Entscheidungsdatum
30.08.2021Norm
AsylG 2005 §11Spruch
W135 2193799-1/21E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Ivona GRUBESIC über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA DDr. Rainer LUKITS, LLM, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.03.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 23.06.2021 zu Recht:
A)
I. Der Beschwerde wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, stellte am 07.11.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz mit Bescheid vom 28.03.2018 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Weiters wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegenüber dem Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Schließlich sprach das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aus, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).
Gegen den genannten Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde erhoben. Die Beschwerde samt dem Verwaltungsakt langte am 27.04.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Das Verfahren wurde der Gerichtsabteilung W164 zugewiesen.
Mit Schriftsatz vom 18.06.2019 brachte der Beschwerdeführer vor, nicht mehr an Gott zu glauben und sich unumkehrbar vom Islam abgewendet zu haben. Der Beschwerdeführer sei auch offiziell aus der schiitischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten. Diesbezüglich legte der Beschwerdeführer eine Bestätigung der Islamischen Schiitischen Glaubensgemeinschaft in Österreich vom 11.06.2019 und eine Bestätigung des Bürgermeisters der Stadt XXXX vom 17.06.2019 vor.
Die Eingabe des Beschwerdeführers vom 18.06.2019 wurde dem BFA mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21.06.2019 zur Kenntnis gebracht und diesem die Möglichkeit einer Stellungnahme eingeräumt.
Mit Stellungnahme vom 11.07.2019 brachte das BFA im Wesentlichen vor, dass der Beschwerdeführer bis dahin im gesamten Verfahren nicht erwähnt habe, dass er sich nicht mehr dem schiitischen Glauben zugehörig fühle bzw. von diesem abfalle. Auch wenn der Beschwerdeführer nunmehr behaupte, nicht mehr der schiitischen Glaubensgemeinschaft zugehörig zu sein, werde darauf verwiesen, dass hiervon nicht ableitbar sei, dass die afghanischen Behörden von einem möglichen Austritt Kenntnis erlangen würden, weil nicht davon ausgegangen werden könne, dass die schiitische Glaubensgemeinschaft in Österreich Informationen an den Herkunftsstaat des Beschwerdeführers weiterleite. Zudem habe sich der Beschwerdeführer weder kritisch gegenüber dem Islam oder der schiitischen Glaubensgemeinsacht geäußert, wodurch nicht erkennbar sei, warum der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat einer Verfolgung ausgesetzt wäre. Es werde weiters auf das Konzept der „Taquiya“ verwiesen, wonach das Verschweigen oder Leugnen der Zugehörigkeit zur Schia bei Bedrohung von Leib und Leben erlaubt sei; wenn man fürchte bei Äußerung der Wahrheit negative Folgen zu erleiden, dürfe man das Gegenteil von dem sagen, woran man glaube. Dass der Beschwerdeführer erst nach über dreieinhalb Jahren erstmalig von einer kompletten Abwendung des Islam spreche sei für das BFA nicht nachvollziehbar. Denn eine innere Abkehr von einer Religion, welcher der Beschwerdeführer über 19 Jahre angehört habe, bedürfe doch einer intensiven Auseinandersetzung nicht nur mit den Gründen der Abkehr, sondern auch mit dessen Konsequenzen. Der Beschwerdeführer habe sich schon nach der erstinstanzlichen Entscheidung bewusst gewesen sein müssen, dass ein Verbleib in Österreich noch nicht gesichert gewesen sei. Gerade in diesem Zeitraum nunmehr so eine lebensbedeutende Entscheidung zu treffen, führe für das BFA zu dem Schluss, dass dies ein letztmaliger Versuch sei, ein Bleiberecht in Österreich zu erlangen. Das BFA beantrage die Durchführung einer mündlichen Verhandlung – die Verschaffung eines persönlichen Bildes des Beschwerdeführers scheine aufgrund des nach Beschwerdeerstattung ergangenen Vorbringens unabdingbar.
Mit Schriftsatz vom 03.04.2020 legte der Beschwerdeführer diverse Integrationsunterlagen vor.
Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 14.01.2021 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren abgenommen und der Gerichtsabteilung W135 neu zugewiesen.
Im vorbereitenden Schriftsatz vom 15.06.2021 brachte der Beschwerdeführer zum Glaubensabfall noch einmal vor, dass er aus vollster Überzeugung und unumkehrbar vom islamischen Glauben abgefallen sei. Mit näheren Ausführungen brachte er weiters vor, dass sich der Abfall entgegen der Darstellung des BFA in der Stellungnahme vom 11.07.2019 bereits im erstinstanzlichen abgezeichnet und sich der Beschwerdeführer auch bereits aktenkundig sehr kritisch gegenüber dem Islam geäußert habe. Entgegen der Darstellung des BFA seien laut Länderinformationsblatt nicht erst kritische Äußerungen gegenüber dem Islam, sondern bereits der bloße (tatsächliche bzw. angenommene) Glaubensabfall mit der Todesstrafe bedroht. Zum Hinweis des BFA zum islamischen Konzept der Taqiya wird vorgebracht, dass der Beschwerdeführer aus innerer Überzeugung vom Islam abgefallen sei, weshalb für ihn dieses Konzept keine Geltung habe. Im Übrigen würde das Konzept der Taqiya als Ausnahme vom übergeordneten islamischen Grundsatz der Aufrichtigkeit nur ausnahmsweise bei akuter Bedrohung von Leib und Leben gelten.
Das Bundesverwaltungsgericht führte am 23.06.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der der Beschwerdeführer in Anwesenheit seines Rechtsvertreters und eines Dolmetschers für die Sprache Farsi ausführlich zu seiner Identität, seiner Herkunft, zu seinen persönlichen Lebensumständen im Herkunftsstaat, zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat und zu seiner Integration in Österreich befragt wurde. Es fand auch eine ausführliche und eingehende Befragung zu den Gründen und den Umständen des von ihm vorgebrachten Abfalles vom islamischen statt. Ein Vertreter des BFA nahm an der Verhandlung nicht teil. Die Verhandlungsschrift wurde dem BFA übermittelt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist am XXXX geboren. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara.
Der Beschwerdeführer wurde in der Provinz Kandahar in Afghanistan geboren und lebte dort bis zu seiner Ausreise in den Iran im Jahr 2010 gemeinsam mit seiner Mutter, drei Schwestern und zwei Brüdern. Der Beschwerdeführer verließ den Iran im Jahr 2015 und machte sich auf den Weg nach Europa. Er reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und stellte am 07.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Der Beschwerdeführer wuchs in Afghanistan als schiitischer Moslem auf. Sein Vater schickte ihn im Jahr 2010 alleine in den Iran, um ihn vor dem Besuch einer Koranschule zu bewahren. Die Koranschule assoziierte der Beschwerdeführer mit dem Jihad und Gewalt im Namen der Religion. Der Beschwerdeführer machte die Religion dafür verantwortlich, dass er von seinem Vater als Elfjähriger alleine in den Iran geschickt wurde, wo er zwar anfänglich bei seiner Tante väterlicherseits Unterkunft fand, in Folge aber völlig auf sich alleine gestellt war. Von seiner Familie fühlte er sich seelisch verletzt. Während seines Aufenthaltes im Iran distanzierte er sich folglich von seiner Familie und seiner Religion. Der Beschwerdeführer besuchte bereits im Iran auch keine Moschee mehr.
