Entscheidungsdatum
30.08.2021Norm
AsylG 2005 §11Spruch
W137 2215063-1/33E
W137 2215068-1/26E
W137 2215066-1/25E
W137 2215065-1/25E
W137 2221390-1/11E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Peter HAMMER als Einzelrichter über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX , 3.) XXXX , geb. XXXX , 4.) XXXX , geb. XXXX und 5.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Afghanistan, vertreten durch MigrantInnenverein St. Marx, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils vom 22.01.2019, 1.) Zl. 18-1200236103-180699041, 2.) ZI. 18-1200244802-180699084, 3.) ZI. 18-1200234501-180699076, 4.) ZI. 18-1200235705-180699068 sowie vom 07.06.2019, 5.) Zl. 19-1228071104-190481841 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 31.05.2019 und 14.05.2021 zu Recht erkannt:
A)
I. Der Beschwerde wird stattgegeben und 1.) XXXX , 2.) XXXX , 3.) XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der / des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass 1.) XXXX , 2.) XXXX , und 3.) XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
II. Der Beschwerde wird stattgegeben und 4.) XXXX , 5.) XXXX gemäß § 34 Abs. 1 und 2 iVm § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass 4.) XXXX und 5.) XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Erstbeschwerdeführer, die Zweitbeschwerdeführerin, sowie die minderjährigen Dritt- und Viertbeschwerdeführer_innen reisten illegal nach Österreich ein und stellten am 24.07.2018 Anträge auf internationalen Schutz.
2. Am selben Tag fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung der Erst- und Zweitbeschwerdeführer_innen statt. Der Erstbeschwerdeführer brachte dabei vor, dass er afghanischer Staatsangehöriger sei und der Volksgruppe der Tadschiken sowie der schiitischen Glaubensrichtung angehöre. Er sei mit der Zweitbeschwerdeführerin verheiratet, habe zwei Kinder (die Drittbeschwerdeführerin und den Viertbeschwerdeführer) und stamme aus der Provinz Wardak. Der Erstbeschwerdeführer habe acht Jahre lang die Schule besucht und eine Ausbildung zum Krankenpfleger absolviert. In Afghanistan seien aktuell keine Familienangehörigen des Erstbeschwerdeführers aufhältig.
Die Zweitbeschwerdeführerin gab ebenfalls an, dass sie afghanische Staatsangehörige sei und der Volksgruppe der Tadschiken sowie der schiitischen Glaubensrichtung angehöre. Sie sei verheiratet, habe zwei Kinder und stamme ursprünglich aus der Provinz Herat. Die Zweitbeschwerdeführerin habe sieben Jahre lang die Schule besucht, habe jedoch nie einen Beruf ausgeübt. Von ihren Familienangehörigen seien derzeit ihre Eltern und ihre zwei Brüder in Afghanistan.
Zu den Fluchtgründen führte der Erstbeschwerdeführer aus, dass er in seinem Heimatdorf für eine paramilitärische Gruppe im Kampf gegen die Taliban gearbeitet habe. Während einer Toilettenpause sei seine Gruppe von den Taliban angegriffen worden, woraufhin er aus Angst davongelaufen sei. Aus diesem Grund sei der Erstbeschwerdeführer von seinen Kollegen als Verräter abgestempelt worden und habe in der Folge das Land verlassen. Die Zweitbeschwerdeführerin brachte ergänzend vor, dass sie im Alter von 15 Jahren von den Taliban entführt worden sei. Ihr jetziger Ehemann, der Erstbeschwerdeführer, habe sie dann von den Taliban befreit.
3. Am 13.08.2018 wurden der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin erstmals vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen. Dabei gab der Erstbeschwerdeführer an, in der Provinz Wardak geboren und aufgewachsen zu sein. Dort habe er auch acht Jahre lang die Schule besucht. Danach habe er in Afghanistan und auch in Pakistan als Krankenpfleger gearbeitet.
Befragt zu den Fluchtgründen gab der Erstbeschwerdeführer an, dass er in Afghanistan in einer Krankenpflegestation des Militärs gearbeitet habe. Bei Angriffen der Taliban hätte er diese auch verteidigen müssen. Am Tag des fluchtauslösenden Ereignisses habe der Erstbeschwerdeführer nachts in der Station Wache gehalten. Als er um ein Uhr in der Früh zur Toilette gegangen sei, habe er plötzlich Schüsse gehört. Aus Angst habe er sich dann in der Toilette versteckt. Bei dem Angriff seien mehrere Personen verletzt worden und die anderen Wachmänner hätten den Erstbeschwerdeführer danach beschuldigt, dass er mit den Talibankämpfern zusammengearbeitet habe. Zusätzlich brachte der Erstbeschwerdeführer vor, dass die Zweitbeschwerdeführerin zuvor von den Taliban entführt worden sei und er ihr geholfen habe, zu flüchten.
In ihrer Einvernahme führte die Zweitbeschwerdeführerin aus, in Herat geboren und bis zu ihrem 15. Lebensjahr dort gelebt zu haben. Im Alter von 15 Jahren habe sie das letzte Mal Kontakt zu ihren Eltern sowie zu ihren zwei Brüdern gehabt. Seither wisse sie nicht, wo sich ihre Familie aufhalte. Die Zweitbeschwerdeführerin bezog sich im Wesentlichen auf die Fluchtgründe des Erstbeschwerdeführers und gab ergänzend noch an, dass sie mit 15 Jahren von den Taliban entführt worden sei. In der Folge sei sie etwa drei Monat in der Provinz Helmand aufhältig gewesen, bis sie mit Hilfe des Erstbeschwerdeführers von den Taliban entkommen habe können.
4. Am 07.11.2018 fand eine weitere Einvernahme der erwachsenen Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl statt, in der sie ihre bereits zuvor erwähnten Fluchtgründe wiederholten. Überdies gab die Zweitbeschwerdeführerin als gesetzliche Vertreterin der Dritt- und Viertbeschwerdeführer_innen an, dass diese keine eigenen Fluchtgründe hätten.
In der Einvernahme wurden ein Empfehlungsschreiben und eine Schulbesuchsbestätigung der Dritt- und Viertbeschwerdeführer_innen vorgelegt.
5. Mit den nunmehr angefochtenen – im Spruch bezeichneten – Bescheiden vom 22.01.2019, wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Erst- bis Viertbeschwerdeführer_innen auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 leg.cit. (Spruchpunkt II.) ab und erteilte ihnen keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 leg.cit. (Spruchpunkt III.). Gegen die Erst- bis Viertbeschwerdeführer_innen wurde gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 leg.cit. festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 leg.cit. zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für ihre freiwillige Ausreise auf 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.).
Das Fluchtvorbringen des Erstbeschwerdeführers wurde als nicht glaubhaft angesehen. Die Angaben des Erstbeschwerdeführers über seine Fluchtgründe seien widersprüchlich, vage und nicht plausibel. Insbesondere seien die Angaben zum nächtlichen Angriff der Taliban nicht einheitlich. Auch die von der Zweitbeschwerdeführerin vorgebrachten Probleme mit den Taliban seien unplausibel. Weiters sei aus dem Vorbringen der Zweitbeschwerdeführerin nicht ersichtlich, dass ihre persönlichen Wertvorstellungen zur familiären und sozialen Stellung der Frau sich am in der sogenannten „westlichen Welt“ in einem Ausmaß widersprächen, welches eine Rückkehr für sie unzumutbar machen würde.
Der Erstbeschwerdeführer verfüge über soziale Kontakte in Afghanistan, weswegen er mit im Falle einer Rückkehr mit entsprechender materieller Unterstützung einschließlich einer zumindest temporären Wohnmöglichkeit rechnen könne. Doch auch selbst wenn er rein hypothetisch unterstellt auf sich alleine gestellt wäre, sei er im erwerbsfähigen Alter, arbeitswillig sowie arbeitsfähig und verfüge über eine überdurchschnittlich gute Schulbildung sowie über langjährige Berufserfahrung, weshalb auch davon ausgegangen werden könne, dass er wie bisher etwa als Krankenpfleger oder in verwandten Berufen erwerbstätig sein und für den Unterhalt seiner Familie sorgen werden könne.
