Entscheidungsdatum
31.08.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
I401 2171394-1/22E
SCHRIFTLICHE AUSFERTIGUNG DES AM 15.06.2021 MÜNDLICH VERKÜNDETEN ERKENNTNISSES
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Gerhard AUER über die Beschwerde des XXXX alias XXXX , geb. XXXX alias XXXX , StA. NIGERIA, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, und Mag. Dr. Anton KARNER, Rechtsanwalt, Steyrergasse 103/II, 8010 Graz, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark vom 31.08.2017, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Nach Aberkennung des Asylstatus in Ungarn und illegaler Einreise in das Bundesgebiet im Oktober 2015 stellte der Beschwerdeführer am 17.11.2015 den Antrag auf internationalen Schutz, den er mit sexuellem Missbrauch durch seinen Cousin begründete. Sein Vater habe daraufhin ihn und den Cousin vergiften wollen, daher habe er das Land verlassen.
Vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge als Bundesamt bezeichnet) wurden ihm seine Angaben vor den ungarischen Behörden vorgehalten und dass im damaligen Asylverfahren keine (homo-) sexuellen Gründe thematisiert worden seien. Der Beschwerdeführer gab an, diese Gründe mit einem ungarischen Asylbeamten „geheim“ ausgetauscht zu haben und dass deshalb nichts im Protokoll aufscheine.
Mit Bescheid vom 31.08.2017 wies das Bundesamt den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Nigeria (Spruchpunkt II.) als unbegründet ab. Zugleich erteilte es keinen Aufenthaltstitel aus Gründen des § 57 AsylG 2005, erließ gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung und stellte die Zulässigkeit seiner Abschiebung nach Nigeria fest (Spruchpunkt III.). Für die freiwillige Ausreise wurde eine 14-tägige Frist eingeräumt (Spruchpunkt IV.).
Nach Beschwerdeerhebung, in der auf die staatliche und gesellschaftliche Verfolgung Homosexueller in Nigeria hingewiesen wurde, fand am 15.06.2021 vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, bei der der Beschwerdeführer, ein Dolmetscher für die englische Sprache und ein Rechtsvertreter anwesend waren.
Das Erkenntnis wurde im Anschluss mündlich verkündet. Der bis dahin nicht als rechtsfreundlicher Vertreter des Beschwerdeführers auftretende Rechtsanwalt Dr. Anton Karner zeigte am 21.06.2021 beantragte mittels Eingaben per E-Mail und Fax die schriftliche Ausfertigung der Entscheidung. Nach einem Mängelbehebungsauftrag, mit dem ihm als Rechtsanwalt die Teilnahme am elektronischen Rechtsverkehr in Erinnerung gerufen wurde, beantragte der Rechtsvertreter neuerlich binnen gesetzter Frist die Ausfertigung gemäß § 29 Abs. 4 VwGVG via ERV.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der Beschwerdeführer heißt XXXX und wurde am XXXX in Eziama, einer im Bundesstaat Imo gelegenen Stadt, geboren. Er ist nigerianischer Staatsbürger, ledig und kinderlos, gehört der Volksgruppe der Igbo an und bekennt sich zum christlichen Glauben. Er ging zwölf Jahre in die Schule und arbeitete in Nigeria als Verkäufer von Reifen und Matratzen. Seine Identität steht fest. Vor den ungarischen und österreichischen Behörden verwendete er verschiedene Familiennamen und Geburtsdaten. Er ist gesund und arbeitsfähig. Er leidet an keinen lebensbedrohlichen Krankheiten. Er gehört keiner Covid-19-Risikogruppe an. Er ging in Österreich keiner legalen Erwerbstätigkeit nach, erbrachte aber Gelegenheitsjobs, ohne zur Sozialversicherung angemeldet gewesen zu sein. Er bezieht Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung. Für den Zeitraum von ca. 30 Monaten erhielt er wegen Besitzes eines Pkws keine staatlichen Leistungen. Er ist nicht selbsterhaltungsfähig.
Strafgerichtich ist der Beschwerdeführer unbescholten.
Er stellte im November 2005 in Ungarn einen Antrag auf Asyl, dem mit Bescheid der ungarischen Behörden vom 10.01.2006 Folge gegeben wurde. Mit Bescheid vom 13.10.2015 wurde dem Beschwerdeführer der Asylstatus aberkannt, weil er sich von 2011 bis 2015 in Nigeria angesiedelt und bei seinem Bruder gearbeitet hatet. Während dieses Aufenthaltes in Nigeria war er keiner Verfolgung ausgesetzt. Der Aberkennungsbescheid wurde mit Urteil des Hauptstädtischen Verwaltungs- und Arbeitsgerichtes Budapest vom 08.01.2016 bestätigt.