Der Beschwerdeführer ist während seines Aufenthaltes in Österreich aus tiefer freier persönlicher Überzeugung und von Ernsthaftigkeit und Nachhaltigkeit getragen in identitätsprägender Weise endgültig vom islamischen Glauben abgefallen, da er den Islam als eine Religion der Gewalt und Unterdrückung empfindet. Er ist am 17.06.2019 aus der Islamischen Schiitischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (Schia) ausgetreten und hat auch gegenüber der zuständigen Bezirksverwaltungsbehörde rechtswirksam seinen Austritt aus der schiitischen Glaubensgemeinschaft erklärt. Der Beschwerdeführer übt keine religiösen Riten wie den Besuch einer Moschee oder dem Freitagsgebet aus. Er trinkt Alkohol, geht in die Disco und trägt ein Tattoo.
Der Beschwerdeführer droht aufgrund seiner angenommenen Lebensweise und aufgrund des auch nur unterstellten Abfalls vom Islam in Afghanistan, insbesondere in seiner Herkunftsprovinz Kandahar, aber auch in anderen Großstädten und Gebieten Afghanistans individuelle und konkrete Gefahr physischer oder psychischer Gewalt. Eine Unterdrückung seiner gefestigten, den Islam ablehnenden Haltung kann dem Beschwerdeführer angesichts der Verinnerlichung seiner Überzeugung nicht zugemutet werden.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
1.2.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 11.06.2021:
Religionsfreiheit
Letzte Änderung: 11.06.2021
Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 19.5.2021; vgl. USDOS 12.5.2021, AA 16.7.2020). Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 0,3% der Bevölkerung aus (CIA 19.5.2021, USDOS 12.5.2021). Genaue Angaben zur Größe der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (USDOS 12.5.2021). In Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan (USDOS 12.5.2021; vgl. UP 16.8.2019, BBC 11.4.2019). Die muslimische Gemeinschaft der Ahmadi schätzt, dass sie landesweit 450 Anhänger hat, gegenüber 600 im Jahr 2017. Genaue Angaben zur Größe der Gemeinschaft der Ahmadi und der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (USDOS 12.5.2021).
Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (USDOS 12.5.2021; vgl. FH 4.3.2020). Für christliche Afghanen gibt es keine Möglichkeit der Religionsausübung außerhalb des häuslichen Rahmens (AA 16.7.2020; vgl. USCIRF 4.2020, USDOS 12.5.2021), da es keine öffentlich zugänglichen Kirchen im Land gibt (USDOS 12.5.2021; vgl. AA 16.7.2020). Einzelne christliche Andachtsstätten befinden sich in ausländischen Militärbasen. Die einzige legale christliche Kirche im Land befindet sich am Gelände der italienischen Botschaft in Kabul (RA KBL 12.5.2021). Die afghanischen Behörden erlaubten die Errichtung dieser katholischen Kapelle unter der Bedingung, dass sie ausschließlich ausländischen Christen diene und jegliche Missionierung vermieden werde (KatM KBL 8.11.2017). Gemäß hanafitischer Rechtsprechung ist Missionierung illegal; Christen berichten, die öffentliche Meinung stehe ihnen und der Missionierung weiterhin feindselig gegenüber (USDOS 12.5.2021). Die Abkehr vom Islam gilt als Apostasie, die nach der Scharia strafbewehrt ist (USDOS 12.5.2021; vgl. AA 16.7.2020). Wie in den vergangenen fünf Jahren gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie; jedoch berichten Personen, die vom Islam konvertieren, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskieren (USDOS 12.5.2021).
Das Gesetz verbietet die Produktion und Veröffentlichung von Werken, die gegen die Prinzipien des Islam oder gegen andere Religionen verstoßen (USDOS 12.5.2021). Das neue Strafgesetzbuch 2017, welches im Februar 2018 in Kraft getreten ist (USDOS 12.5.2021; vgl. ICRC o.D.), sieht Strafen für verbale und körperliche Angriffe auf Anhänger jedweder Religion und Strafen für Beleidigungen oder Verzerrungen gegen den Islam vor (USDOS 12.5.2021).
Das Zivil- und Strafrecht basiert auf der Verfassung; laut dieser müssen Gerichte die verfassungsrechtlichen Bestimmungen sowie das Gesetz bei ihren Entscheidungen berücksichtigen. In Fällen, in denen weder die Verfassung noch das Straf- oder Zivilgesetzbuch einen bestimmten Rahmen vorgeben, können Gerichte laut Verfassung die sunnitische Rechtsprechung der hanafitischen Rechtsschule innerhalb des durch die Verfassung vorgegeben Rahmens anwenden, um Recht zu sprechen. Die Verfassung erlaubt es den Gerichten auch, das schiitische Recht in jenen Fällen anzuwenden, in denen schiitische Personen beteiligt sind. Nicht-Muslime dürfen in Angelegenheiten, die die Scharia-Rechtsprechung erfordern, nicht aussagen. Die Verfassung erwähnt keine eigenen Gesetze für Nicht-Muslime. Vertreter nicht-muslimischer religiöser Minderheiten, darunter Sikhs und Hindus, berichten über ein Muster der Diskriminierung auf allen Ebenen des Justizsystems (USDOS 12.5.2021).
Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsalierung gegenüber religiösen Minderheiten und reformerischen Muslimen behindert (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 12.5.2021).
Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (FH 4.3.2020). Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung (USDOS 12.5.2021; vgl. FH 4.3.2020). Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen (USDOS 12.5.2021).
Ein Muslim darf eine nicht-muslimische Frau heiraten, aber die Frau muss konvertieren, sofern sie nicht Anhängerin einer anderen abrahamitischen Religion (Christentum oder Judentum) ist. Einer Muslima ist es nicht erlaubt, einen nicht-muslimischen Mann zu heiraten. Konvertiten vom Islam riskieren die Annullierung ihrer Ehe (USDOS 12.5.2021). Ehen zwischen zwei Nicht-Muslimen sind gültig (USE o.D.). Die nationalen Identitätsausweise beinhalten Informationen über das Religionsbekenntnis. Das Bekenntnis zum Islam wird für den Erwerb der Staatsbürgerschaft nicht benötigt. Religiöse Gemeinschaften sind gesetzlich nicht dazu verpflichtet, sich registrieren zu lassen (USDOS 12.5.2021).
Laut Verfassung soll der Staat einen einheitlichen Lehrplan, der auf den Bestimmungen des Islam basiert, gestalten und umsetzen; auch sollen Religionskurse auf Grundlage der islamischen Strömungen innerhalb des Landes entwickelt werden. Der nationale Bildungsplan enthält Inhalte, die für Schulen entwickelt wurden, in denen die Mehrheiten entweder schiitisch oder sunnitisch sind; ebenso konzentrieren sich die Schulbücher auf gewaltfreie islamische Bestimmungen und Prinzipien. Der Bildungsplan beinhaltet Islamkurse, nicht aber Kurse für andere Religionen. Für Nicht-Muslime an öffentlichen Schulen ist es nicht erforderlich, am Islamunterricht teilzunehmen (USDOS 12.5.2021).