Die Rückkehrentscheidung wurde damit begründet, dass die Erst- und Zweitbeschwerdeführer_innen nichts dargelegt hätten, was auf eine maßgebliche, tiefgreifende und nachhaltige Integrationsverfestigung ihrer Personen in Österreich hindeuten würde. Somit würden sie in Österreich über kein schützenswertes Privat- und Familienleben verfügen, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen würde.
6. Die Erst- bis Viertbeschwerdeführer_innen erhoben gegen die Bescheide fristgerecht Beschwerde. Darin wurde neben dem bisherigen Verfahrensgang ausgeführt, dass die belangte Behörde mangelhafte Länderfeststellungen getroffen habe und dadurch zu Unrecht davon ausgegangen sei, dass eine Rückkehr der Erst- bis Viertbeschwerdeführer_innen aufgrund der derzeitigen Sicherheits- und Versorgungslage zumutbar sei. Weiters habe die belangte Behörde eine unschlüssige Beweiswürdigung durchgeführt, da sie nicht plausibel begründet habe, wie sie zu dem Ergebnis komme, dass die Angaben zu den Fluchtgründen des Erstbeschwerdeführers nicht wahr seien. Die belangte Behörde habe zudem nicht berücksichtigt, dass sich die Zweitbeschwerdeführerin in Afghanistan wie in einem „Gefängnis“ gefühlt habe und sie aufgrund ihrer westlichen Orientierung ein selbstbestimmtes Leben Teil ihrer Identität geworden sei.
7. Mit Email vom 30.04.2019 stellte die Zweitbeschwerdeführerin als gesetzliche Vertreterin des am XXXX geborenen minderjährigen Fünftbeschwerdeführers einen Antrag auf Durchführung eines Familienverfahrens gemäß § 34 AsylG 2005.
8. Am 31.05.2019 erfolgte vor dem Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari eine öffentliche, mündliche Verhandlung mit den Erst- bis Viertbeschwerdeführer_innen. Ein Vertreter des Bundesamtes nahm an der Verhandlung nicht teil.
Die Erst- bis Viertbeschwerdeführer_innen gaben an, gesund zu sein und der Verhandlung in vollem Umfang folgen zu können. Die Zweitbeschwerdeführerin führte dann aus, in Afghanistan sechs Jahre lang die Schule besucht zu haben und eine Hausfrau gewesen zu sein. Die Dritt- und Viertbeschwerdeführer_innen seien dort von Privatlehrern unterrichtet worden. Weiters habe die Zweitbeschwerdeführerin in Österreich noch keinen Deutschkurs absolviert. Sie gehe manchmal zum Arzt oder spazieren. Wenn sie das Haus verlasse trage sie kein Kopftuch. Zu ihren Fluchtgründen brachte die Zweitbeschwerdeführerin vor, dass ihre Familie aufgrund von Problemen des Erstbeschwerdeführers Afghanistan verlassen habe müssen. Darüber hinaus habe die Zweitbeschwerdeführerin die bereits in ihrer Einvernahme geschilderten Probleme gehabt. Zu ihren Verwandten in Afghanistan habe sie keinen Kontakt.
Der Erstbeschwerdeführer gab an, in der Provinz Maidan Wardak im Distrikt Jalrez gelebt zu haben. Er habe den Beruf des Ersthelfers erlernt und habe eine eigene Apotheke betrieben. Zu seinen Fluchtgründen brachte er vor, dass es in seinem Heimatdorf sehr viele selbstorganisierte Wachposten gegeben habe, weil es immer wieder zu Anhaltungen von Dorfbewohnern durch die Taliban gekommen sei. Der Erstbeschwerdeführer habe zwei- bis dreimal in der Woche Wache gehalten. Eines nachts, als er seinen Wachposten verlassen habe, um auf die Toilette zu gehen, hätten die Taliban angegriffen. Daraufhin habe sich der Erstbeschwerdeführer aus Angst auf der Toilette versteckt, weswegen er in der Folge von seinen Kollegen beschuldigt worden sei, den Wachposten an die Taliban verkauft zu haben und somit auch für den Angriff verantwortlich zu sein. Zudem werde er auch noch von der Regierung verfolgt, weil er dafür verantwortlich sei, dass zwei von der Regierung erhaltenen Waffen verloren gegangen seien.
Die minderjährigen Dritt- und Viertbeschwerdeführer_innen gaben in der Verhandlung lediglich an, dass sie in Österreich die Schule besuchen und Hausaufgaben machen würden. Sie würden neben der Schule keinen besonderen Beschäftigungen nachgehen. Zu den Fluchtgründen ihrer Familie hätten sie keine Informationen.
In der mündlichen Verhandlung legten die Dritt- und Viertbeschwerdeführer_innen ihre Schulzeugnisse vom Schuljahr 2018/19 vor.
9. Am 06.06.2019 erfolgte die niederschriftliche Einvernahme der Zweitbeschwerdeführerin als gesetzliche Vertreterin des Fünftbeschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl.
Dabei gab die Zweitbeschwerdeführerin an, dass der Fünftbeschwerdeführer keine eigenen Fluchtgründe habe.
10. Mit dem nunmehr ebenfalls angefochtenen – im Spruch bezeichneten – Bescheid vom 07.06.2019, wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Fünftbeschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 leg.cit. (Spruchpunkt II.) ab und erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 leg.cit. (Spruchpunkt III.). Gegen den Fünftbeschwerdeführer wurde gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 leg.cit. festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 leg.cit. zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für seine freiwillige Ausreise auf 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.).
Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aus, dass die Zweitbeschwerdeführerin als gesetzliche Vertreterin des Fünftbeschwerdeführers in der Einvernahme vom 06.06.2019 angegeben habe, dass der Fünftbeschwerdeführer keine eigenen Fluchtgründe habe. Sein Asylantrag beziehe sich ausschließlich auf die Gründe der seiner Eltern.
Diese Entscheidung wurde nach einem erfolglosen Zustellversuch an die bevollmächtigte Rechtsanwältin hinterlegt, wobei die Abholfrist mit 14.06.2019 zu laufen begann.
11. Der Fünftbeschwerdeführer erhob durch seine bevollmächtigte Rechtsanwältin gegen diesen Bescheid am 15.07.2019 – und somit verspätet – Beschwerde. Darin wurde vorgebracht, dass der Fünftbeschwerdeführer vor wenigen Monaten in Österreich geboren sei und seine Fluchtgründe sowie die Beschwerdegründe sich auf jene der Eltern stützen würden.
12. Mit Schreiben vom 18.07.2019, GZ: W137 2221390-1/2Z übermittelte das Bundesverwaltungsgericht der Rechtsanwältin einen Verspätungsvorhalt. In Reaktion darauf brachte diese am 01.08.2019 einen Antrag auf Wiedereinsetzung gemäß § 71 Abs. 1 AVG ein. Inhaltlich wurde auf eine zum Hinterlegungszeitpunkt erfolgte personelle Umstrukturierung in der Kanzlei sowie ein Missverständnis aufgrund einer Absprache mit dem Postzusteller verwiesen.
13. Mit Schreiben vom 19.11.2019 wurde den Erst- bis Fünftbeschwerdeführer_innen das Länderinformationsblatt (LIB) vom November 2019 übermittelt und ihnen die Möglichkeit eingeräumt, dazu Stellung zu nehmen.
14. Am 02.12.2019 langte beim Bundesverwaltungsgericht eine Stellungnahme der Rechtsvertretung der Erst- bis Fünftbeschwerdefürher_innen zum Länderinformationsblatt ein. Darin wurde lediglich ausgeführt, dass auf das Vorbringen in der Beschwerde und in der mündlichen Verhandlung verwiesen werde.
