmt. Überdies habe man ihm beide Hände seitlich festgebunden und ihn in dieser Form hochgezogen. Diese Mißhandlungen hätten sich über drei Tage erstreckt. Abgesehen von diesem Martyrium sei er wegen des Verdachtes seiner Zugehörigkeit zu einer verbotenen Organisation bis zu seiner Ausreise keinen Verfolgungen mehr ausgesetzt gewesen. Er habe etwa Mitte April 1992 den Einberufungsbefehl erhalten. Er hätte demgemäß am 26. September 1992 zum Militär einrücken sollen. Er habe sich dann sofort gedacht, er würde von den Militärbehörden eingesetzt, um "gegen meine Brüder als Soldat der türkischen Armee in den Ostprovinzen kämpfen zu müssen. Das wollte ich natürlich nicht." Diese Information habe er aus Gesprächen mit anderen Kurden erhalten. Er kenne einen Freund "namens Turabi", dem dies als Kurde widerfahren sei. Wenn er jetzt in die Türkei zurückkehren müßte, würde man ihn einsperren und wahrscheinlich auch foltern. Man würde dies deshalb tun, weil er "fahnenflüchtig" sei.

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 13. Juni 1992 wurde dieser Asylantrag wegen Verneinung der Flüchtlingseigenschaft abgewiesen.

In der dagegen erhobenen Berufung machte der Beschwerdeführer insbesondere neuerlich geltend, man habe ihn durch die Einberufung zum Militärdienst "aus dem Verkehr ziehen" und im kurdischen Krisengebiet einsetzen wollen. Es sei einem Wehrpflichtigen nicht zumutbar, in einer bürgerkriegsähnlichen Situation gegen eigene Landsleute Gewalt anwenden zu müssen. Die Weigerung, den Militärdienst abzuleisten, sei daher politisch begründet und die "daraus resultierenden Verfolgungshandlungen ebenfalls politisch motiviert".

Mit ihrem Bescheid vom 26. August 1993 wies die belangte Behörde die Berufung gemäß § 66 Abs. 4 AVG ab.

Begründend führte die belangte Behörde darin aus, daß sie "grundsätzlich von der Glaubwürdigkeit seiner Angaben ausgehe", weshalb es auch der Einvernahme der vom Beschwerdeführer angebotenen Zeugen nicht bedurft habe.

Die allgemeinen Benachteiligungen des Beschwerdeführers als Kurde (das allgemeine Mißtrauen, die polizeilichen Belästigungen) reichten für die Asylgewährung nicht aus. Die Tätigkeit des Beschwerdeführers für die verbotene Partei TKP-ML sei den türkischen Behörden nicht bekannt geworden, weshalb der Beschwerdeführer diesbezüglich auch keinen Verfolgungshandlungen ausgesetzt gewesen sei.

Hinsichtlich seiner Teilnahme an der Demonstration anläßlich des "Newroz-Festes" am 21. März 1992 sei dem Beschwerdeführer entgegenzuhalten, daß Beschränkungen des Versammlungsrechtes oder der Abhaltung von Demonstrationen keinen im Asylgesetz genannten Grund darstellten. Die Festnahme oder Anhaltung von Teilnehmern an verbotenen Demonstrationen könnten deshalb keine Verfolgungshandlung darstellen. Konsequenzen aus der Teilnahme an einer derartigen Demonstration könnten nicht als Verfolgung im Sinne des Asylgesetzes 1991 qualifiziert werden.

Der Beschwerdeführer habe noch zwei Monate bis zu seiner Ausreise zugewartet, sodaß zwischen seiner Verhaftung im März 1992 und seiner Ausreise im Mai 1992 kein zeitlicher Zusammenhang mehr bestünde. Den Angaben des Beschwerdeführers sei zu entnehmen, daß er sein Heimatland deshalb verlassen habe, weil er den Einberufungsbefehl erhalten habe. Die Einberufung zum Militärdienst stelle aber keine Verfolgung im Sinne des § 1 Asylgesetz 1991 dar. Die Militärdienstpflicht und deren Sicherstellung durch Strafandrohung sei eine auf einem originären und souveränen staatlichen Recht beruhende legitime Maßnahme, weshalb eine unter Umständen auch strenge Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung bzw. Desertion als solche keine Verfolgung im Sinne des § 1 leg. cit. sei. Die Beweggründe des Beschwerdeführers für die Entziehung vom Militärdienst seien asylrechtlich insofern unbeachtlich, als sie noch keine Rückschlüsse auf eine Verfolgungsmotivation des Staates zuließen.