In Hinblick auf die Gespräche im Rahmen des Friedensprozesses, äußerten einige Sikhs und Hindus ihre Besorgnis darüber, dass in einem Umfeld nach dem Konflikt von ihnen verlangt werden könnte, gelbe (Stirn-)Punkte, Abzeichen oder Armbinden zu tragen, wie es die Taliban während ihrer Herrschaft von 1996 bis 2001 vorgeschrieben hatten (USDOS 12.5.2021).
1.2.2. Auszug aus einer ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan zur Situation von 1) vom Islam abgefallenen Personen (Apostaten), 2) christlichen KonvertitInnen, 3) Personen, die Kritik am Islam äußern, 4) Personen, die sich nicht an die Regeln des Islam halten und 5) Rückkehrern aus Europa vom 01.06.2017, a-10159:
„Nach Angaben des US-Nachrichtendiensts Central Intelligence Agency (CIA) seien 99,7 Prozent der Bevölkerung Afghanistans Muslime. Der Anteil der Sunniten liege bei 84,7 bis 89,7 Prozent, während jener der Schiiten bei 10 bis 15 Prozent liege. Nichtmuslimische Gruppen würden 0,3 Prozent der Bevölkerung ausmachen (CIA, Stand 1. Mai 2017). Laut US-Außenministerium (US Department of State, USDOS) würden zu den nichtmuslimischen Gruppen vor allem Hindus, Sikhs, Bahá'í und Christen zählen. Bezüglich Zahl der christlichen Gemeinden im Land würden keine verlässlichen Schätzungen vorliegen (USDOS, 10. August 2016, Section 1). Nach Angaben des niederländischen Außenministeriums handle es sich dabei wahrscheinlich um einige Dutzend Personen (BZ, 15. November 2016, S. 65). Laut Angaben der Evangelischen Allianz in Deutschland (EAD), eines evangelikalen Netzwerks verschiedener Kirchen und Gemeinschaften in Deutschland, gehe „[e]ine optimistische Schätzung […] davon aus, dass es mehrere Tausend einheimische Christen“ im Land gebe (EAD, 9. Juni 2015). Die staatliche United States Commission on International Religious Freedom (USCIRF) schreibt unter Berufung auf Berichte afghanischer Flüchtlinge in Europa, dass unter anderem die Zahl der Christen in Afghanistan seit dem Wiedererstarken der Taliban im Jahr 2015 vermutlich erheblich zurückgegangen sei (USCIRF, 26. April 2017).
1) Vom Islam abfallende Personen (Apostaten)
Das norwegische Herkunftsländerinformationszentrum Landinfo schreibt in einem Bericht vom September 2013, dass Apostasie (Arabisch: ridda) in der klassischen Scharia als „Weggehen“ vom Islam verstanden werde und ein Apostat (Arabisch: murtadd) ein Muslim sei, der den Islam verleugne. Apostasie müsse nicht unbedingt bedeuten, dass sich der Apostat einer neuen Glaubensrichtung anschließe:
[…]
Artikel 2 der Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan vom Jänner 2004 legt die „heilige Religion des Islam“ als Religion Afghanistans fest. Angehörige anderer Glaubensrichtungen steht es frei, innerhalb der Grenzen des Gesetzes ihren Glauben und ihre religiösen Rituale auszuüben. Gemäß Artikel 3 der Verfassung darf kein Gesetz in Widerspruch zu den Lehren und Vorschriften des Islam stehen. Laut Artikel 7 ist Afghanistan indes verpflichtet, die Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen, zwischenstaatlicher Vereinbarungen, internationaler Vertragswerke, deren Vertragsstaat Afghanistan ist, sowie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte einzuhalten. Artikel 130 der Verfassung schreibt vor, dass die Gerichte bei der Beurteilung von Fällen die Bestimmungen der Verfassung und anderer Gesetze zu berücksichtigen haben. Wenn es jedoch zu einem Fall keine Bestimmungen in der Verfassung oder anderen Gesetzen gibt, so haben die Gerichte entsprechend der (sunnitischen) hanafitischen Rechtssprechungstradition innerhalb der Grenzen der Verfassung auf eine Art und Weise zu entscheiden, welche am besten geeignet ist, Gerechtigkeit zu gewährleisten:
[…]
Bezug nehmend auf den soeben zitierten Artikel 130 der afghanischen Verfassung schreibt Landinfo im August 2014, dass dieser Artikel hinsichtlich Apostasie und Blasphemie relevant sei, da Apostasie und Blasphemie weder in der Verfassung noch in anderen Gesetzen behandelt würden. (Landinfo, 26. August 2014, S. 2). Im afghanischen Strafgesetzbuch existiere keine Definition von Apostasie (Landinfo, 4. September 2013, S. 10; USDOS, 10. August 2016, Section 2). Die US Commission on International Religious Freedom (USCIRF) schreibt, dass das Strafgesetzbuch den Gerichten ermögliche, Fälle, die weder im Strafgesetz noch in der Verfassung explizit erfasst seien, darunter Blasphemie, Apostasie und Konversion, gemäß dem Scharia-Recht der Hanafi-Rechtsschule und den sogenannten „hudud“-Gesetzen, die Vergehen gegen Gott umfassen würden, zu entscheiden (USCIRF, 26. April 2017). Die Scharia zähle Apostasie zu den sogenannten „hudud“-Vergehen (USDOS, 10. August 2016, Section 2) und sehe für Apostasie wie auch für Blasphemie die Todesstrafe vor (Landinfo, 26. August 2014, S. 2).
Die United States Commission on International Religious Freedom (USCIRF), eine staatliche Einrichtung der USA zur Beobachtung der Situation hinsichtlich der Meinungs- Gewissens- und Glaubensfreiheit im Ausland, schreibt in ihrem Jahresbericht vom April 2017, dass staatlich sanktionierte religiöse Führer sowie das Justizsystem dazu ermächtigt seien, islamische Prinzipien und das Scharia-Recht (gemäß Hanafi-Rechtslehre) auszulegen. Dies führe zuweilen zu willkürlichen und missbräuchlichen Auslegungen und zur Verhängung schwerer Strafen, darunter der Todesstrafe (USCIRF, 26. April 2017).