15. Mit Beschluss vom 04.03.2020 bewilligte das Bundesverwaltungsgericht den vom Fünftbeschwerdeführer eingebrachten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vom 01.08.2019.
16. Mit Schreiben vom 22.07.2020 legten die Erst- bis Fünftbeschwerdeführer_innen ein Empfehlungsschreiben, Schulzeugnisse der Dritt- und Viertbeschwerdeführer_innen sowie weitere Integrationsunterlagen vor.
17. Mit Schreiben vom 23.04.2021 wurden den Erst- bis Fünftbeschwerdeführer_innen das Länderinformationsblatt (LIB) vom 01.04.2021 übermittelt und ihnen die Möglichkeit eingeräumt dazu Stellung zu nehmen.
18. Am 14.05.2021 erfolgte vor dem Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari eine weitere mündliche Verhandlung mit den Erst- bis Fünftbeschwerdeführer_innen. Ein Vertreter des Bundesamtes nahm an der Verhandlung nicht teil.
Die Erst- bis Fünftbeschwerdeführer_innen gaben an, gesund zu sein und der Verhandlung in vollem Umfang folgen zu können. Befragt zur Integration in Österreich führte der Erstbeschwerdeführer aus, einen A1-Deutschkurs besucht zu haben, aber aufgrund der Corona-Virus-Pandemie habe er die dazugehörige Prüfung noch nicht machen können. Weiters würde er gerne einen Beruf ausüben und sei auch auf der Arbeitssuche.
Die Zweitbeschwerdeführerin brachte vor, in den letzten zwei Jahren hauptsächlich mit der Erziehung ihrer Kinder beschäftigt gewesen zu sein. Seit etwa eineinhalb Jahren sei sie aufgrund starker Rückenprobleme in Behandlung. Die Zweitbeschwerdeführerin würde gerne die deutsche Sprache bis Niveau B2 lernen und den Beruf einer Friseurin ausüben.
Befragt zum Leben in den letzten zwei Jahren gaben die Dritt- und Viertbeschwerdeführer_innen im Wesentlichen an, die Schule besucht und die Freizeit mit ihren Freunden sowie mit ihrer Familie verbracht zu haben. Die Drittbeschwerdeführerin gab an, gerne mit Freundinnen und Freunden aus der Schule Rad zu fahren und mit ihrem Bruder Fußball zu spielen. Sie bemühe sich, möglichst viel deutsch zu sprechen und würde später gerne als Lehrerin arbeiten.
In der mündlichen Verhandlung legten die Erst- bis Fünftbeschwerdeführer_innen einen ärztlichen Befund der Zweitbeschwerdeführerin sowie weitere zum Teil bereits im gegenständlichen Verfahren vorgelegte Integrationsunterlagen vor.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Aufgrund der der Entscheidung zugrunde liegenden Akten des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl sowie des Bundesverwaltungsgerichtes steht nachstehender entscheidungswesentlicher Sachverhalt als erwiesen fest:
1.1. Die Beschwerdeführer_innen sind Staatsangehörige von Afghanistan, gehören der Volksgruppe der Tadschiken und dem schiitischen Glauben an. Der Erstbeschwerdeführer führt den Namen XXXX (GZ: W137 2215068), ist der Ehemann der Zweitbeschwerdeführerin, XXXX (GZ: W137 2215063), und die beiden sind die Eltern der minderjährigen XXXX (GZ: W137 2215066 - Drittbeschwerdeführerin), XXXX (GZ: W137 2215065 - Viertbeschwerdeführer) sowie XXXX (GZ: W137 2221390-1 - Fünftbeschwerdeführer).
Die Erst- bis Viertbeschwerdeführer_innen verließen Afghanistan Ende 2017/Anfang 2018 und stellten in Österreich am 24.07.2018 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz. Für den am XXXX im österreichischen Bundesgebiet geborenen Fünftbeschwerdeführer stellte die Zweitbeschwerdeführerin als seine gesetzliche Vertreterin am 30.04.2019 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Die Erst- bis Viertbeschwerdeführer_innen stammen aus der Provinz Maidan Wardak und lebten dort bis zu ihrer Ausreise in wirtschaftlich gesicherten Verhältnissen. Die Beschwerdeführer_innen verfügen in ihrem Heimatland über keine Verwandten, von denen sie eine Unterstützung erhalten könnten. Der Erstbeschwerdeführer besuchte in Afghanistan acht Jahre die Schule und war anschließend in seinem Herkunftsstaat sowie etwa zwei Jahre in Pakistan als Krankenpfleger tätig. In den letzten beiden Jahren vor seiner Ausreise aus Afghanistan arbeitete er zusätzlich bei einer selbstorganisierten Sicherheitseinheit, die Wachposten zum Schutz der Dorfbewohner errichtet hat. Er war in diesem Zusammenhang auch in Scharmützel mit den Taliban verwickelt. Die Zweitbeschwerdeführerin besuchte in ihrem Herkunftsstaat sechs Jahre lang die Schule, war aber nie beruftstätig. Sie wurde als Teenager von den Taliban entführt, konnte aber Unterstützt von ihrem nunmehrigen Mann, entkommen.
Die wirtschaftliche Existenz der Familie war durch die Berufstätigkeit des Erstbeschwerdeführers gesichert.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin stehen hinsichtlich ihres Lebensmodells und ihrer gesellschaftlichen Einstellungen auf Standpunkten, die der Ideologie der Taliban widersprechen. Insbesondere betrifft das die Unterstützung der Möglichkeit zur Bildung und Berufsausübung von Frauen sowie die Ablehnung strikter Kleidungsvorschriften für Frauen. Ein gänzlicher Bruch mit den Werten der afghanischen Gesellschaft – wie sie sich bis Juli 2021 in den städtischen Zentren des Landes darstellten – ist allerdings in beiden Fällen nicht feststellbar. Das Vorbringen des Erstbeschwerdeführers hinsichtlich einer drohenden Verfolgung durch die offizielle afghanische Regierung beziehungsweise deren Sicherheitsbehörden erweist sich als nicht glaubhaft.
Die Drittbeschwerdeführerin, ist eine rund 15 Jahre alte mündige Minderjährige. Sie besucht in Österreich die Schule, trägt kein Kopftuch und geht altersüblichen Freizeitbeschäftigungen nach. Auch ihre Lebensführung (und ihre Wünsche/Pläne hinsichtlich Ausbildung und Beruf) war bis Juli 2021 in den städtischen Zentren des Landes verwirklichbar. Auch sie legt kein Verhalten oder eine Einstellung an den Tag, der einen gänzlichen Bruch mit den Werten der afghanischen Gesellschaft in diesen Landesteilen dargestellt hätte. Ihr Freizeitleben ist weitgehend auf die Familie (insbesondere den jüngeren Bruder) und einige Freundinnen und Freunde aus der Schule in der näheren Umgebung des Wohnsitzes konzentriert. Eine substanzielle Änderung der Freizeitgestaltung – insbesondere in Hinblick auf mehr Autonomie - zwischen den Verhandlungsterminen im Mai 2019 und Mai 2021 ist nicht feststellbar. Der schulpflichtige Viertbeschwerdeführer besucht in Österreich die Schule und geht alterstypischen Freizeitbeschäftigungen nach; der Fünftbeschwerdeführer ist ein erst etwas über zwei Jahre altes Kleinkind.
Die strafmündigen Beschwerdeführer_innen sind in Österreich durchgehend strafgerichtlich unbescholten.
Die Erst- bis Fünftbeschwerdeführer_innen leiden an keinen lebensbedrohlichen Krankheiten. Die Zweitbeschwerdeführerin ist aufgrund von Rückenschmerzen (Hyperlordose der Lendenwirbelsäule) in medizinischer Behandlung.