Einerseits handle es sich bei der Aussage des Beschwerdeführers, man habe ihn durch den Einberufungsbefehl "aus dem Verkehr ziehen" wollen und man habe es darauf angelegt, ihn" gegen kurdische Landsleute einzusetzen", lediglich um eine Vermutung. Überdies wäre beim Einsatz von Kurden bei allfälligen Operationen des türkischen Militärs gegen "Angehörige der kurdischen Ethnie" der Erfolg dieser Einsätze in Frage gestellt. Aber selbst wenn man von der Richtigkeit der Vermutung des Beschwerdeführers ausgehe, könne nicht von einer asylrelevanten Verfolgung gesprochen werden, weil es sich bei der Militärdienstpflicht um eine staatliche Pflicht handle, die jeder Staatsbürger zu erfüllen habe. So habe etwa der Verwaltungsgerichtshof erkannt, daß eine Wehrdienstverweigerung auch dann die Asylgewährung nicht rechtfertige, wenn "diese" aus religiösen Gründen abgelehnt werde.

Dieser Bescheid der belangten Behörde vom 26. August 1993 wurde mit hg. Erkenntnis vom 10. Oktober 1994, Zl. 94/20/0121, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes (infolge Aufhebung des Wortes "offenkundig" durch den Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 1. Juli 1994, G 92, 93/94) aufgehoben.

Im Rahmen des daraufhin bei der belangten Behörde wiederum anhängig gewordenen Berufungsverfahrens ermöglichte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer im Sinne des zitierten Erkenntnisses, einfache Verfahrensmängel zu rügen und etwa daraus folgende Sachverhaltsergänzungen vorzunehmen. Zugleich wurde dem Beschwerdeführer vorgehalten, daß er sich vor Einreise in das Bundesgebiet in Ungarn aufgehalten habe, wo er keiner Gefahr einer Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. Die belangte Behörde stützte sich dabei auf eine zitierte Stellungnahme des UNHCR vom 4. Juli 1994, wonach aufgrund einer informellen Vereinbarung zwischen dem UNHCR und der ungarischen Regierung nichteuropäische Asylwerber an den UNHCR verwiesen würden. Bis zur "Finalisierung" des Asylverfahrens, welches vom UNHCR selbst geführt werde, dürften diese danach in Ungarn verbleiben. Im Falle der positiven Feststellung der Flüchtlingseigenschaft würden nichteuropäische Asylwerber aus Ungarn nicht abgeschoben werden. Außerdem gehe die belangte Behörde aufgrund "der allgemeinen Lage" in Ungarn davon aus, daß der Beschwerdeführer dort keiner Verfolgung ausgesetzt gewesen sei.

In seiner Stellungnahme vom 3. März 1995 erklärte der Beschwerdeführer zunächst, sein bisheriges Vorbringen aufrecht zu erhalten. Er würde "nach wie vor in der Türkei wegen politischer Aktivitäten" gesucht. Er könne dafür eine Bestätigung der Behörde über einen türkischen Rechtsanwalt erlangen und ersuche zur Vorlage dieser Bestätigung um die Einräumung einer Frist von sechs Wochen. Zum Beweis der Richtigkeit seines Vorbringens beantrage er auch die Einvernahme eines namentlich angebotenen Zeugen. Im Falle einer Rückkehr in die Türkei stünde ihm eine mehrjährige Haftstrafe wegen seiner Entziehung vom Militärdienst bevor und in der Folge würde er dann im Kurdengebiet gegen seine Landsleute eingesetzt werden. Er müsse damit rechnen, sofort am Flughafen verhaftet, heimlich in ein Gefängnis verbracht und dort gefoltert oder getötet zu werden. Gegen die ihm vorgehaltene Auffassung der Behörde, daß er in Ungarn bereits Schutz vor Verfolgung gefunden habe, brachte der Beschwerdeführer nichts vor.