Die Internationale Humanistische und Ethische Union (International Humanist and Ethical Union, IHEU), ein Zusammenschluss von über 100 nichtreligiösen humanistischen und säkularen Organisationen in mehr als 40 Ländern, bemerkt in ihrem im November 2016 veröffentlichten „Freedom of Thought Report 2016“, dass sich die Gerichte bei ihren Entscheidungen weiterhin auf Auslegungen des islamischen Rechts nach der Hanafi-Rechtslehre stützen würden. Das Office of Fatwa and Accounts innerhalb des Obersten Gerichtshofs Afghanistans würde die Hanafi-Rechtsprechung auslegen, wenn ein Richter Hilfe dabei benötige, zu verstehen, wie die Rechtsprechung umzusetzen sei:
[…]
Thomas Ruttig, Ko-Direktor des Afghanistan Analysts Network (AAN), einer unabhängigen, gemeinnützigen Forschungsorganisation mit Hauptsitz in Kabul, die Analysen zu politischen Themen in Afghanistan und der umliegenden Region erstellt, bemerkte in einem Expertengespräch vom Mai 2016 (veröffentlicht im Juni 2016) Folgendes bezüglich der Rechtspraxis:
‚Zwar gibt es drei parallele Rechtssysteme (staatliches Recht, traditionelles Recht und islamisches Recht/Scharia), doch letztendlich ziehen sich viele Richter, wenn die Lage irgendwie politisch heikel wird, auf das zurück, was sie selber als Scharia ansehen, statt sich etwa auf die Verfassung zu berufen. Die Scharia ist nicht gänzlich kodifiziert, obwohl verschiedenste Rechtskommentare etc. existieren, und zudem gibt es zahlreiche Widersprüche in den Lehrmeinungen.‘ (ACCORD, Juni 2016, S. 10)
Michael Daxner, Sozialwissenschaftler, der das Teilprojekt C9 „Sicherheit und Entwicklung in Nordost-Afghanistan“ des Sonderforschungsbereichs 700 der Freien Universität Berlin leitet, bemerkte beim selben Expertengespräch vom Mai bezüglich der Auslegung des islamischen Rechts und islamischer Prinzipien:
‚Sehr oft stammen die liberalsten Auslegungen von Personen, die etwa an einer Einrichtung wie der Al-Azhar in Kairo studiert haben und daher mit den Rechtskommentaren vertraut sind. Man kann sich indes kaum vorstellen, wie wenig theologisch und religionswissenschaftlich versiert die Geistlichen auf den unteren Ebenen sind. Wenn ein Rechtsgelehrter anwesend ist, der etwa von der Al-Azhar kommt, kann er die Sache auch ein Stück weit zugunsten des Beschuldigten drehen, denn je mehr glaubwürdige Kommentare dem Scharia-Text zugefügt werden, desto besser sieht es für die Betroffenen aus.‘ (ACCORD, Juni 2016, S. 10)
Das UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UN High Commissioner for Refugees, UNHCR) geht in seinen im April 2016 veröffentlichten Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender wie folgt auf die strafrechtlichen Konsequenzen von Apostasie bzw. Konversion vom Islam ein:
‚Eine Konversion vom Islam wird als Apostasie betrachtet und gemäß den Auslegungen des islamischen Rechts durch die Gerichte mit dem Tod bestraft. Zwar wird Apostasie im afghanischen Strafgesetzbuch nicht ausdrücklich als Straftat definiert, fällt jedoch nach allgemeiner afghanischer Rechtsauffassung unter die nicht weiter definierten ‚ungeheuerlichen Straftaten‘, die laut Strafgesetzbuch nach der islamischen Hanafi-Rechtslehre bestraft werden und in den Zuständigkeitsbereich der Generalstaatsanwalt-schaft fallen.
Damit wird Apostasie als Straftat behandelt, obwohl nach der afghanischen Verfassung keine Handlung als Straftat eingestuft werden darf, sofern sie nicht als solche gesetzlich definiert ist.‘ (UNHCR, 19. April 2016, S. 61)
Das US-Außenministerium (US Department of State, USDOS) schreibt in seinem im August 2016 veröffentlichten Länderbericht zur internationalen Religionsfreiheit (Berichtsjahr 2015), dass laut Hanafi-Rechtlehre Männer bei Apostasie mit Enthauptung und Frauen mit lebenslanger Haft zu bestrafen seien, sofern die Betroffenen keine Reue zeigen würden. Richter könnten zudem geringere Strafen verhängen, wenn Zweifel am Vorliegen von Apostasie bestünden. Laut der Auslegung des islamischen Rechts durch die Gerichte würde der Übertritt vom Islam zu einer anderen Religion Apostasie darstellen. In diesem Fall habe die betroffene Person drei Tage Zeit, um die Konversion zu widerrufen. Widerruft sie nicht, so habe sie die für Apostasie vorgesehene Strafe zu erhalten. Die genannten Entscheidungsempfehlungen würden in Bezug auf Personen gelten, die geistig gesund und vom Alter her „reif“ seien. Dieses Alter werde im Zivilrecht mit 18 Jahren (bei Männern) bzw. 16 Jahren (bei Frauen) festgelegt. Gemäß islamischem Recht erreiche eine Person dieses Alter, sobald sie Anzeichen von Pubertät zeige:
[…]
Auch der Bericht von Landinfo vom September 2013 behandelt unter Berufung auf verschiedene Quellen die rechtlichen Folgen von Apostasie. Das Strafrecht sehe gemäß Scharia die Todesstrafe für erwachsene zurechnungsfähige Männer vor, die den Islam freiwillig verlassen hätten. Diese Rechtsauffassung gelte sowohl für die schiitisch-dschafaritische als auch für die (in Afghanistan dominierende) sunnitisch-hanafitische Rechtsschule. Nach einer Einschätzung in einer Entscheidung des britischen Asylum and Immigration Tribunal aus dem Jahr 2008 sei das Justizwesen in Afghanistan mehrheitlich mit islamischen Richtern besetzt, die den Doktrinen der hanafitischen bzw. dschafaritischen Rechtssprechung folgen würden, welche die Hinrichtung von muslimischen Konvertiten empfehlen würden. Die Strafen für Frauen im Falle von Apostasie seien indes weniger schwer: sie würden „gefangen gehalten“. Die sunnitisch-hanafitische Rechtslehre sehe dabei eine mildere Bestrafung vor als die schiitisch-dschafaritische. Während letztere vorsehe, dass (weibliche) Apostatinnen täglich jeweils zu den Gebetszeiten ausgepeitscht würden, sehe die hanafitische Lehre vor, dass sie jeden dritten Tag geschlagen würden, um sie zu zur Rückkehr zum Islam zu bewegen. Neben Frauen seien auch Kinder, androgyne Personen und nichtgebürtige Muslime im Fall von Apostasie von der Todesstrafe ausgenommen. Bezüglich der Anwendung der Scharia und der strafrechtlichen Konsequenzen für Apostasie liege kein Erfahrungsmaterial speziell zu Afghanistan vor. Zugleich sei Landinfo der Auffassung, es gebe Grund zur Annahme, dass etwaige gerichtliche Entscheidungen in diesem Bereich unterschiedlich ausgefallen seien, jedoch den soeben beschriebenen Richtlinien entsprechen würden, wobei die Variationen eventuell weniger ausgeprägt sein könnten. Dies gelte auch für die zivilrechtlichen Folgen von Apostasie. Wie Landinfo bemerkt, könne in Afghanistan gemäß Verfassung und religiösen Rechtsmeinungen die Todesstrafe verhängt werden, wenn ein Fall von Konversion vor Gericht komme. Dies gelte sowohl für das staatliche als auch für das traditionelle Rechtssystem:
[…]
Dem USDOS zufolge seien aus dem Berichtsjahr 2015 keine Fälle von tätlichen Übergriffen, Inhaftierungen, Festnahmen oder Strafverfolgung wegen Apostasie bekannt (USDOS, 10. August 2016, Section 2).
UNHCR schreibt in seinen Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender Folgendes über zivilrechtliche und gesellschaftliche Folgen einer (vermeintlichen) Apostasie bzw. Konversion:
‚Geistig zurechnungsfähige männliche Bürger über 18 Jahren und weibliche Bürger über 16 Jahren, die vom Islam konvertieren und ihre Konversion nicht innerhalb von drei Tagen widerrufen, riskieren die Annullierung ihrer Ehe und eine Enteignung ihres gesamten Grund und sonstigen Eigentums. Außerdem können sie von ihren Familien und Gemeinschaften zurückgewiesen werden und ihre Arbeit verlieren.