1.4. Zur aktuellen Lage im Herkunftsstaat der Antragsteller wird festgestellt:
Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ist angesichts des Vormarsches der Taliban auf Kabul außer Landes geflohen. Laut al-Jazeera soll das Ziel Taschkent in Usbekistan sein. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über den Präsidentenpalast in Kabul übernommen. Suhail Schahin, ein Unterhändler der Taliban bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, versicherte den Menschen in Kabul eine friedliche Machtübernahme und keine Racheakte an irgendjemanden zu begehen (tagesschau.de 15.8.2021). Am 15.08.21 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von welchem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen. In einigen der Städte seien Gefängnisse gestürmt und Insassen befreit worden (BAMF 16.8.2021; vgl. bbc.com o.D., orf.at 16.8.2021). Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Wien, 17.8.2021 .BFA Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Seite 2 von 5 Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen (orf.at 16.8.2021a). Schätzungen zufolge wurden seit Anfang 2021 über 550.000 Afghanen durch den Konflikt innerhalb des Landes vertrieben, darunter 126.000 neue Binnenvertriebene zwischen dem 7. Juli 2021 und dem 9. August 2021. Es gibt zwar noch keine genauen Zahlen über die Zahl der Afghanen, die aufgrund der Feindseligkeiten und Menschenrechtsverletzungen aus dem Land geflohen sind, es deuten aber Quellen darauf hin, dass Zehntausende von Afghanen in den letzten Wochen internationale Grenzen überquert haben (UNHCR 8.2021). Der Iran richtete angesichts des Eroberungszugs der militant-islamistischen Taliban im Nachbarland Pufferzonen für Geflüchtete aus dem Krisenstaat ein. Die drei Pufferzonen an den Grenzübergängen im Nord- sowie Südosten des Landes sollen afghanischen Geflüchteten vorerst Schutz und Sicherheit bieten. Indes schloss Pakistan am Sonntag einen wichtigen Grenzübergang zu seinem Nachbarland. Innenminister Sheikh Rashid verkündete die Schließung des Grenzübergangs Torkham im Nordwesten Pakistans am Sonntag, ohne einen Termin für die Wiedereröffnung zu nennen. Tausende Menschen säßen auf beiden Seiten der Grenze fest (orf.at 16.8.2021b). Mittlerweile baut die Türkei an der Grenze zum Iran weiter an einer Mauer. Damit will die Türkei die erwartete Ankunft von afghanischen Flüchtlingen verhindern (Die Presse 17.8.2021). Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge (bisherige Ausnahme: Flughafen Kabul). Seit Besetzung der strategischen Stadt Jalalabad durch die Taliban, wurde eine Fluchtbewegung in den Osten (Richtung Pakistan) deutlich erschwert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen aus dem westlichen Teil des Landes oder aus Kabul nach Pakistan gelangen ist gegenwärtig eher gering einzuschätzen. Es ist naheliegender, dass Fluchtrouten ins Ausland über den Iran verlaufen. Es ist jedoch auch denkbar, dass die mehrheitlich sunnitische Bevölkerung Afghanistans (statt einer Route über den schiitisch dominierten Iran) stattdessen die nördliche, alternative Route über Tadschikistan oder auch Turkmenistan wählt. Bereits vor zwei Monaten kam es laut EU-Kollegen zu einem Anstieg von Ankünften afghanischer Staatsbürger in die Türkei. Insofern ist davon auszugehen, dass eine erste Migrationsbewegung bereits stattgefunden hat. Pakistan gibt laut Medienberichten an, dass der Grenzzaun an der afghanisch-pakistanischen Grenze halte (laut offiziellen Angaben sind etwa 90 Prozent fertiggestellt) (VB 17.8.2021). Wien, 17.8.2021 .BFA Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Seite 3 von 5 Laut Treffen mit Frontex, kann zur Türkei derzeit noch keine Veränderung der Migrationsströme festgestellt werden. Es finden täglich nach Schätzungen ca. max. 500 Personen ihren Weg (geschleust) vom Iran in die Türkei. Dies ist aber keine außergewöhnlich hohe Zahl, sondern eher der Durchschnitt. Der Ausbau der Sicherung der Grenze zum Iran mit Mauer und Türmen schreitet immer weiter voran, und nach einstimmiger Meinung von Mig VB und anderen Experten kann die Türkei mit ihrem Militär (Hauptverantwortlich für die Grenzsicherung) und Organisationen (Jandarma, DCMM) jederzeit, je nach Bedarf die illegale Einreise von Flüchtlingen aus dem Iran kontrollieren. Die Türkei ist jedoch - was Afghanistan angeht - mit sehr hohem Interesse engagiert. Auch die Türkei möchte keine neunen massiven Flüchtlingsströme über den Iran in die Türkei (VB 17.8.2021a). IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf (IOM 16.8.2021). Während die radikalislamischen Taliban ihren Feldzug durch Afghanistan vorantreiben, gehören Frauen und Mädchen zu den am meisten gefährdeten Gruppen. Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996–2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß. Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban (orf.at 17.8.2021).
Taliban-Specher Zabihullah Mujahid hat gegenüber der New York Times Frauen empfohlen „vorerst“ zum eigenen Schutz zu Hause zu bleiben. "Wir sind besorgt, dass unsere Kämpfer, die neu und noch nicht sehr gut ausgebildet sind, Frauen misshandeln könnten. Und wir wollen nicht, dass unsere Kämpfer, was Gott verhüten möge, Frauen belästigen oder gar ihnen Schaden zufügen könnten." (derstandard.at / 25.08.2021)
Darüber hinaus werden folgende Teile aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 01.04.2021 der Entscheidung zugrunde gelegt:
Ethnische Gruppen
In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen (NSIA 6.2020; vgl. CIA 16.2.2021). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vgl. CIA 16.2.2021). Schätzungen zufolge sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen (GIZ 4.2019; vgl. CIA 2012, AA 16.7.2020).
Tadschiken
Die Volksgruppe der Tadschiken ist die zweitgrößte Volksgruppe in Afghanistan (MRG o.D.d; vgl. RFE/RL 9.8.2019) und hat einen deutlichen politischen Einfluss im Land (MRG o.D.d). Sie machen etwa 27 bis 30% der afghanischen Bevölkerung aus (GIZ 4.2019; vgl. MRG o.D.d). Außerhalb der tadschikischen Kerngebiete in Nordafghanistan (Provinzen Badakhshan, Takhar, Baghlan, Parwan, Kapisa und Kabul) bilden Tadschiken in weiten Teilen des Landes ethnische Inseln, namentlich in den größeren Städten. In der Hauptstadt Kabul sind sie knapp in der Mehrheit (GIZ 4.2019).
Als rein sesshaftes Volk kennen die Tadschiken im Gegensatz zu den Paschtunen keine Stammesorganisation (GIZ 4.2019; vgl. MRG o.D.d). Heute werden unter dem Terminus t?jik „Tadschike“ fast alle dari/persisch sprechenden Personen Afghanistans, mit Ausnahme der Hazara, zusammengefasst (STDOK 7.2016).
Tadschiken dominierten die „Nordallianz“, eine politisch-militärische Koalition, welche die Taliban bekämpfte und nach dem Fall der Taliban die international anerkannte Regierung Afghanistans bildete. Tadschiken sind in zahlreichen politischen Organisationen und Parteien, die dominanteste davon ist die Jamiat-e Islami, vertreten (MRG o.D.d). Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (BI 29.9.2017).
Hinsichtlich der Entwicklung der letzten Jahre und der Situation bis Juli 2021 werden folgende Teile aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 01.04.2021 der Entscheidung zugrunde gelegt:
Relevante Bevölkerungsgruppen
Frauen
Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (CoA 26.1.2004). Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte von Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte (AA 16.7.2020). Nach wie vor gilt Afghanistan als eines der weltweit gefährlichsten Länder für Frauen (REU 26.6.2018).
Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt ein wenig verbessert hat (HRW 30.6.2020; vgl. STDOK 25.6.2020, AA 16.7.2020), können sie ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst (AA 16.7.2020; vgl.: REU 2.12.2019, STDOK 25.6.2020). Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit (AA 16.7.2020; vgl. STDOK 25.6.2020).