Die Familie des Beschwerdeführers, bestehend aus seinen Eltern und vier Geschwistern, lebt in Nigeria. Er hat Kontakt zu ihnen. In Österreich hat er keine Verwandten und keine maßgeblichen privaten und familiären Beziehungen. Während seines ca. fünfeinhalbjährigen Aufenthaltes setzte er keine tiefgreifenden Integrationsschritte. Er verfügt über geringe Deutschkenntnisse; er kann sich im Alltagsleben auf Deutsch nur schwer verständlich machen.
Es konnte nicht festgestellt werden, dass er in Nigeria verfolgt wurde. Im Verfahren ergaben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass er in Nigeria von einem Verwandten bzw. seinem Cousin missbraucht wurde und er aus diesem Grund sein Herkunftsland verlassen musste.
1.2. Zur (auszugsweise wiedergegebenen) Lage in Nigeria (aus dem COI-CMS, generiert am 23.11.2020, Version 2) mit Angabe der Quellen:
4 Sicherheitslage:
Es gibt in Nigeria keine klassischen Bürgerkriegsgebiete oder -parteien (AA 16.1.2020). Im Wesentlichen lassen sich mehrere Konfliktherde unterscheiden: Jener von Boko Haram im Nordosten; jener zwischen Hirten und Bauern im Middle-Belt (AA 16.1.2020; vgl. FH 4.3.2020); sowie Spannungen im Nigerdelta (AA 16.1.2020; vgl. EASO 11.2018a) und Gewalt im Bundesstaat Zamfara (EASO 11.2018a; vgl. Garda 23.6.2020). Außerdem gibt es im Südosten zwischen der Regierung und Igbo-Gruppen, die für ein unabhängiges Biafra eintreten (EASO 11.2018a; vgl. AA16.1.2020), sowie zwischen Armee und dem Islamic Movement in Nigeria (IMN) Spannungen (EASO 11.2018a) bzw. kommt es seit Jänner 2018 zu regelmäßigen Protesten des IMN in Abuja und anderen Städten, die das Potential haben, in Gewalt zu münden (UKFCDO 26.9.2020). Beim Konflikt im Nordosten handelt es sich um eine grenzüberschreitende jihadistische Insur- genz. Im „Middlebelt" kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen um knapper werdende Ressourcen zwischen Hirten und Bauern. Bei den Auseinandersetzungen im Nigerdelta geht es sowohl um Konflikte zwischen regionalen militanten Gruppen einerseits und der Staatsgewalt andererseits, als auch um Rivalitäten zwischen unterschiedlichen lokalen Gemeinschaften. Im Südosten handelt es sich (noch) um vergleichsweise beschränkte Konflikte zwischen einzelnen sezessionistischen Bewegungen und der Staatsgewalt. Die Lage im Südosten des Landes („Biafra") bleibt jedoch latent konfliktanfällig. Die separatistische Gruppe Indigenous People of Biafra (IPOB) ist allerdings derzeit in Nigeria nicht sehr aktiv (AA 16.1.2020).
Die Kriminalitätsrate in Nigeria ist sehr hoch, die allgemeine Sicherheitslage hat sich in den vergangenen Jahren laufend verschlechtert. In Nigeria können in allen Regionen unvorhersehbare lokale Konflikte aufbrechen. Ursachen und Anlässe der Konflikte sind meist politischer, wirtschaftlicher, religiöser oder ethnischer Art. Insbesondere die Bundesstaaten Zamfara, westl. Taraba und der östl. Teil von Nassarawa, das nördliche Sokoto und die Bundesstaaten Plateau, Kaduna, Benue, Niger und Kebbi sind derzeit von bewaffneten Auseinandersetzungen bzw. innerethnischen Konflikten betroffen. Weiterhin bestimmen immer wieder gewalttätige Konflikte zwischen nomadisierenden Viehzüchtern und sesshaften Farmern sowie gut organisierten Banden die Sicherheitslage. Demonstrationen und Proteste sind insbesondere in Abuja und Lagos, aber auch anderen großen Städten möglich und können zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Im Juli/August 2019 forderten diese in Abuja auch wiederholt Todesopfer (AA 8.10.2020).