Berichten zufolge herrscht in der öffentlichen Meinung eine feindliche Einstellung gegenüber missionarisch tätigen Personen und Einrichtungen. Rechtsanwälte, die Angeklagte vertreten, denen Apostasie zur Last gelegt wird, können Berichten zufolge selbst der Apostasie bezichtigt und mit dem Tod bedroht werden. […]
Darüber hinaus besteht für Personen, denen Verstöße gegen die Scharia wie Apostasie, Blasphemie, einvernehmliche gleichgeschlechtliche Beziehungen oder Ehebruch (zina) vorgeworfen werden, nicht nur die Gefahr der strafrechtlichen Verfolgung, sondern auch der gesellschaftlichen Ächtung und Gewalt durch Familienangehörige, andere Mitglieder ihrer Gemeinschaften, die Taliban und andere regierungsfeindliche Kräfte (AGEs).‘ (UNHCR, 19. April 2016, S. 61-62)
Landinfo schreibt in einem Bericht vom September 2013, dass die Situation von Apostaten, die hin zu einer anderen Religion konvertieren, eine andere sei als jene von Atheisten oder säkular eingestellten Personen. Mit dem Negieren bzw. Bezweifeln der Existenz Gottes würden keine Erwartungen an ein bestimmtes Verhalten im Alltag einhergehen. Eine Konversion zu einer Religion hingegen sei mit Verhaltensvorschriften, kirchlichen Traditionen und Ritualen zu verbinden, die schwieriger zu verbergen seien:
[…]
Die IHEU bemerkt in ihrem Bericht vom November 2016, dass nur sehr wenige Fälle von „Ungläubigen“ bzw. Apostaten verzeichnet würden, was wahrscheinlich jedoch bedeute, dass viele Konvertiten und Andersgläubige zu viel Angst davor hätten, ihren Glauben öffentlich kundzutun. Der Übertritt vom Islam werde selbst von vielen Personen, die sich allgemein zu demokratischen Werten bekennen würden, als Tabu angesehen. (IHEU, 1. November 2016)
Laut einem Artikel von BBC News vom Jänner 2014 stelle Konversion bzw. Apostasie in Afghanistan nach islamischem Recht eine Straftat dar, die mit der Todesstrafe bedroht sei. In manchen Fällen würden die Leute jedoch die Sache selbst in die Hand nehmen und einen Apostaten zu Tode prügeln, ohne dass die Angelegenheit vor Gericht gelange:
[…]
Weiters bemerkt BBC News, dass für gebürtige Muslime ein Leben in der afghanischen Gesellschaft eventuell möglich sei, ohne dass sie den Islam praktizieren würden oder sogar dann, wenn sie „Apostaten“ bzw. „Konvertiten“ würden. Solche Personen seien in Sicherheit, solange sie darüber Stillschweigen bewahren würden. Gefährlich werde es dann, wenn öffentlich bekannt werde, dass ein Muslim aufgehört habe, an die Prinzipien des Islam zu glauben. Es gebe kein Mitleid mit Muslimen, die „Verrat an ihrem Glauben“ geübt hätten, indem sie zu einer anderen Religion konvertiert seien oder aufgehört hätten, an den einen Gott und an den Propheten Mohammed zu glauben. In den meisten Fällen werde ein Apostat von seiner Familie verstoßen:
[…]
2) Christliche KonvertitInnen
Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network (AAN) bemerkte in einem Expertengespräch vom Mai 2016 (veröffentlicht im Juni 2016), dass Christen als religiöse Gruppe in der afghanischen Verfassung „(wohl bewusst) nicht genannt“ würden, während Sikhs und Hindus in der Verfassung genannt würden und die gleichen Rechte hinsichtlich der Religionsausübung zuerkannt bekämen wie Muslime schiitischer Konfession. Da es jedoch niemanden gebe, der in der Lage sei, die Verfassung umzusetzen, könne „die Verfassung einen Christen wohl auch dann nicht schützen, wenn die Verfassung die Religionsausübung von Christen garantieren würde und sich ein Christ auf die Verfassung berufen könnte“. (ACCORD, Juni 2016, S. 10)
UNHCR bemerkt in seinen im April 2016 veröffentlichten Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, dass nichtmuslimische religiöse Minderheiten, darunter Christen, „weiterhin im geltenden Recht diskriminiert“ würden. Die sunnitische Hanafi-Rechtssprechung gelte für „alle afghanischen Bürger, unabhängig von ihrer Religion“. Die „einzige Ausnahme“ würden „Personenstandsachen [bilden], bei denen alle Parteien Schiiten sind“, in diesem Fall würde „das schiitische Recht für Personenstandsachen angewendet“. Für andere religiöse Gruppen gebe es „kein eigenes Recht“. Wie UNHCR weiter ausführt, würden unabhängig davon „nicht-muslimische Minderheiten Berichten zufolge weiterhin gesellschaftliche Schikanierung und in manchen Fällen Gewalt“ erfahren. So würden Mitglieder religiöser Minderheiten wie etwa der Christen „aus Angst vor Diskriminierung, Misshandlung, willkürlicher Verhaftung oder Tötung“ es vermeiden, „sich öffentlich zu ihrer Religion zu bekennen oder sich offen zum Gebet zu versammeln“. (UNHCR, 19. April 2016, S. 57-58)
Ähnlich schreibt das US-Außenministerium (USDOS) in seinem im August 2016 veröffentlichten Jahresbericht zur Religionsfreiheit (Berichtsjahr: 2015) unter Berufung auf Vertreter von Minderheitenreligionen, dass die afghanischen Gerichte Nichtmuslimen nicht dieselben Rechte wie Muslimen zugestehen würden und Nichtmuslime häufig der sunnitisch-hanafitischen Rechtsprechung unterworfen würden (USDOS, 10. August 2016, Section 2).
Ruttig geht im Expertengespräch vom Mai 2016 (veröffentlicht im Juni 2016) wie folgt auf die Lage von christlichen Konvertiten ein:
‚Die Gleichberechtigung gilt nicht für die zunehmende Zahl von Christen, bei denen es sich ausschließlich um Konvertiten (oft durch evangelikale Gruppen; aber auch bewusste Abwendungen vom Islam unter Gebildeten) und nicht um autochthone Gruppen handelt. Als ehemalige Muslime gelten sie als Abtrünnige, worauf nach der Scharia (siehe Rechtssysteme) die Todesstrafe stehen kann. Ihre Zahl ist nicht bekannt. Es gibt heute eine ganze Reihe von Afghanen, die zum Christentum übergetreten sind. Sie tun alle sehr wohl daran, ihren Glaubensübertritt nicht (weitestgehend nicht einmal gegenüber der eigenen Familie) bekanntzugeben. Es handelt sich zum Teil um Angehörige stark unterprivilegierter Gruppen (Straßenkinder, sehr arme Familien), die über humanitäre Ausreichungen konvertiert worden sind und ich habe auch Leute von denen getroffen, die oft nur geringe Kenntnisse über das Christentum haben. Aber es gibt auch sehr bewusste Entscheidungen unter gebildeten Afghanen, die sich bewusst vom Islam abwenden und Christen werden. Mir sind persönlich Fälle von drei oder vier Leuten bekannt (aber es gibt natürlich viel mehr!), deren Konversion bekannt geworden ist, die dann aus Afghanistan gerettet und ausgeflogen werden mussten. Konversion ist einfach nicht vorgesehen, deswegen stehen diese Christen unter starkem Verfolgungsdruck.‘ (ACCORD, Juni 2016, S. 8-9)
‚Afghanen, die einer Konversion beschuldigt werden, stehen völlig im Regen. Es gibt niemanden, der ihnen helfen kann. Falls die Sache vor ein staatliches Gericht kommt (was unwahrscheinlich ist), dann sehen sich die Richter ideologisch derart gezwungen, nach der Scharia zu urteilen, dass der Fall nur schlecht für den Betroffenen ausgehen kann.‘ (ACCORD, Juni 2016, S. 10)
Wie UNHCR bemerkt, dürften Nichtmuslime „Berichten zufolge nur dann untereinander heiraten, wenn sie sich nicht öffentlich zu ihren nicht-islamischen Überzeugungen bekennen“ würden (UNHCR, 19. April 2016, S. 58).