Seit dem Fall der Taliban wurden jedoch langsam Fortschritte in dieser Hinsicht erreicht, welche hauptsächlich in urbanen Zentren wie z.B. Herat-Stadt zu sehen sind. Das Stadt-Land-Gefälle und die Sicherheitslage sind zwei Faktoren, welche u.a. in Bezug auf Frauenrechte eine wichtige Rolle spielen. Einem leitenden Mitarbeiter einer in Herat tätigen Frauenrechtsorganisation zufolge kann die Lage der Frauen innerhalb der Stadt nicht mit den Lebensbedingungen der Bewohnerinnen ländlicher Teile der Provinz verglichen werden. Daher muss die Lage von Frauen in Bezug auf das jeweilige Gebiet betrachtet werden. Die Lage der Frau stellt sich in ländlichen Gegenden, wo regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv sind und die Sicherheitslage volatil ist, anders dar als z.B. in Herat-Stadt (STDOK 13.6.2019). In der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif und den angrenzenden Distrikten sind die Lebensumstände für Frauen verglichen mit anderen Landesteilen beispielsweise gut. Hier gibt es Frauen, welche sich frei bewegen, studieren oder arbeiten können und auch selbst entscheiden dürfen, ob sie heiraten oder nicht. Es gibt aber auch in Mazar-e Sharif Frauen, deren Familien dies nicht erlauben (STDOK 21.7.2020).
Die afghanische Regierung wird von den Vereinten Nationen (UN) als ehrlicher und engagierter Partner im Kampf gegen Gewalt an Frauen beschrieben (EASO 12.2017; vgl. STDOK 4.2018, UNAMA/OHCHR 5.2018), der sich bemüht Gewalt gegen Frauen - beispielsweise Ermordung, Prügel, Verstümmelung, Kinderheirat und weitere schädliche Praktiken - zu kriminalisieren und Maßnahmen zur Rechenschaftspflicht festzulegen (UNAMA/OHCHR 5.2018). Jedoch ist sexuelle Belästigung in Afghanistan, speziell innerhalb der afghanischen Regierung, im Präsidentenpalast sowie anderen Regierungsinstitutionen, sowohl national als auch international zum Thema regelmäßiger Diskussionen geworden (STDOK 25.6.2020; vgl. AT 6.11.2019). Aus unterschiedlichen Regierungsbüros berichten seit Mai 2019 vermehrt afghanische Frauen von sexueller Belästigung durch männliche Kollegen und hochrangige Personen (STDOK 25.6.2020; vgl. RY 1.8.2019, BBC 10.7.2019).
Die afghanische Regierung hat die erste Phase des nationalen Aktionsplans (NAP) zur Umsetzung der UN-Resolution 1325 (aus dem Jahr 2000) des UN-Sicherheitsrates implementiert; dies führte zu einer stärkeren Vertretung von Frauen in öffentlichen Einrichtungen, wie z.B. dem Hohen Friedensrat. Gemäß Artikel 83 und 84, sind Maßnahmen für die Teilnahme von Frauen im Ober- und Unterhaus des Parlamentes vorsehen (WILFPFA 7.2019). Unter anderem hat die afghanische Regierung das nationale Schwerpunktprogramm „Women’s Economic Empowerment“ gestartet. Um Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen zu bekämpfen, hat die Regierung in Afghanistan die Position eines stellvertretenden Generalstaatsanwalts geschaffen, der für die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen und Kinder zuständig ist. Es wurden Kommissionen gegen Belästigung in allen Ministerien eingerichtet. Des Weiteren hat der Oberste Gerichtshof eine spezielle Abteilung geschaffen, um Fälle von Gewalt gegen Frauen zu überprüfen. Darüber hinaus waren in mehr als 20 Provinzen Sondergerichte zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen tätig (UNGA 28.2.2019). So hat die afghanische Regierung unter anderem, gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft verschiedene Projekte zur Reduzierung der Geschlechterungleichheit gestartet. Das Projekt „Enhancing Gender Equality and Mainstreaming in Afghanistan“ (EGEMA) beispielsweise ist ein Gemeinschaftsprojekt der afghanischen Regierung und des UNDP (United Nations Development Program) Afghanistan und hat den Hauptzweck, das Ministerium für Frauenrechte (MoWA) zu stärken. Es läuft von Mai 2016 bis Dezember 2020 (UNDP o.D)
Im Zuge der Friedensverhandlungen bekannten sich die Taliban zu jenen Frauenrechten (STDOK 25.6.2020; vgl. BBC 27.2.2020, BP 31.8.2020, TN 31.5.2019, Taz 6.2.2019), die im Islam vorgesehen sind, wie zu Lernen, zu Studieren und sich den Ehemann selbst auszuwählen. Zugleich kritisierten sie, dass ’im Namen der Frauenrechte’ Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden (Taz 6.2.2019). Die Taliban haben während ihres Regimes afghanischen Frauen und Mädchen Regeln aufoktroyiert, die auf ihren extremistischen Interpretationen des Islam beruhen, und die ihnen ihre Rechte - einschließlich des Rechts auf Schulbesuch und Arbeit - vorenthalten und Gewalt gegen sie gerechtfertigt haben (USAT 3.9.2019). Die afghanischen Frauen sind jedoch ob der Verhandlungen mit den Taliban besorgt und fürchten um ihre mühsam erkämpften Rechte (BP 31.8.2020; vgl. WP 12.9.2020). Eine jener vier Frauen, die an den Verhandlungen mit den Taliban teilnehmen, glaubt nicht, dass sich die Taliban-Kämpfer, die an der Frontlinie stehen, geändert hätten (BP 31.8.2020).
Restriktive Einstellung und Gewalt gegenüber Frauen betreffen jedoch nicht nur Gegenden, welche unter Taliban-Herrschaft stehen, sondern hängen grundsätzlich mit der Tatsache zusammen, dass die afghanische Gesellschaft zum Großteil sehr konservativ ist. Gewalt gegenüber Frauen ist sehr oft auch innerhalb der Familien gebräuchlich. So kann bezüglich der Behandlung von Frauen insbesondere in ländlichen Gebieten grundsätzlich kein großer Unterschied zwischen den Taliban und der Bevölkerung verzeichnet werden. In den Städten hingegen ist die Situation ganz anders (STDOK 13.6.2019; vgl. STDOK 25.6.2020).
Das afghanische Frauenministerium dokumentierte innerhalb eines Jahres (November 2018 - November 2019) 6.449 Fälle von Gewalt und Missbrauch gegen Frauen. Der Großteil dieser Fälle wurde in den Provinzen Kabul, Herat, Kandahar und Balkh registriert. Dem Frauenministerium zufolge wurden rund 2.886 Fälle an Ermittlungsbehörden und Gerichte weitergeleitet, 456 Frauen bekamen Anwälte zugewiesen und 682 Fälle wurden durch Mediation zwischen den Parteien gelöst. Außerdem wurden 2.425 Fälle an Organisationen weitergeleitet, die sich für Frauenrechte einsetzen (STDOK 25.6.2020; vgl. RFE/RL 25.11.2019). Im Vergleich dazu registrierte die AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für den Untersuchungsraum 2019 4.693 Vorfälle und für 2018 4.329 Vorfälle (AIHCR 23.3.2020; vgl. STDOK 25.6.2020). Ein hohes Maß an Gewalt gegen Frauen ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen, wie z.B. die Sensibilisierung der Frauen für ihre Menschenrechte und die Reaktion auf häusliche Gewalt, ein geringes öffentliches Bewusstsein für die Rechte der Frauen, eine schwache Rechtsstaatlichkeit und die Ausbreitung von Unsicherheit in verschiedenen Teilen des Landes (AIHRC 23.3.2020). Die afghanische Regierung versäumt es weiterhin, hochrangige Beamte, die für sexuelle Übergriffe verantwortlich sind, strafrechtlich zu verfolgen (HRW 13.1.2021).