Anfang Oktober 2020 führte eine massive Protestwelle zur Auflösung der Spezialeinheit SARS am 11.10.2020 (Guardian 11.10.2020). Die Einheit wurde in SWAT (Special Weapons and Tactics Team) umbenannt und seine Beamten sollen einer zusätzlichen Ausbildung unterzogen werden. Die Protestwelle hielt jedoch an (DS 16.10.2020). Mit Stand 26.10.2020 war das
Ausmaß der Ausschreitungen stark angestiegen. Es kam zu Gewalt und Plünderungen sowie zur Zerstörung von Geschäften und Einkaufszentren. Dabei waren bis zu diesem Zeitpunkt 69 Menschen ums Leben gekommen - hauptsächlich Zivilisten, aber auch Polizeibeamte und Soldaten (BBC News 26.10.2020).
In den nordöstlichen Landesteilen werden fortlaufend terroristische Gewaltakte, wie Angriffe und Sprengstoffanschläge von militanten Gruppen auf Sicherheitskräfte, Märkte, Schulen, Kirchen und Moscheen verübt (AA 8.10.2020).
In der Zeitspanne September 2019 bis September 2020 stechen folgende nigerianische Bundesstaaten mit einer hohen Anzahl an Toten durch Gewaltakte besonders hervor: Borno (3.085), Kaduna (894), Zamfara (858), und Katsina (644). Folgende Bundesstaaten stechen mit einer niedrigen Zahl hervor: Gombe (3), Kebbi (4), Kano (6), Jigawa (15) (CFR 2020).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019), https://www.ecoi.net/en/file/lo- cal/2025287/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_- abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Nigeria_%28Stand_September_- 2019%29%2C_16.01.2020.pdf, Zugriff 18.11.2020
- AA-Auswärtiges Amt (16.4.2020): Nigeria: Reise- und Sicherheitshinweise (Teilreisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-n ode/nigeriasicherheit/205788#content_5,16.4.2020
- BBC News (26.10.2020): Nigeria protests: Police chief deploys ’all resources’ amid street violence, https://www.bbc.com/news/world-africa-54678345, Zugriff 28.10.2020
- CFR - Council on Foreign Relations (2020): Nigeria Security Tracker, https://www.cfr.org/ nigeria/nigeria-security-tracker/p29483, Zugriff 8.10.2020
- DS - Der Standard (16.10.2020): Berüchtigte „Sars“-Polizeieinheit in Nigeria nach Protesten abgeschafft, https://www.derstandard.at/story/2000120951836/beruechtigte-sars-pol izeieinheit-in-nigeria-nach-protesten-abgeschafft, Zugriff 28.10.2020
- EASO - European Asylum Support Office (11.2018a): Country of Origin Information Report - Nigeria - Security Situation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001366/2018_EASO_C OI_Nigeria_SecuritySituation.pdf, Zugriff 16.4.2020
- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2019 - Nigeria, https://www.ecoi .net/de/dokument/2035799.html, Zugriff 30.9.2020
- Garda - Gardaworld (23.6.2020): Nigeria: Gunmen attack village in Zamfara State on June 20, https://www.garda.com/crisis24/news-alerts/353501/nigeria-gunmen-attack-viNage-in -zamfara-state-on-june-20, Zugriff 8.10.2020 (siehe „context“)
- Guardian, The (11.10.2020): Nigeria to disband Sars police unit accused of killings and brutality, https://www.theguardian.com/world/2020/oct/11/nigeria-to-disband-sars-police -unit-accused-of-killings-and-brutality, Zugriff 28.10.2020
- UKFCDO - United Kingdom Foreign, Commonwealth & Development Office (26.9.2020): Foreign travel advice - Nigeria, https://www.gov.uk/foreign-travel-advice/nigeria, Zugriff 8.10.2020
19.4 Homosexuelle
Homosexuelle Handlungen jeglicher Art sind - unabhängig vom Geschlecht der betroffenen Personen – sowohl nach säkularem Recht (AA 16.1.2020; vgl. GIZ 9.2020b) als auch nach Scharia-Recht (Körperstrafen bis hin zum Tod durch Steinigung in besonderen Fällen) strafbar (AA 16.1.2020; vgl. ÖB 10.2019). § 214 des Strafgesetzbuchs sieht 14 Jahre Haft für gleichgeschlechtliche Beziehungen vor (ÖB 10.2019). Der im Jänner 2014 verabschiedete Same Sex Marriage Prohibition Act (SSMPA) sieht zudem vor, dass homosexuelle Paare, die heiraten oder öffentlich ihre Zuneigung zeigen, mit Haft bestraft werden können. Das Gesetz sieht bis zu 14 Jahre Haft für Eheschließungen und zivilrechtliche Partnerschaften zwischen zwei Frauen oder zwei Männern vor (ÖB 10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, GIZ 9.2020b). Wer seine Liebesbeziehung zu einem Menschen des gleichen Geschlechts direkt oder indirekt öffentlich zeigt, soll dem Gesetz zufolge mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden können (ÖB 10.2019). Die gleiche Strafe ist für die Gründung und Unterstützung von Clubs, Organisationen oder anderen Einrichtungen für Schwule und Lesben vorgesehen (ÖB 10.2019; vgl. AA 16.1.2020). In den zwölf nördlichen Bundesstaaten, wo das islamische Recht in Kraft ist, können homosexuelle Handlungen mit Haft, Stockschlägen oder Tod durch Steinigung bestraft werden. Im Jahr 2019 wurden von Scharia-Gerichten keine solchen Urteile verhängt. In den vergangenen Jahren kam es zu Verurteilungen zu Stockschlägen (USDOS 11.3.2020).