[…]
UNHCR schreibt Folgendes über gesellschaftliche Haltungen gegenüber Christen sowie über das Vorgehen der Taliban gegen (vermeintlich) christliche ausländische Hilfsorganisationen:
‚Die gesellschaftliche Einstellung gegenüber Christen ist Berichten zufolge weiterhin offen feindlich. Christen werden gezwungen, ihren Glauben zu verheimlichen. In Afghanistan existieren keine öffentlichen Kirchen mehr und Christen beten allein oder in kleinen Versammlungen in Privathäusern. Im Jahr 2013 riefen vier Parlamentsmitglieder Berichten zufolge zur Hinrichtung von Personen auf, die zum Christentum konvertiert sind. Die Taliban haben Berichten zufolge ausländische Hilfsorganisationen und ihre Gebäude auf der Grundlage angegriffen, dass diese Zentren des christlichen Glaubens seien.‘ (UNHCR, 19. April 2016, S. 58-59)
Die staatliche United States Commission on International Religious Freedom (USCIRF) schreibt im April 2017, dass nichtmuslimische religiöse Gemeinschaften weiterhin von gesellschaftlicher Diskriminierung, Schikanierung und mitunter auch Gewalt betroffen seien. Es würden unter anderem Berichte über Schikanen gegen vom Islam konvertierte Personen vorliegen. Mitglieder nichtmuslimischer Gemeinschaften hätten berichtet, dass allgemein vorherrschende Unsicherheit und Mangel an wirtschaftlichen Möglichkeiten sie dazu bewegt hätten, das Land zu verlassen:
[…]
Das USDOS bemerkt, dass Christen aus Angst vor staatlichen Repressalien weiterhin Situationen aus dem Weg gehen würden, die geeignet wären, bei der Regierung den Eindruck zu erwecken, sie würden versuchen, ihre Religion zu verbreiten. Weiters hätten Christen angegeben, dass die öffentliche Meinung gegenüber christlichen Konvertiten und der Idee der christlichen Missionierung feindselig sei. Mitglieder der kleinen christlichen Gemeinde, von denen viele im Ausland zum Christentum konvertiert seien, würden aus Angst vor Diskriminierung oder Verfolgung weiterhin alleine oder in kleinen Gruppen in Privathäusern Gottesdienst halten. Es gebe weiterhin keine öffentlichen christlichen Kirchen in Afghanistan. Für nichtafghanische Staatsangehörige unterschiedlicher Glaubensrichtungen gebe es Gebetsstätten innerhalb von Militäreinrichtungen der Koalitionstruppen sowie in Botschaften in Kabul:
[…]
Laut Angaben der USCIRF befinde sich die einzige bekannte christliche Kirche im Land auf dem Gelände der italienischen Botschaft (USCIRF, 26. April 2017).
Der Deutschlandfunk, ein öffentlich-rechtlicher Radiosender mit Sitz in Köln, zitiert im Februar 2017 den deutschen reformierten Theologen und Religionswissenschaftler Thomas Schirrmacher mit folgender Aussage, die sich auf Übertritte afghanischer Asylwerber zum Christentum bezieht:
‚Für viele Muslime ist die Sache hoch gefährlich, weil im Islam eine Strafe auf Apostasie und Blasphemie steht. Und sie können dann so oder so nicht mehr in ihre Länder zurück. Im Regelfall wird aber auch die Familie sie verstoßen. In Afghanistan gibt es – ja man kann schon sagen – ein Kampf auf Leben und Tod zwischen dem offiziellen Islam und allen abweichenden Formen und der zweitgrößten Religion im Land, dem Christentum.‘ (Deutschlandfunk, 13. Februar 2017)
Die Evangelische Allianz in Deutschland (EAD) beschreibt die Lage von Christen wie folgt:
‚Gemeinden leben fast ausschließlich als Untergrundkirche, und es gab nur eine leichte Verbesserung seit dem Sturz der Taliban. Gläubige aus dem Ausland, die stark zugenommen haben, können nur sehr vorsichtig ihren Glauben bezeugen. Die Zahl der afghanischen Gläubigen wächst, ebenso die Mittel, die zur Verfügung stehen, um ihnen zu helfen. […] Werden spirituellen Aktivitäten unter den Gläubigen entdeckt, wird auf dem muslimischen Hintergrund in den Medien intensiv darüber berichtet und versichert, hart durchzugreifen bis hin zur Todesstrafe.‘ (EAD, 9. Juni 2015)
Landinfo schreibt in einem Bericht vom September 2013, dass sich die religiösen, kulturellen und gesellschaftlichen Beschränkungen, denen Christen in Afghanistan unterworfen seien, nicht anders gestalten würden als für andere Gruppen mit Meinungen, Weltansichten, politischen Überzeugungen und Glaubensvorstellungen, die als Abfall vom Islam wahrgenommen werden könnten. Ebenso wie Personen mit säkularen Ansichten, Atheisten und nichtgläubige Afghanen müssten auch Christen ständige Selbstzensur üben und könnten sich wegen drohender Angriffe nicht zu ihrem Verhältnis zum bzw. ihrer Sicht auf den Islam äußern. Angehörige solcher Gruppen seien gezwungen, sich konform mit dem Islam, d.h. so zu verhalten, als wären sie Muslime. Nach außen hin müssten alle Afghanen die religiösen Erwartungen ihrer lokalen Gemeinschaft hinsichtlich religiösen Verhaltensweisen, Gebeten etc. erfüllen. Laut Angaben unter anderem der norwegischen Kulturberatungsfirma Hansen Cultural Coaching (HCC) gebe es viele Afghanen (nicht nur christliche Konvertiten), die lokale religiöse Sitten befolgen und an religiösen Ritualen teilnehmen, ohne dass diese Handlungen ihre tatsächlichen inneren Glaubensvorstellungen und Überzeugungen widerspiegeln würden:
[…]
Die US-Tageszeitung New York Times (NYT) berichtet in einem älteren Artikel vom Juni 2014, dass es aus offizieller Sicht keine afghanischen Christen gebe. Die wenigen Afghanen, die das Christentum praktizieren würden, würden dies aus Angst vor Verfolgung im Privaten tun und eine der wenigen Untergrundkirchen besuchen, von denen man annehme, dass sie im Land existieren würden. Ausländische Christen würden Kapellen in Botschaftseinrichtungen besuchen, doch diese seien für Afghanen praktisch unzugänglich. Im vergangenen Jahrzehnt seien nur wenige Fälle von Konversion öffentlich bekannt geworden. In der Regel sei die Regierung dann rasch und lautlos vorgegangen: Die Betroffenen seien dazu aufgefordert worden, ihren Glaubensübertritt zu widerrufen, und wenn sie sich geweigert hätten, seien sie aus dem Landes vertrieben worden, in der Regel nach Indien:
[…]“
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Die Feststellung zum Namen des Beschwerdeführers ergibt sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, in der Beschwerde und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Soweit in der gegenständlichen Rechtssache Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers (Name und Geburtsdatum) getroffen wurden, gelten diese mangels Vorlage von identitätsbezeugenden Dokumenten ausschließlich für die Identifizierung des Beschwerdeführers im Asylverfahren. Die Feststellung zum Geburtsdatum ergibt sich aus der Angabe des Beschwerdeführers vor der Erstaufnahmestelle am 16.11.2015, er sei zum damaligen Zeitpunkt 17 Jahre alt gewesen. Darauf basierend wurde das fiktive Geburtsdatum des Beschwerdeführers vom BFA mit XXXX festgestellt; der Beschwerdeführer zeigte sich im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht mit der Heranziehung dieses Geburtsdatums einverstanden.