Weibliche Genitalverstümmelung ist in Afghanistan nicht üblich (AA 16.7.2020).
Bildung für Mädchen
Seit 2001 haben Millionen Mädchen, denen unter den Taliban die Bildung verwehrt worden war, Schulbildung erhalten (HRW 30.6.2020; vgl. KUR 17.12.2019, STDOK 25.6.2020), Bildung afghanischer Mädchen sowie die Stärkung afghanischer Frauen ist seitdem ein Schwerpunkt internationaler Bemühungen (STDOK 25.6.2020; vgl. REU 2.12.2019). Auf nationaler Ebene hat das afghanische Bildungsministerium im Februar 2019 eine Bildungsrichtlinie eingeführt, um Frauen und Mädchen den Zugang zu Bildung zu erleichtern sowie die Analphabetenrate zu reduzieren (STDOK 25.6.2020; vgl.: OI 3.12.2019, AT 6.11.2019). Die größten Probleme bei Bildung für Mädchen beinhalten Armut, frühe Heirat und Zwangsverheiratung, Unsicherheit, fehlende familiäre Unterstützung sowie Mangel an Lehrerinnen und nahegelegenen Schulen (USDOS 11.3.2020; vgl. UNICEF 8.2020). Untersuchungen von Human Rights Watch (HRW) und anderen belegen eine steigende Nachfrage nach Bildung in Afghanistan, einschließlich einer wachsenden Akzeptanz eines Schulbesuchs von Mädchen in vielen Teilen des Landes. NGOs, die „gemeindebasierte Bildung“ unterstützen - Schulen, die sich in Häusern in den Gemeinden der Schülerinnen und Schüler befinden - waren oft erfolgreicher, wenn es darum ging, Mädchen den Schulbesuch in Gegenden zu ermöglichen, in denen sie aufgrund von Unsicherheit, familiärem Widerstand und Gemeindeeinschränkungen nicht in der Lage gewesen wären, staatliche Schulen zu besuchen. Doch das Versäumnis der Regierung, diese Schulen in das staatliche Bildungssystem zu integrieren, hat in Verbindung mit der uneinheitlichen Finanzierung dieser Schulen dazu geführt, dass vielen Mädchen die Bildung vorenthalten wird (HRW 30.6.2020).
Aufgrund des anhaltenden Konflikts und der sich verschlechternden Sicherheitslage wurden bis Ende 2018 mehr als 1.000 Schulen geschlossen. Zwischen 2018 und 2019 gab es einen Anstieg der Angriffe auf Schulen und Schulpersonal um 45% (UNICEF 8.2020). Ein Grund für die Zunahme von Angriffen auf Schulen ist, dass Schulen als Wählerregistrierungs- und Wahlzentren für die Parlamentswahlen 2018 genutzt wurden (UNICEF 27.5.2019). Von den rund 5.000 Örtlichkeiten, die als Wahlzentren dienten, waren etwa 50% Schulen (UNICEF 2019).
Schätzungen zufolge sind etwa 3,7 Millionen Kinder im Alter von 7 bis 17 Jahren, also fast die Hälfte aller schulpflichtigen Kinder, nicht in der Schule - Mädchen machen dabei 60% aus (UNICEF 27.5.2019), in manchen abgelegenen Gegenden sogar 85% (UNICEF 2019). 2018 ist diese Zahl zum ersten Mal seit dem Jahr 2002 wieder gestiegen (UNICEF 27.5.2019). Geschlechternormen führen dazu, dass die Ausbildung der Buben in vielen Familien gegenüber der Ausbildung der Mädchen prioritär gesehen wird, bzw. dass die Ausbildung der Mädchen als unerwünscht gilt oder nur für einige Jahre vor der Pubertät als akzeptabel gesehen wird (HRW 17.10.2017).
Jedoch sind auch hier landesweit Unterschiede festzustellen (BBW 28.8.2019): Beispielsweise waren Mädchen unter der Taliban-Herrschaft auf Heim und Haus beschränkt - speziell in ländlichen Gegenden wie jene in Bamyan. Eine Quelle berichtet von einer Schule in Bamyan, die nun vor allem von Mädchen besucht wird. Dort werden Mädchen von den Eltern beim Schulbesuch manchmal den Buben vorgezogen, da die Buben bei der Feldarbeit oder im Elternhaus aushelfen müssen. In besagtem Fall existieren sogar gemischte Klassen (NYT 27.6.2019). Aufgrund der Geschlechtertrennung darf es eigentlich keine gemischten Klassen geben. In ländlichen Gebieten kommt es oft vor, dass Mädchen nach der vierten oder fünften Klasse die Schule abbrechen müssen, weil die Zahl der Schülerinnen zu gering ist. Grund für das Abnehmen der Anzahl an Schülerinnen ist u.a. die schlechte Sicherheitslage in einigen Distrikten. Statistiken des afghanischen Bildungsministeriums zufolge war Herat mit Stand November 2018 beispielsweise die einzige Provinz in Afghanistan, wo die Schulbesuchsrate der Mädchen höher war (53%) als die der Burschen (47%). Ein leitender Mitarbeiter einer u.a. im Westen Afghanistans tätigen NGO erklärt die höhere Schulbesuchsrate damit, dass in der konservativen afghanischen Gesellschaft, wo die Bewegungsfreiheit der Frau außerhalb des Hauses beschränkt bleibt, Mädchen zumindest durch den Schulbesuch die Möglichkeit haben, ein Sozialleben zu führen und das Haus zu verlassen. Aber auch in einer Provinz wie Herat missbilligen traditionelle Dorfälteste und konservative Gemeinschaften in manchen Distrikten den Schulbesuch von Mädchen. So kommt es manchmal vor, dass Unterrichtsschichten für Mädchen eingerichtet sind, die von den Schülerinnen jedoch nicht besucht werden (STDOK 13.6.2019).
Auch wenn die Führungselite der Taliban erklärt hat, dass Schulen kein Angriffsziel mehr seien (LI 16.5.2018), kam es zu Angriffen auf Mädchenschulen, sowie Schülerinnen und Lehrerinnen durch die Taliban und andere bewaffnete Gruppen (NYT 21.5.2019; UNAMA 24.4.2019; PAJ 16.4.2019; PAJ 15.4.2019; PAJ 31.1.2019; HRW 17.10.2017). Solche Angriffe zerstören nicht nur wertvolle Infrastruktur, sondern schrecken auch langanhaltend eine große Zahl von Eltern ab, ihre Töchter zur Schule zu schicken (HRW 17.10.2017). Vertreter der Provinzregierung und Dorfälteste legten nach Vorfällen in der Provinz Farah nahe, dass Angriffe auf Mädchenschulen eine Spaltung innerhalb der Taliban offenbaren: Während viele Zivilbehörden der Taliban eine Ausbildung für Mädchen tolerieren, lehnen manche Militärkommandanten dies ab (NYT 21.5.2019). Obwohl die Taliban offiziell erklären, dass sie nicht mehr gegen die Bildung von Mädchen sind, gestatten nur sehr wenige Taliban-Entscheidungsträger Mädchen tatsächlich den Schulbesuch nach der Pubertät. Andere gestatten Mädchenschulen überhaupt nicht. Diese Ungereimtheiten führen zu Misstrauen in der Bevölkerung. Beispielsweise haben Taliban in mehreren Distrikten von Kunduz den Betrieb von Mädchen-Grundschulen zugelassen und in einigen Fällen Mädchen und jungen Frauen erlaubt, in von der Regierung kontrollierte Gebiete zu reisen, um dort höhere Schulen und Universitäten zu besuchen. Im Gegensatz dazu gibt es in einigen von den Taliban kontrollierten Distrikten in der Provinz Helmand keine funktionierenden Grundschulen für Mädchen, geschweige denn weiterführende Schulen - einige dieser ländlichen Distrikte hatten keine funktionierenden Mädchenschulen, selbst als sie unter Regierungskontrolle standen. Ihre inkonsistente Herangehensweise an Mädchenschulen spiegelt die unterschiedlichen Ansichten der Taliban-Kommandeure in den Provinzen, ihre Stellung in der militärischen Kommandohierarchie der Taliban und ihre Beziehung zu den lokalen Gemeinschaften wider. In einigen Distrikten hat die lokale Nachfrage nach Bildung die Taliban-Behörden überzeugt oder gezwungen, einen flexibleren Ansatz zu wählen (HRW 30.6.2020).