Insgesamt gibt es keine systematische staatliche Verfolgung oder aktive Überwachung von Angehörigen sexueller Minderheiten (STDOK 15.9.2020; vgl. ÖB 10.2019, EMB A 9./10.2019). Die Rechtsänderung durch den SSMPA hat bisher nicht zu einer flächendeckenden verschärften Strafverfolgung geführt (AA 16.1.2020). Es gibt nach keinem der betroffenen Gesetze Haftbefehle wegen Homosexualität. Über- oder Zugriffe durch die Polizei erfolgen zufällig oder nach Hinweisen. Es gibt nahezu keine Anklagen unter den spezifisch gegen Angehörige sexueller Minderheiten anwendbaren Gesetzen und noch weniger Verurteilungen. Die Anwendung von Strafgesetz und Scharia gestaltet sich schwierig, denn es gilt der Nachweis gleichgeschlechtlichen Sexualverkehrs. Auch unter dem SSMPA gab es kaum Anklagen. Üblicherweise verlaufen Gerichtsfälle unter diesen Gesetzen im Sand. Allerdings werden manchmal andere Vergehen vorgeschoben, um eine Verurteilung zu vereinfachen. Zudem schafft die Existenz der spezifisch auf sexuelle Minderheiten anwendbaren Gesetze die Basis dafür, dass Personen von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren drangsaliert, bedroht oder erpresst werden können. Verhaftungen wiederum ziehen kaum jemals Anklagen nach sich, sondern dienen in erster Linie der Erpressung (STDOK 15.9.2020).
Im August 2018 wurden 57 Personen bei einer Hotelparty in Lagos verhaftet, wo die Polizei „homosexuelle Aktivitäten“ feststellte. Ende 2019 lief das Verfahren noch (USDOS 11.3.2020). Ein Richter hat am 27.10.2020 den Fall abgewiesen, in dem 47 Männer [Anm.: Gleicher Fall, immer wieder leicht abweichende Angaben zur Verhafteten / Angeklagten] wegen der Erfüllung eines Straftatbestands der nigerianischen Anti-Homosexuellen-Gesetzgebung vor Gericht standen. Konkreter Grund für die Abweisung sei das Nichterscheinen der Staatsanwaltschaft vor Gericht gewesen, sowie deren Unfähigkeit, Zeugen zu benennen (BAMF 2.11.2020; vgl. NYT 27.10.2020). Nach nigerianischem Recht könnte der Fall zu einem späteren Zeitpunkt wiederaufgenommen werden (BAMF 2.11.2020).
Gerade im Rahmen der Verabschiedung des SSMPA 2014 kam es zu einer Zunahme an Fällen von Belästigung und Drohung. Es wurde von zahlreichen Verhaftungen berichtetet (USDOS 11.3.2020; vgl. WHER 9./10.2019). Denn der SSMPA hat zu einer weiteren Stigmatisierung von Lesben und Schwulen geführt. Diese werden oftmals von der Polizei schikaniert und misshandelt, sowie von der Bevölkerung gemobbt oder mittels Selbstjustiz verfolgt (GIZ 9.2020b). Das Gesetz dient dabei zur Rechtfertigung von Menschenrechtsverletzungen wie Folter, sexueller Gewalt, willkürlicher Haft, Erpressung von Geld sowie Verletzung von Prozessrechten (USDOS 11.3.2020).