Die Feststellungen zu der Staatsangehörigkeit und der Volksgruppenzugehörigkeit des Beschwerdeführers gründen sich auf seine diesbezüglich glaubhaften Angaben; das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen - im gesamten Verfahren gleich gebliebenen und sich mit den Länderberichten zu Afghanistan deckenden - Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln.
Die Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Geburts- und Aufenthaltsort, seinem Familienstand, seinen Familienangehörigen, seinen Lebensumständen in Afghanistan sowie seiner Einreise nach Österreich waren im Wesentlichen gleichbleibend und widerspruchsfrei, weitgehend chronologisch stringent und vor dem Hintergrund der bestehenden sozioökonomischen Strukturen in Afghanistan plausibel.
Das Datum der Antragstellung ergibt sich aus dem Akteninhalt.
Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.
2.2. Zu den Feststellungen zur Abfall vom islamischen Glauben (Apostasie):
Die Feststellungen zum religiösen Hintergrund des Beschwerdeführers und zu seinem aus tiefer freier persönlicher Überzeugung und von Ernsthaftigkeit und Nachhaltigkeit getragenen Abfall vom Islam stützen sich auf die diesbezüglich glaubhaften Ausführungen des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 23.06.2021 sowie die im Vorfeld der mündlichen Verhandlung vorgelegten Bestätigungen der Islamischen Schiitischen Glaubensgemeinschaft in Österreich vom 11.06.2019 und des Bürgermeisters der Stadt XXXX vom 17.06.2019, an deren Echtheit und Richtigkeit keine Zweifel entstanden sind.
Der Beschwerdeführer wurde in der mündlichen Verhandlung zu dem von ihm erstmals im Schriftsatz vom 18.06.2019 vorgebrachten Glaubensabfall ausführlich und eingehend befragt. Insbesondere der persönliche Eindruck, den der Beschwerdeführer bei der Schilderung der näheren Umstände und Motive für seine Abkehr vom Islam in der mündlichen Verhandlung hinterließ, vermochte davon zu überzeugen, dass beim Beschwerdeführer im Laufe seines Aufenthaltes in Österreich eine tiefgreifende, ernsthafte und identitätsprägende Abkehr vom islamischen Glauben im Sinne einer scharfen Abgrenzung und emotionalen Abwehrhaltung gegenüber den damit verbundenen Glaubensinhalten und religiösen Bräuchen und Sitten stattgefunden hat. So gab der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung an, keine religiösen Riten wie den Besuch einer Moschee oder des Festtagsgebetes auszuüben, Alkohol zu trinken, in die Disco zu gehen und ein Tattoo zu tragen. Von seinen afghanischen Freunden in Österreich, die seinen Glaubensabfall nicht respektierten, habe sich der Beschwerdeführer distanziert (vgl. Seite 15 des Verhandlungsprotokolls). Auch die frühere Heimleiterin des Beschwerdeführers führt in ihrem Schreiben vom 11.06.2021 aus, dass sie beim Beschwerdeführer – im Gegensatz zu anderen afghanischen Jugendlichen, die sie betreute – keine muslimische Religionsausübung (z.B. Beten im Zimmer, Besuche in der Moschee, Besitz von Gebetsteppich und Koran, Praktizieren des Ramadan) bemerken konnte. Vielmehr sei ihr aufgefallen, dass sich der Beschwerdeführer regelrecht distanziere und zurückzog, wenn andere ihre islamische Religionszugehörigkeit praktizierten.
Der Beschwerdeführer hat in der mündlichen Verhandlung auch seine bereits im Iran in jungen Jahren erfolgte beginnende Abwendung vom Islam nachvollziehbar geschildert. Er gab an, Afghanistan verlassen zu haben, weil ihn sein Vater vor dem Besuch einer Koranschule bewahren wollte. Die Koranschule assoziierte der Beschwerdeführer mit dem Jihad und Gewalt im Namen der Religion und machte in Folge den Islam dafür verantwortlich, dass er Afghanistan verlassen habe müssen und ohne seine Familie im Iran aufwachsen habe müssen, was zu einer Distanzierung vom Islam und letztlich zu einer völligen Ablehnung seiner ursprünglichen Religion führte. Vor diesem Hintergrund und dem Umstand, dass der Beschwerdeführer bereits im Jahr 2019 aus der Islamischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten ist und er sohin seit über zwei Jahren religionslos lebt, ist auch davon auszugehen, dass sich diese Geisteshaltung schon derart verfestigt hat, dass er nicht bereit ist, dies zukünftig zu ändern oder zumindest vor seiner Umgebung zu verheimlichen, und zwar unabhängig davon, ob in Österreich oder in seinem Herkunftsstaat.
Im Hinblick auf das glaubhafte Vorbringen des Beschwerdeführers, dass er den Umstand, dass ihn sein Vater als Elfjährigen alleine in den Iran geschickt hat als seelische Verletzung empfand und sich folglich auch von seiner Familie distanzierte, ist seine Aussage in der mündlichen Verhandlung, er habe seiner Familie von seinem Glaubensabfall nichts erzählt, weil er kein Bedürfnis danach verspüre und es ihm schlichtweg nicht wichtig sei, sich seiner Familie, die er seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gesehen habe, mitzuteilen durchaus nachvollziehbar.
Im Zusammenhang mit der vorgelegten Austrittserklärung aus der schiitischen Glaubensgemeinschaft und dem diesbezüglichen Vorbringen des BFA in der Stellungnahme vom 11.07.2019, dass daraus nicht ableitbar sei, dass die afghanischen Behörden von einem möglichen Austritt Kenntnis erlangen würden, weil nicht davon ausgegangen werden könne, dass die schiitische Glaubensgemeinschaft in Österreich Informationen an den Herkunftsstaat des Beschwerdeführers weiterleite, ist festzuhalten, dass das Bundesverwaltungsgericht nicht verkennt, dass eine solche Austrittserklärung in Afghanistan nicht einsehbar ist und in Afghanistan auch niemand von dieser Kenntnis erlangt hat. Der formelle Austritt zeigt nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes jedoch, dass es dem Beschwerdeführer ein Anliegen ist, den Abfall vom Islam als innere Überzeugung auch nach außen darzulegen.