Mit dem NUNMEHR angefochtenen (Ersatz-)Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführers gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 13. Juni 1992 neuerlich gemäß § 66 Abs. 4 AVG ab und verwehrte damit das Asyl. In der Begründung verwies die belangte Behörde auf ihren (mit hg. Erkenntnis vom 10. Oktober 1994 aufgehobenen) Vorbescheid und brachte zum Ausdruck, daß sie die dort enthaltenen "Ausführungen" übernehme und ihrer neuerlichen Entscheidung zugrundelege. Hinsichtlich der beantragten Einräumung einer Frist zur Vorlage der angekündigten Bestätigung der türkischen Behörden sei zu bemerken, daß der Beschwerdeführer am 10. Juni 1992 den Asylantrag gestellt und somit zwei Jahre und acht Monate Zeit gehabt habe, sich ein "dergestaltes Verfolgtheitszertifikat" zu beschaffen. Es habe "diesem Ansinnen" deshalb nicht entsprochen werden können. Da der Sachverhalt feststehe, habe auch auf die Einvernahme des noch angebotenen Zeugen verzichtet werden können. Der Hinweis des Beschwerdeführers auf einschlägige Zeitungsberichte in den türkischen und österreichischen Medien sei unbeachtlich, weil daraus keine konkreten, gegen den Beschwerdeführer selbst gerichteten Verfolgungshandlungen abzuleiten seien, was der Beschwerdeführer im übrigen gar nicht behauptet habe.

Der Asylgewährung stünde überdies der Asylausschlußgrund des § 2 Abs. 2 Z. 3 Asylgesetz 1991 entgegen, weil sich der Beschwerdeführer vor Einreise nach Österreich in Ungarn aufgehalten und dort Verfolgungssicherheit erlangt habe. Ungarn habe zwar die Genfer Flüchtlingskonvention mit einem auf Ereignisse in Europa beschränkten Vorbehalt ratifiziert, jedoch dessen ungeachtet bestehe für außereuropäische Flüchtlinge praktisch ein lückenloser Abschiebungsschutz. Dem Beschwerdeführer sei zur Wahrung des rechtlichen Gehörs diese Auffassung vorgehalten worden und dieser habe dagegen nichts vorgebracht. Demgemäß sei von der Erfüllung dieses Asylausschlußgrundes auszugehen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Zunächst ist der Beschwerdeführer darauf hinzuweisen, daß das von der belangten Behörde durchgeführte ergänzende Verfahren lediglich der Ermöglichung der Geltendmachung einfacher Verfahrensmängel im Sinne des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes vom 1. Juni 1994 diente. Auf neues Vorbringen zur Begründung der Flüchtlingseigenschaft des Beschwerdeführers mußte die belangte Behörde - ein Fall des § 20 Abs. 2 AsylG 1991 liegt nicht vor - nicht eingehen, sondern durfte sie sich insoweit auf § 20 Abs. 1 leg. cit. stützen; wenn sie in diesem Rahmen ihre Ausführungen im aufgehobenen (Vor-)Bescheid übernahm, so ist darin entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers kein Verfahrensmangel zu erblicken (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 10. Oktober 1996, Zl. 95/20/0501).

Die Beschwerde erweist sich aber aus nachstehend angeführten Erwägungen als begründet: Der Beschwerdeführer stützt seine Fluchtgründe einerseits auf die anläßlich des "Newroz-Festes" erfolgte Verhaftung und die dabei erlittenen Folterungen wegen des von den türkischen Behörden vermuteten Verdachtes seiner Zugehörigkeit zu einer verbotenen politischen Partei, andererseits darauf, daß er aufgrund des im April 1992 erhaltenen Einberufungsbefehls befürchtet habe, wegen seiner nunmehrigen "politischen Auffälligkeit" aus dem "Verkehr" hätte gezogen werden sollen, um in der Osttürkei "gegen seine kurdischen Landsleute" eingesetzt zu werden.

Die belangte Behörde hat den Angaben des Beschwerdeführers grundsätzlich Glaubwürdigkeit beigemessen.