Seit der Verabschiedung des SSMPA ist die Zahl an Gewaltvorfällen gegen Homosexuelle leicht zurückgegangen. Zugleich nahmen Fälle von Erpressungen (TIERS 12.2019; vgl. LNGO C 9./10.2019), Eindringen in die Privatsphäre und willkürlichen Verhaftungen zu. Im Jahr 2019 ist es zu einer sprunghaften Zunahme von illegalen Anhaltungen und Durchsuchungen, zielgerichtetem Missbrauch sowie ungesetzlichen Verhaftungen gekommen (TIERS 12.2019). Aufgrund von Stigma und Tabu kommt es zu homophoben Vorfällen. Manchmal werden tatsächliche oder vermeintliche Angehörige sexueller Minderheiten gezielt in eine Falle gelockt. Vergehen reichen von Verhöhnungen über Entlassungen bis hin zu physischen Übergriffen (STDOK 15.9.2020). Die Zahl letzterer hat jedoch abgenommen (STDOK 15.9.2020; vgl. LNGO C 9./10.2019). Die überwiegende Mehrheit von Menschenrechtsverletzungen gegenüber Angehörigen sexueller Minderheiten geht von nichtstaatlichen Akteuren aus (STDOK 15.9.2020; vgl. EMB B 9./10.2019). Staatlicher Schutz ist diesbezüglich nicht zu erwarten (STDOK 15.9.2020; vgl. EMB B 9./10.2019, LNGO C 9./10.2019; WHER 9./10.2019). Zu Ermittlungen kommt es nicht. Dieses Phänomen betrifft aber nicht nur Angehörige sexueller Minderheiten, vielmehr ist der Standard der Polizei allgemein niedrig. Allerdings kommt es bei dieser Personengruppe mitunter sogar zur Nötigung oder Verhaftung des Opfers (STDOK 15.9.2020).
Eine andere Möglichkeit, Gerechtigkeit zu suchen, besteht in der Anrufung der National Human Rights Commission. Zwar bleibt der offizielle staatliche Diskurs bezüglich sexueller Minderheiten von Homophobie geprägt. Trotzdem gibt es in staatlichen Bereichen Anknüpfungspunkte – v.a. im Gesundheitsbereich und eben bei der Nationalen Menschenrechtskommission (NHRC). Positive Trends sind hier sichtbar im Bereich der Kooperation mit der NHRC und der Anerkennung von Menschenrechtsverletzungen durch diese Behörde (STDOK 15.9.2020).
Die Zustimmung der Bevölkerung zum SSMPA und anderen Strafmaßnahmen gegenüber sexuellen Minderheiten ist immer noch hoch, doch ist diese zugleich innerhalb weniger Jahre auch drastisch gesunken. Immer mehr Menschen sind zudem bereit, ein homosexuelles Familienmitglied zu akzeptieren. Mit vermehrter Toleranz sinkt die Radikalität der Homophobie. Allerdings ist die Gewaltschwelle in Nigeria generell niedrig. Während in den Medien eine negative Berichterstattung über sexuelle Minderheiten weiterhin vorherrscht, ist auch dort ein Trend zur Liberalisierung bemerkbar. Immer wieder kommt es nun zu sachlicher Berichterstattung, auch Filme zur Thematik wurden veröffentlicht (STDOK 15.9.2020).
Gesellschaftliche Diskriminierung bei offenem Zurschaustellen der sexuellen Orientierung ist vorhanden (ÖB 10.2019; vgl. AA 16.1.2020). Es kann nach wie vor riskant sein, sich gegenüber der Familie als homosexuell zu outen. Es kann zum Verstoßen, zum Einsperren, zu Gewalt oder zur Zuführung zu einer „Konversionstherapie“ („conversion therapy“) kommen. Allerdings sinkt die Ablehnung homosexueller Familienmitglieder und gleichzeitig steigt deren Akzeptanz (STDOK 15.9.2020).
In mehreren Großstädten können Angehörige und Communities sexueller Minderheiten freier leben. Zudem gibt es dort ein größeres Ausmaß an möglicher Unterstützung. Der maßgebliche Vorteil ist die Anonymität. Diese sinkt naturgemäß im ländlichen Raum – aber auch in den Slums der Großstädte. Es gibt aber auch konträre Meinungen, wonach nämlich die Gesellschaft in bestimmten ländlichen Gebieten toleranter sei, als in der Stadt. Die meisten dokumentierten Fälle von Menschenrechtsverletzungen betreffen Städte. Dies kann aber freilich auch damit zu tun haben, dass dort Vorfälle eher gemeldet und dokumentiert werden (STDOK 15.9.2020).