Der Zugang zu öffentlicher Hochschulbildung ist wettbewerbsintensiv: Studenten müssen eine öffentliche Aufnahmeprüfung, genannt Kankor, ablegen. Für diese Prüfung gibt es Vorbereitungskurse, mit den Schwerpunkten Mathematik und Naturwissenschaften, die oft kostspielig sind und in der Regel außerhalb der Schulen angeboten werden. Unter den konservativen kulturellen Normen, die die Mobilität von Frauen in Afghanistan einschränken, können Studentinnen in der Regel nicht an diesen Kursen teilnehmen und afghanische Familien ziehen es oft vor, in die Ausbildung ihrer Söhne zu investieren, sodass den Töchtern die Ressourcen für eine Ausbildung fehlen (AF 13.2.2019).
Um diese Aufnahmeprüfung zu bestehen, werden Bewerberinnen von unterschiedlichen Stellen unterstützt. Eine Hilfsorganisation hat beispielsweise bislang Vorbereitungsmaterialien und - aktivitäten für 70.000 Studentinnen zur Verfügung gestellt. Auch wurden Aktivitäten direkt in den Unterricht an den Schulen integriert, um der mangelnden Bereitschaft von Eltern, ihre Töchter in Privatkurse zu schicken, zu entgegnen (AF 13.2.2019).
Es gibt aktuell (Stand Oktober 2020) 424.621 Studenten an den öffentlichen und privaten Universitäten Afghanistans. Davon sind 118.893 (28%) weiblich. Im Jahr 2020 haben 61.000 Frauen die Zulassungsprüfung für das Universitätsstudium bestanden (RA KBL 12.10.2020a). Die Anzahl weiblicher Studierender hat sich an öffentlichen Universitäten in Afghanistan aus unterschiedlichen Gründen seit 2015 erhöht.
Beispielsweise wurden im Rahmen von Initiativen des Ministeriums für höhere Bildung sichere Transportmöglichkeiten für Studentinnen zu und von den Universitäten zur Verfügung gestellt. Etwa 1.000 Studentinnen konnten dieses Service in den Provinzen Herat, Jawzjan, Kabul, Kunar und Kunduz genießen. Das sind jene Provinzen, in denen sichere und verlässliche Transportmöglichkeiten aufgrund fehlender öffentlicher Verkehrsmittel und der Sicherheitslage dringend benötigt werden. Auch sollen mehr studentische Wohnmöglichkeiten für Frauen an Universitäten zur Verfügung gestellt werden; das Ministerium für höhere Bildung plant, an fünf Universitäten Studentenwohnheime zu errichten. In zwei Provinzen - Bamyan und Kunar - sollen sie im Jahr 2019 fertiggestellt werden. Das Ministerium für höhere Bildung unterstützt Frauen auch finanziell. Mithilfe des Higher Education Development Programms haben 2018 100 Frauen Stipendien erhalten, 65 Frauen waren dabei im Ausland ein Masterstudium abzuschließen und 41 weitere standen vor ihrem Studienbeginn (WB 6.11.2018).
Im Mai 2016 eröffnete in Kabul der Moraa Educational Complex, die erste Privatuniversität für Frauen in Afghanistan mit einer Kapazität von 960 Studentinnen (MED o.D.). Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für ’Frauen- und Genderstudies’ (KP 18.10.2015; vgl. EN 25.10.2018, Najimi 2018). Die ersten Absolventinnen und Absolventen haben bereits im Jahr 2017 das Studium abgeschlossen (UNDP 7.11.2017).
Berufstätigkeit von Frauen, Politische Partizipation und Öffentlichkeit
Das Gesetz sieht die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, sagt jedoch nichts zu gleicher Bezahlung bei gleicher Arbeit. Das Gesetz untersagt Eingriffe in das Recht von Frauen auf Arbeit; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und bei den Anstellungsbedingungen diskriminiert (USDOS 11.3.2020). Viele afghanische Männer teilen die Ansicht, Frauen sollen das Haus nicht verlassen, geschweige denn politisch aktiv sein (STDOK 25.6.2020, vgl. WS 2.12.2019). Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit (AA 16.7.2020; vgl. BBW 28.8.2019). Die städtische Bevölkerung hat im Vergleich zur Bevölkerung auf dem Land weniger ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und viele Frauen gehen aus Furcht vor sozialer Ächtung keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach (STDOK 4.2018). In den meisten Teilen Afghanistans ist es Tradition, dass Frauen und Mädchen selten von außerhalb des Hauses gesehen oder gehört werden sollten (BBC 6.9.2019).
Die Erwerbsbeteiligung von Frauen hat sich auf 27% erhöht (UNGA 3.4.2019) wobei nach Angaben der Weltbank der Anteil der arbeitenden Frauen im Jahr 2020 mit 22,8% angegeben wurde (WB 21.6.2020). Erfolgreiche afghanische Frauen arbeiten als Juristinnen, Filmemacherinnen, Pädagoginnen und in anderen Berufen (STDOK 25.6.2020; vgl. OI 3.12.2019). Ob Frauen berufstätig sind oder nicht, hängt vor allem vom Verhalten ihrer Familien, wie auch ihrem Ausbildungsniveau ab. Neben dem allgemeinen Mangel an Arbeitsmöglichkeiten aufgrund der Arbeitsmarktlage und Jobvoraussetzungen, welche Frauen aufgrund der historischen Benachteiligung bei der Ausbildung von Mädchen schwerer erfüllen können als Männer, sind es vor allem kulturelle Hindernisse die, als Problemfelder gelten und Frauen von einer (bezahlten) Arbeitstätigkeit abhalten (STDOK 21.7.2020). Frauen berichten weiterhin, mit Missgunst konfrontiert zu sein, wenn sie nach beruflicher oder finanzieller Unabhängigkeit streben - sei es von konservativen Familienmitgliedern, Hardlinern islamischer Gruppierungen (STDOK 25.6.2020; vgl. REU 20.5.2019) oder gewöhnlichen afghanischen Männern (STDOK 25.6.2020; vgl. WS 26.11.2019).
Bemühungen der afghanischen Regierung, Schlüsselpositionen mit Frauen zu besetzen und damit deren Präsenz zu erhöhen, halten weiter an (KP 24.3.2019). So ist die afghanische Regierung seit dem Jahr 2014 bemüht, den Anteil von Frauen in der Regierung von 22% auf 30% zu erhöhen (USAID 24.7.2019). Frauen besetzen innerhalb der afghanischen Regierung und Spitzenverwaltung beispielsweise folgende Positionen: elf stellvertretende Ministerinnen, drei Ministerinnen und fünf Botschafterinnen. Nicht alle erachten diese Veränderungen als positiv - manche suggerieren, Präsident Ghanis Ernennungen seien symbolisch und die Kandidatinnen unerfahren oder dass ihnen die notwendigen Kompetenzen fehlen würden (RFE/RL 6.12.2018). Im Rahmen einer Ausbildung für Beamte des öffentlichen Dienstes sollen Frauen mit den notwendigen Kompetenzen und Fähigkeiten ausgestattet werden, um ihren Dienst in der afghanischen Verwaltung erfolgreich antreten zu können. Ab dem Jahr 2015 und bis 2020 sollten mehr als 3.000 Frauen in einem einjährigen Programm für ihren Posten in der Verwaltung ausgebildet werden. Mit Stand Juli 2019 hatten 2.800 Frauen das Programm absolviert. 900 neue Mitarbeiterinnen waren in Kabul, Balkh, Kandahar, Herat und Nangarhar in den Dienst aufgenommen worden (USAID 24.7.2019).