Soweit die belangte Behörde damit argumentiert, daß die Tätigkeit des Beschwerdeführers bei der verbotenen Partei TKP-ML den türkischen Behörden nicht bekannt geworden sei, weshalb er aus diesen Gründen keinen Verfolgungshandlungen ausgesetzt gewesen sei und daraus keine Furcht vor Verfolgung ableiten könne, übergeht sie die Aussage des Beschwerdeführers, daß er im Gefolge seiner Verhaftung anläßlich des "Newroz-Festes" wegen des Verdachtes der Zugehörigkeit zu einer verbotenen Partei verhört worden sei und dabei schwere Folterungen habe erleiden müssen. Die Rechtsauffassung der belangten Behörde, Konsequenzen aus der Teilnahme an verbotenen Demonstrationen könnten generell nicht als Verfolgung im Sinne des Asylgesetzes 1991 qualifiziert werden, ist unhaltbar. Die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes sieht in (bloßen) Festnahmen, kurzfristigen Anhaltungen und Verhören nur dann keine asylrelevante Intensität, wenn diese ohne weitere (schwerwiegende) Folgen bleiben. Im hier vorliegenden Fall hat der Beschwerdeführer schwere Mißhandlungen im Zuge seiner Anhaltung durch die türkischen Behörden hinnehmen müssen, sodaß diese Rechtsprechung nicht zum Tragen kommt.

Die Rechtsauffassung, die Einberufung zum Militärdienst stelle keine Verfolgung im Sinne des Asylgesetzes 1991 dar, weil die erforderliche Verfolgungsmotivation nicht gegeben sei und die Militärdienstpflicht und deren Sicherstellung durch Strafandrohung eine auf einem originären und souveränen staatlichen Recht beruhende legitime Maßnahme darstelle, entspricht in dieser allgemeinen Form, ohne Bedachtnahme auf die konkreten Umstände des Einzelfalles, nicht der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes. Zwar rechtfertigt danach die Verweigerung der Ableistung des Militärdienstes - worunter sowohl die Nichtbefolgung der Einberufung zum Militärdienst als auch nach dessen Antritt die Desertion zu verstehen ist - grundsätzlich die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht. Allerdings kann eine darauf zurückzuführende Furcht vor Verfolgung insbesondere dann asylrechtlich relevant sein, wenn die Einberufung bzw. eine unterschiedliche Behandlung während des Militärdienstes aus einem der in § 1 Z. 1 Asylgesetz 1991 (übereinstimmend mit Art. 1 Abschnitt A Z. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) genannten Gründe erfolgt wäre oder aus solchen Gründen schärfere Sanktionen drohten (vgl. dazu insbesondere das Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 29. Juni 1994, Zl. 93/01/0377). Der Beschwerdeführer hat im vorliegenden Fall geltend gemacht, daß er als "politisch auffällig gewordener" Kurde aus dem "Verkehr" hätte gezogen werden sollen und die Einberufung zum Militärdienst darauf angelegt gewesen sei, ihn in der Osttürkei gegen seine "kurdischen Landsleute" einzusetzen, was er jedoch aufgrund seiner Gesinnung ablehne. Die Auffassung der belangten Behörde, daß dieses Vorbringen keine Asylrelevanz aufweise, ist vor dem Hintergrund der im vorerwähnten Sinn ergangenen Judikatur unzutreffend. Der Beschwerdeführer war nach den Feststellungen der belangten Behörde als ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit bei der Teilnahme an einer von der türkischen Regierung als gegen sie gerichteten (verbotenen) politischen Demonstration verhaftet, wegen des Verdachtes der Zugehörigkeit zu einer verbotenen politischen Partei verhört und schwer mißhandelt worden. In einem unmittelbaren zeitlichen Anschluß daran war er - bei Zutreffen seiner Behauptungen - zum Militärdienst in der Absicht einberufen worden, im Rahmen des Wehrdienstes gegen politisch gleichgesinnte Oppositionelle eingesetzt zu werden. Damit war aber die Einberufung des Beschwerdeführers zum Militärdienst gerade darauf gerichtet, ihn in Anknüpfung an ein asylerhebliches Merkmal, nämlich seine unerwünschte politische Gesinnung, zu treffen. Der durch die Militärdienstpflicht und die damit verbundene Sanktionsandrohung bewirkte Zwang zum Einrücken sowie zum Einsatz mit Waffengewalt gegen politisch Gleichgesinnte hätte im konkreten Fall Asylrelevanz, nämlich durch den dadurch beabsichtigten Konflikt mit den politischen Zielen des Beschwerdeführers, der wegen seiner politischen Gesinnung gegenüber anderen Staatsangehörigen angesichts der Umstände der Einberufung und Ableistung des Militärdienstes eine gezielte (erhebliche) Schlechterstellung erdulden müßte.