Die Community wird nicht überwacht (EMB A 9./10.2019). Die Polizei wird nicht aus eigenem Antrieb aktiv oder sucht gezielt nach Homosexuellen (EMB B 9./10.2019; vgl. WHER 9./10.2019). Sie verhaftet Verdächtige in erster Linie mit dem Ziel, Geld zu erpressen (EMB A 9./10.2019; vgl EMB B 9./10.2019; LNGO C 9./10.2019; LHRL 9./10.2019). Grundsätzlich kommen Verdächtige nach der Zahlung einer „Kaution“ wieder frei (LNGO C 9./10.2019; vgl. LHRL 9./10.2019).
Auch für betroffene Homosexuellen-NGOs hatte der SSMPA kaum Auswirkungen, keine der Organisationen musste die Arbeit einstellen. Kurzfristig hatten einige Organisationen den Eindruck, von der Bildfläche verschwinden zu müssen. Das taten sie teilweise kurz, und als nichts passierte, tauchten sie wieder auf. Derzeit sieht man eine Professionalisierung bei den Organisationen. Zusammengefasst hatte das Gesetz kurz Auswirkungen auf NGOs, diese ist jedoch vorübergegangen. Eine Bedrohung ist allerdings immer noch spürbar (EMB B 9./10.2019). Homosexuellen-NGOs arbeiten weiter, die Netzwerke sind sogar ausgebaut und sichtbarer geworden. Die Zahl an Organisationen hat sich nahezu verdreifacht. Nur in seltenen – dokumentierten – Ausnahmefällen kam es zu staatlichen Maßnahmen gegen NGOs. Fördergelder werden weiterhin gezahlt und sind nach Angaben einer Quelle sogar gestiegen (STDOK 15.9.2020). Der SSMPA hat neben einer Steigerung der Belästigungen von Homosexuellen auch zu einer erhöhten Sichtbarkeit der homosexuellen Community geführt, und zu dem Bewusstsein in der Bevölkerung, das Homosexualität in Nigeria existiert (WHER 9./10.2019).
Lokale NGOs sammeln Informationen zu Menschenrechtsverletzungen an Angehörigen sexueller Minderheiten. Ein Beispiel für eine umfangreiche Datensammlung dieser Art stellt der jährlich aktualisierte Menschenrechtsbericht von TIERs und kooperierenden NGOs dar. Einige NGOs betreiben Hotlines bzw. stellen Telefonnummern für Notfälle zur Verfügung. Die meisten Quellen gehen davon aus, dass etwa in Polizeigewahrsam geratene Personen wissen, wen sie zur Unterstützung anrufen können. Die Unterstützung wird in erster Linie zwecks Kautionszahlung („bail out“) geleistet (STDOK 15.9.2020).
Einige Anwälte und Vereinigungen stellen Angehörigen sexueller Minderheiten Rechtshilfe zur Verfügung. Diese kommt u.a. beim sogenannten „bail out“ aus dem Polizeigewahrsam zu tragen. Gelangt ein Fall tatsächlich vor Gericht, kommt es üblicherweise zur (juristischen) Intervention von NGOs (STDOK 15.9.2020). Verschiedene NGOs bieten Angehörigen sexueller Minderheiten rechtliche Beratung und Schulungen in Meinungsbildung, Medienarbeit und Bewusstseinsbildung in Bezug auf HIV an (USDOS 11.3.2020). Gemäß zweier Quellen organisieren die Menschenrechtsgruppen im Bereich MSM und WSW (das ist das Gros der männlichen und weiblichen Angehörige sexueller Minderheiten) nach Anruf Anwälte, die im Falle einer Verhaftung tätig werden. Diese Gruppen kooperieren fallweise miteinander (NJA 9/10.2019; vgl. EMB B 9/10.2019). Manchmal werden solche Organisationen auch direkt seitens der Polizei kontaktiert (EMB B 9/10.2019). Die Organisation WHER organisiert bei betroffenen WSW eine Freilassung auf Kaution (WHER 9/10.2019).