Insgesamt und insbesondere aus den einen glaubhaften Eindruck vermittelnden Aussagen des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung lässt sich ableiten, dass der Abfall vom Islam aus innerer Überzeugung und nicht bloß zum Schein aus asyltaktischen Gründen erfolgt ist. Vor diesem Hintergrund ist auf das weitere Vorbringen des BFA in der Stellungnahme vom 11.07.2019 im Zusammenhang mit dem Konzept der „Taqiya“ nicht weiter einzugehen. Das BFA verzichtete im Übrigen auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung und trat den Beweisergebnissen insofern auch nicht entgegen.
Im Rahmen einer Gesamtbetrachtung bestehen seitens des erkennenden Gerichtes keine Zweifel daran, dass sich der Beschwerdeführer aus freier persönlicher Überzeugung, von Ernsthaftigkeit und Nachhaltigkeit getragen vom islamischen Glauben abgewendet hat und bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht beabsichtigt, die ehemalige Religion auszuüben, und auch nicht in der Lage wäre, seinen Abfall vom islamischen Glauben dauerhaft zu verheimlichen.
Dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan auf Grund seines erfolgten Abfalles vom Islam physische und/oder psychische Gewalt drohen würde, ergibt sich aus den oben angeführten Länderberichten. Aus der ACCORD-Anfragebeantwortung vom 01.06.2017 u.a. zur Situation von christlichen KonvertitInnen (Pkt. II.1.2.2) geht hervor, dass Apostaten Verfolgung durch afghanische Behörden und durch Privatpersonen fürchten müssen, wenn ihr Abfall vom Islam bekannt wird. Apostaten haben in Afghanistan mit sozialer Ausgrenzung und Gewalt durch Familienangehörige und durch die Taliban sowie mit strafrechtlicher Verfolgung bis hin zur Todesstrafe zu rechnen.
2.3. Zu den Feststellungen zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Die Feststellungen zur im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die entsprechenden Auszüge aus dem Länderinformationsblatt zum Thema der Religionsfreiheit und der Apostasie (in Verbindung mit Christentum und Konversion) sowie auf eine im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 23.06.2021 vom Bundesverwaltungsgericht ins Verfahren eingeführte ACCORD-Anfragebeantwortung vom 01.06.2017. Da diese auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der getroffenen Länderfeststellungen zu zweifeln.
3. Rechtliche Beurteilung:
Die Beschwerde ist rechtzeitig und auch sonst zulässig.
Zu A)
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist).
Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (vgl. VwGH 05.09.2016, Ra 2016/19/0074 uva.). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. etwa VwGH 10.11.2015, Ra 2015/19/0185, mwN).
Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen haben und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatlandes bzw. des Landes ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein. Zurechenbarkeit bedeutet nicht nur ein Verursachen, sondern bezeichnet eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr (vgl. VwGH 10.06.1998, 96/20/0287). Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten (VwGH 24.02.2015, Ra 2014/18/0063); auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. VwGH 28.01.2015, Ra 2014/18/0112 mwN). Eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung kann nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewandt werden kann (vgl. VwGH 22.03.2000, 99/01/0256 mwN).
Die Verfolgung kann gemäß § 3 Abs. 2 AsylG 2005 auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23 AsylG 2005) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind. Ein in der Praxis häufiges Beispiel für sogenannte subjektive Nachfluchtgründe ist die im Zufluchtsstaat erfolgende Konversion zum Christentum insbesondere bei Asylwerbern aus islamischen Staaten. Auch wenn in einem solchen Fall der Nachweis einer (religiösen) Überzeugung, die bereits im Heimatstaat bestanden hat, nicht erbracht werden kann, drohen dem Antragsteller bei seiner Rückkehr in den Heimatstaat gegebenenfalls Sanktionen, die von ihrer Intensität und ihrem Grund her an sich asylrelevant sind. Die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt in diesen Fällen nicht darauf ab, ob die entsprechende Überzeugung bereits im Heimatland bestanden hat. Vielmehr ist maßgeblich, ob der Asylwerber bei weiterer Ausführung seines behaupteten inneren Entschlusses, nach dem christlichen Glauben zu leben, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen müsse, aus diesem Grund mit einer die Intensität von Verfolgung erreichenden Sanktion belegt zu werden (vgl. dazu VwGH 23.06.2015, Ra 2014/01/0210, mwN). Bei der Beurteilung eines behaupteten Religionswechsels und der Prüfung einer Scheinkonversion kommt es auf die aktuell bestehende Glaubensüberzeugung an, die im Rahmen einer Gesamtbetrachtung anhand einer näheren Beurteilung von Zeugenaussagen und einer konkreten Befragung des Asylwerbers zu seinen religiösen Aktivitäten zu ermitteln ist (vgl. dazu VwGH 23.05.2017, Ra 2017/18/0028, mwN).
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist der Begriff der "Glaubhaftmachung" im AVG oder in den Verwaltungsvorschriften iSd ZPO zu verstehen. Es genügt daher diesfalls, wenn der [Beschwerdeführer] die Behörde von der (überwiegenden) Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der zu bescheinigenden Tatsachen überzeugt. Diesen trifft die Obliegenheit zu einer erhöhten Mitwirkung, dh er hat zu diesem Zweck initiativ alles vorzubringen, was für seine Behauptung spricht (Hengstschläger/Leeb, AVG, § 45, Rz 3, mit Judikaturhinweisen). Nach der Rechtsprechung des VwGH ist die Beurteilung des rechtlichen Begriffs der Glaubhaftmachung auf der Grundlage positiv getroffener Feststellungen von Seiten des erkennenden VwG vorzunehmen, aber im Fall der Unglaubwürdigkeit der Angaben des Asylwerbers können derartige positive Feststellungen vom VwG nicht getroffen werden (VwGH 28.06.2018, Ra 2018/19/0262). Die Frage, ob eine Tatsache als glaubhaft gemacht zu betrachten ist, unterliegt der freien Beweiswürdigung der Behörde (VwGH 27.05.1998, 97/13/0051).
Aufgrund der oben im Rahmen der Beweiswürdigung dargestellten Erwägungen (vgl. Pkt. II.2.2.) ist es dem Beschwerdeführer gelungen, drohende Verfolgung in seinem Herkunftsstaat glaubhaft zu machen:
Für die Annahme einer Verfolgung wegen Apostasie ist Voraussetzung, dass der Beschwerdeführer seine Konfessionslosigkeit als innere Überzeugung und identitätsstiftendes Merkmal versteht, die er auch in seinem Heimatstaat leben wird (vgl. VwGH 5.10.2020, Ra 2020/19/0308, mwN, sowie VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0395, mit Verweis auf EuGH 4.10.2018, Bahtiyar Fathi, C-56/17, Rn. 88).
Der Verwaltungsgerichtshof hat unter Hinweis auf das Urteil des EuGH vom 5. September 2012, Y und Z, C-71/11 und C-99/11, bereits wiederholt erkannt, dass eine begründete Furcht des Antragstellers vor asylrelevanter Verfolgung vorliegt, sobald nach Auffassung der zuständigen Behörden im Hinblick auf die persönlichen Umstände des Antragstellers vernünftigerweise anzunehmen ist, dass er nach Rückkehr in sein Herkunftsland religiöse Betätigungen vornehmen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzen. Die Tatsache, dass einem Asylwerber im Herkunftsstaat etwa aufgrund eines Gesetzes über Apostasie eine Todes- oder