Viele Frauen werden von der Familie unter Druck gesetzt, nicht arbeiten zu gehen (USDOS 11.3.2020); traditionell wird der Mann als Ernährer der Familie betrachtet, während Frauen Tätigkeiten im Haushalt verrichten. Dies bedeutet für die Frauen eine gewisse Sicherheit, macht sie allerdings auch wirtschaftlich abhängig - was insbesondere bei einem Partnerverlust zum Problem wird (Najimi 2018). Auch werden bei der Anstellung Männer bevorzugt. Es ist schwieriger für ältere und verheiratete Frauen, Arbeit zu finden, als für junge alleinstehende. Berufstätige Frauen berichten über Beleidigungen, sexuelle Belästigung, fehlende Fahrgelegenheiten und fehlende Kinderbetreuungseinrichtungen. Auch wird von Diskriminierung beim Gehalt berichtet (USDOS 11.3.2020). Das hohe Ausmaß an sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ist ein Grund, warum Familien ihren weiblichen Mitgliedern eine Arbeitstätigkeit außerhalb des Hauses, oder ein Studium nicht erlauben (STDOK 21.7.2020). Mittlerweile wurden landesweit mehr als 1.000 Unternehmen von Frauen gegründet, die sie selbst auch leiten. Die im Jahr 2017 gegründete afghanischen Gewerbebehörde „Women’s Chamber of Commerce and Industry“, zählt mittlerweile 850 von Frauen geführten Unternehmen zu ihren Mitgliedern (STDOK 25.6.2020; vgl. OI 3.12.2019).
Die First MicroFinance Bank (FMFB-A), eine Tochter der Aga Khan Agency for Microfinance, bietet Finanzdienstleistungen und Mikrokredite primär für Frauen (STDOK 4.2018; vgl. FMFB o.D.a) und hat 39 Niederlassungen in 14 Provinzen (FMFB o.D.b).
Politische Partizipation und Öffentlichkeit
Die politische Partizipation von Frauen ist in ihren Grundstrukturen rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; von diesem Drittel des Oberhauses sind gemäß Verfassung 50% für Frauen bestimmt. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 68 der 250 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert (AA 16.7.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
Bei den Wahlen zum Unterhaus (Wolesi Jirga) im Oktober 2018 traten landesweit 417 Kandidatinnen an (MBZ 7.3.2019); insgesamt vertreten 79 Frauen 33 Provinzen (AAN 17.5.2019). Das per Präsidialdekret erlassene Wahlgesetz sieht eine Frauenquote von mindestens 25% in den Provinz- (AA 16.7.2020), Distrikt- und Dorfräten vor. Bis zum Ende des Jahres 2019 war dies in keinem Distrikt- oder Dorfrat der Fall (USDOS 11.3.2020). Zudem sind mindestens zwei von sieben Sitzen in der Unabhängigen Wahlkommission (Independent Electoral Commission, IEC) für Frauen vorgesehen. Die Independent Administrative Reform and Civil Service Commission (IARCSC) hat sich die Erhöhung des Frauenanteils im öffentlichen Dienst von 22% auf 24% für das Jahr 2019 und 26% im Jahr 2020 zum Ziel gesetzt (AA 16.7.2020).
Traditionelle gesellschaftliche Praktiken schränken die Teilnahme von Frauen in der Politik und bei Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft ein; wie z.B. die Notwendigkeit eines männlichen Begleiters oder einer Erlaubnis um zu arbeiten. Frauen, die politisch aktiv sind, sind auch weiterhin mit Gewalt konfrontiert und Angriffsziele der Taliban und anderer Aufständischengruppen. Dies, gemeinsam mit einem Rückstand an Bildung und Erfahrung, führt dazu, dass die Zentralregierung männlich dominiert ist (USDOS 11.3.2020).
Frauen sind nur selten in laufende Friedensverhandlungen integriert. Die Verhandlungen in Moskau im Februar 2019 waren eine Ausnahme, als zwei Frauen als Mitglieder der inoffiziellen Regierungsdelegation mit den Taliban verhandelten (TD 27.5.2019). Bei der Loya Jirga im Mai 2019 waren 30% der Delegierten Frauen. Einige von ihnen gaben jedoch an, dass sie ignoriert, marginalisiert und bevormundet wurden (NYT 3.5.2019; vgl. STDOK 25.6.2020).
Beispiele für Frauen außerhalb der Politik, die in der Öffentlichkeit stehen, sind die folgenden: In der Provinz Kunduz existiert ein Radiosender - Radio Roshani - nur für Frauen. In der Vergangenheit wurde sowohl die Produzentin bzw. Gründerin mehrmals von den Taliban bedroht, als auch der Radiosender selbst angegriffen. Durch das Radio werden Frauen über ihre Rechte informiert; Frauen können während der Sendung Fragen zu Frauenrechten stellen. Eines der häufigsten Probleme von Frauen in Kunduz sind gemäß einem Bericht Probleme in polygamen Ehen (BBC 6.9.2019). Zan TV, der einizige afghanische Sender nur für Frauen, wurde im Jahr 2017 gegründet. Bei Zan-TV werden Frauen ausgebildet, um alle Jobs im Journalismusbereich auszuüben. Der Gründer des TV-Senders sagt, dass sein Ziel eine zu 80-85% weibliche Belegschaft ist; denn Männer werden auch benötigt, um zu zeigen, dass eine Zusammenarbeit zwischen Männern und Frauen möglich ist. Wie andere Journalistinnen und Journalisten, werden auch die Mitarbeiterinnen von Zan-TV bedroht und beleidigt (BBC 19.4.2019).
Kinder
Die Situation der Kinder hat sich in den vergangenen Jahren insgesamt verbessert. So werden mittlerweile rund zwei Drittel aller Kinder eingeschult. Von den ca. acht Millionen Schulkindern sind rund drei Millionen Mädchen. Der Anteil der Mädchen nimmt jedoch mit fortschreitender Klassen- und Bildungsstufe ab. Den geringsten Anteil findet man im Süden und Südwesten des Landes (Helmand, Uruzgan, Zabul und Paktika). Nach Angaben der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind die durch den Konflikt verursachten zivilen Opfer unter Kindern im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 25 Prozent zurückgegangen. Im Jahr 2020 gab es insgesamt 2.019 zivile minderjährige Opfer, darunter 565 getötete Kinder und 1.454 verletzte Kinder. Im Jahr 2019 betrug die Gesamtzahl der minderjährigen Opfer in der Zivilbevölkerung 2.696, darunter 445 getötete und 2.251 verletzte Kinder (AIHRC 28.1.2021). UNAMA zählte 2019 874 getötete und 2.275 verletzte Kinder (3%-Anstieg im Vergleich zu 2018), dies entspricht 30% aller zivilen Opfer (AA 16.7.2020).
Die afghanische Bevölkerung ist eine der jüngsten und am schnellsten wachsenden der Welt - mit rund 47% der Bevölkerung (27,5 Millionen Afghanen) unter 25 Jahren und 46% (11,7 Millionen Kinder) unter 15 Jahren (UNFPA 18.12.2018; vgl. NSIA 1.6.2020). Das Durchschnittsalter liegt in Afghanistan bei 18,4 Jahren (WoM 6.10.2020) und die Volljährigkeit beginnt mit dem 18. Geburtstag, wobei einige politische Kräfte dies mit Verweis auf die Scharia ablehnen. Die Zwangsverheiratung auch von Kindern unter dem gesetzlichen Mindestalter der Ehefähigkeit – 18 Jahre für Männer, 16 für Frauen (mit Zustimmung des Vaters 15 Jahre) – ist weit verbreitet (AA 16.7.2020).
Das Familienleben gilt als Schnittstelle für Fürsorge und Schutz. Armut, schlechte Familiendynamik und der