Es existieren Netzwerke von Menschenrechtsanwälten, welche – im Falle der Verhaftung eines Homosexuellen – unmittelbar kontaktiert werden und die Person gegen „Kaution“ freizukaufen versuchen (IO1 20.11.2015). Allerdings gibt es nicht sehr viele Anwälte, die in diesem Bereich arbeiten wollen, da sie sich nicht exponieren wollen (NJA 9./10.2019) Homosexuellen-Netzwerke verschiedener Landesteile bzw. Städte stehen miteinander in Kontakt (LHRL 9./10.2019). Die Netzwerke und Organisationen bieten auch Unterstützung und Zufluchtsmöglichkeiten an (USDOS 11.3.2020). Es gibt einige Safe Houses aber die Finanzierung derselben ist nicht ausreichend (LNGO D 9/10.2019). Die NGO WHER betreibt etwa ein Safe House für Frauen, die beispielsweise durch Familie oder Polizei einem unmittelbaren Sicherheitsrisiko ausgesetzt sind (WHER 9/10.2019).
Netzwerke sexueller Minderheiten sind v.a. in großen Städten präsent und aktiv. Vormals gab es im ländlichen Bereich, wenn, dann aus dem Gesundheitsbereich heraus aktive Organisationen. Nunmehr versuchen einige städtische Netzwerke ihre Arbeit auch auf ländliche Gegenden auszudehnen. Insgesamt hat sich die Reichweite der Netzwerke in den letzten Jahren verbessert. Sprachgrenzen und Infrastruktur stellen allerdings Barrieren dar. In den meisten Fällen wissen Angehörige sexueller Minderheiten, wen bzw. welche Organisation sie bei Bedarf kontaktieren können (STDOK 15.9.2020). Es gibt jedoch auch viele Fälle, in denen die Betroffenen nicht wissen, an wen sie sich wenden können (NJA 9./10.2019). Nach Angaben einer anderen Quelle sind die Homosexuellen-NGOs den Betroffenen üblicherweise zumindest in größeren Städten wie Lagos bekannt, in ländlichen Gegenden allerdings oftmals nicht. Dort wissen Betroffene nicht, an wen sie sich im Fall einer Verhaftung wenden können (EMB B 9./10.2019). Angehörige sexueller Minderheiten können sich durch einen Umzug in eine (andere) Stadt oder einen anderen Stadtteil aus einer direkten Risikolage befreien. Netzwerke und NGOs der Community unterstützen Personen bei diesem Schritt. In einigen Städten gibt es auch von NGOs organisierte Notquartiere (safe house / shelter). Es kommt mitunter auch zu „Zuweisungen“ bedrohter Personen von einer Stadt in eine andere (STDOK 15.9.2020).
Grundsätzlich ist weibliche Homosexualität weniger stark tabuisiert als männliche. WSW sind in geringerem Ausmaß von Verhaftungen und Menschenrechtsverletzungen bedroht und betroffen. Allerdings sind ihre Netzwerke schwächer. Mitunter kommt es zu Vergewaltigungen und anderen Formen von Gewalt. Manche Frauen werden von ihren Familien eingesperrt oder zwangsweise zu „Therapien“ gezwungen (STDOK 15.9.2020). Die Situation von homosexuellen Frauen ist einerseits besser als jene von homosexuellen Männern, da von einem Teil der Männer Homosexualität bei Frauen eher toleriert wird, andererseits sind Frauen in Nigeria generell mit Schwierigkeiten konfrontiert. Für homosexuelle Frauen ist es schwer denkbar, sich gegenüber Familie oder Freunden zu outen. Frauen – wie Männer – heiraten manchmal als Deckmantel für ihre Homosexualität, z.B. eine homosexuelle Frau einen homosexuellen Mann, um sozialen Normen zu genügen. Der SSMPA gilt für Frauen und Männer gleichermaßen. Im Strafrecht (penal code) und Scharia-Recht des Nordens sowie im Strafrecht (criminal code) im Süden gibt es eigene Passagen, die sich mit weiblicher Homosexualität befassen (WHER 9./10.2019).
Homosexuelle versuchen aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen und weit verbreiteter Vorbehalte in der Bevölkerung, ihre sexuelle Orientierung zu verbergen (AA 16.1.2020). Generell gehen viele Nigerianer mit ihrer Sexualität nicht offen um. Das gesellschaftliche Umfeld führt zur Geheimhaltung gleichgeschlechtlicher Beziehungen. Zahlreiche Angehörige sexueller Minderheiten sind „normal“ verheiratet. Dies dient einerseits der Verschleierung, andererseits dem Entsprechen sozialer Normen (STDOK 15.9.2020).