Damit erhielte auch die durch die Entziehung vom Militärdienst verbundene Strafandrohung ein asylerhebliches Merkmal, weil sie nicht mehr der Durchsetzung einer jeden Staatsbürger betreffenden Pflicht diente, sondern der Verfolgung einer mit der Einberufung zu treffenden (allenfalls unterstellten) politischen Gesinnung des Beschwerdeführers.

Die Schlußfolgerung der belangten Behörde, die Vermutung des Beschwerdeführers, daß man ihn durch den Einberufungsbefehl "aus dem Verkehr" hätte ziehen wollen, sei deshalb unwahrscheinlich, weil er sich im wehrpflichtigen Alter befinde, ist nicht nachvollziehbar. Der Beschwerdeführer hatte angegeben, daß er seine diesbezügliche Befürchtung aus Gesprächen mit anderen kurdischen Landsleuten begründet gesehen habe, insbesondere habe ihm davon auch ein namentlich genannter Freund erzählt, dem dies selbst widerfahren sei. Hinzu kommt, daß die Einberufung in einem zeitlich unmittelbaren Anschluß an die Verhaftung des Beschwerdeführers anläßlich seiner Teilnahme an der Demonstration im März 1992 erfolgte. Die Begründung, "beim Einsatz von Kurden bei allfälligen Operationen des türkischen Militärs gegen Angehörige der kurdischen Ethnie wäre der Erfolg dieser Einsätze in Frage gestellt", folgt der schon wiederholt vom Verwaltungsgerichtshof als unschlüssig angesehenen Argumentationslinie mit dem "rationalen Kosten-Nutzen-Kalkül" (vgl. dazu die Erkenntnisse vom 17. Juni 1992, Zlen. 91/01/0207, 0208, vom 7. Oktober 1993, Zl. 93/01/0394, vom 23. Mai 1995, Zl. 94/20/0806 uva.).

Trotz vorliegender Flüchtlingseigenschaft wäre jedoch für den Beschwerdeführer nichts zu gewinnen, wenn einer der Ausschlußgründe des § 2 Abs. 2 Z. 3 Asylgesetz 1991 vorläge, wonach einem Flüchtling kein Asyl gewährt wird, wenn er bereits in einem anderen Staat vor Verfolgung sicher war. Der Beschwerdeführer hat zwar durch das Schreiben der belangten Behörde vom 15. Februar 1995 die Möglichkeit eingeräumt erhalten, gegen die zur Stützung der "Verfolgungssicherheit" in Ungarn gebrauchten Annahme sachgerechte Einwendungen im Berufungsverfahren zu erheben. Der Beschwerdeführer macht aber zutreffend geltend, daß er bereits im Verfahren erster Instanz geltend gemacht hat, zum Zeitpunkt seiner Durchreise durch Ungarn keine Sicherheit vor Verfolgung erlangt zu haben. Die Begründung der Annahme der erlangten Sicherheit vor Verfolgung in Ungarn im angefochtenen Bescheid ist insbesondere deshalb nicht nachvollziehbar, weil unüberprüfbar ist, ob der Beschwerdeführer damals (im Jahr 1992) Sicherheit vor Verfolgung in Ungarn erlangen konnte. Es kann nämlich (auch mangels Vorhandenseins dieses "Gutachtens") nicht nachvollzogen werden, ob sich das darin festgelegte "Arrangement zwischen dem UNHCR und der ungarischen Regierung" bereits auf den Zeitraum Mai 1992 bezogen hat. Die Begründung der Verfolgungssicherheit in Ungarn im Jahr 1992 mit einem im Juli 1994 erstatteten "Gutachten des UNHCR für das deutsche Bundsverfassungsgericht" ist in dieser Form unschlüssig, welcher Verfahrensmangel angesichts der zu erfolgenden Beurteilung der (faktischen) Sicherheit im Durchreisezeitpunkt aufzugreifen war (siehe dazu auch das hg. Erkenntnis vom 10. Oktober 1996, Zl. 95/20/0179).

Da die Rechtswidrigkeit wegen Inhaltes der Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften vorgeht, war der bekämpfte Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1996:1995200229.X00

Im RIS seit

20.11.2000
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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