Sichtbarkeit im Auftreten und im Verhalten stellt einen Risikofaktor dar. Dies betrifft insbesondere Männer, die sich feminin geben, doch auch Frauen, die diesbezüglich gegen gesellschaftliche Normen verstoßen, können betroffen sein. Das gemeinsame Wohnen alleine stellt für gleichgeschlechtliche Personen kein Problem dar, dies ist in Nigeria – von der Wohnung bis hin zum Hotelzimmer – aus Kostengründen nicht unüblich. Der Einfluss des Alters oder des Familienstandes auf die Frage des persönlichen Risikos von Angehörigen sexueller Minderheiten ist unklar. Einen maßgeblichen Einfluss hat hingegen der sozio-ökonomische Status einer Person. Mit zunehmender Finanzkraft, Bildung und Vernetzung – also mit zunehmenden Privilegien – sinkt das Risiko gegen Null. Hauptrisikogruppe sind hingegen jene Personen, deren Alltag in einem Umfeld mit niedrigem sozialen und ökonomischem Status verankert ist (STDOK 15.9.2020).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2025287/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Nigeria_%28Stand_September_2019%29%2C_16.01.2020.pdf, Zugriff 18.11.2020
- BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2.11.2020): Briefing Notes vom 2.11.2020, https://www.ecoi.net/en/file/local/2040309/briefingnotes-kw45-2020.pdf, Zugriff 18.11.2020
- EMB A - westliche Botschaft A (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation), Gesprächsprotokoll liegt bei der Staatendokumentation auf
- EMB B - westliche Botschaft B (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation), Gesprächsprotokoll liegt bei der Staatendokumentation auf
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (9.2020b): Nigeria - Gesellschaft, https://www.liportal.de/nigeria/gesellschaft/, Zugriff 29.9.2020
- LHRL - Lokaler Menschenrechtsanwalt (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation), Gesprächsprotokoll liegt bei der Staatendokumentation auf
- LNGO C - Repräsentantin der lokalen NGO C (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation), Gesprächsprotokoll liegt bei der Staatendokumentation auf
- LNGO D - Repräsentant der lokalen NGO D (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation), Gesprächsprotokoll liegt bei der Staatendokumentation auf
- IO1 - International Health and Development Research Organisation (20.11.2015): Interview im Rahmen einer Fact Finding Mission, Gesprächsprotokoll liegt bei der Staatendokumentation auf
- NJA - Nigerianischer Journalist und Aktivist (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation), Gesprächsprotokoll liegt bei der Staatendokumentation auf
- NYT - The New York Times (27.10.2020): Judge Dismisses Case Against 47 Men Charged Under Nigeria’s Anti-Gay Law, https://www.nytimes.com/2020/10/27/world/africa/Nigeria-anti-gay-law.html, Zugriff 9.11.2020
- ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2020): Asylländerbericht Nigeria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2021612/NIGR_%C3%96B_Bericht_2019_10.pdf, Zugriff 18.11.2020
- STDOK - Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (15.9.2020): Zur Lage sexueller Minderheiten unter Hinzunahme der Informationen der FFM Nigeria 2019, Update der Analyse sexuelle Minderheiten vom 30.9.2016
- TIERS - The Initiative for Equal Rights (12.2019): 2019 Human Rights Violations Report, https://theinitiativeforequalrights.org/wp-content/uploads/2019/12/2019-Human-Rights-Violations-Reports-Based-on-SOGI.pdf, Zugriff 23.4.2020
- USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026341.html, Zugriff 20.4.2020
- WHER - Repräsentantin der Women’s Health and Equal Rights Initiative (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation), Gesprächsprotokoll liegt bei der Staatendokumentation auf
20 Bewegungsfreiheit
Die Verfassung sowie weitere gesetzliche Bestimmungen gewährleisten Bewegungsfreiheit im gesamten Land sowie Auslandsreisen, Emigration und Wiedereinbürgerung. Allerdings schränken Sicherheitsbeamte die Bewegungsfreiheit durch Ausgangssperren ein, vor allem in Gebieten, in denen es Terroranschläge oder ethnisch motivierte Gewalt gibt. Dies betrifft aufgrund der Operationen gegen Boko Haram und ISIS-WA v.a. die Bundesstaaten Adamawa, Borno und Yobe. Auch in anderen Bundesstaaten kommt es in Reaktion auf gewaltsame Auseinandersetzungen in ländlichen Regionen mitunter zu Ausgangssperren. Bei Operationen von Sicherheitskräften in Städten und an Hauptverkehrsstraßen werden gelegentlich Checkpoints eingerichtet. Zahlreiche von Militär und Polizei betriebene Checkpoints bleiben aufrecht (USDOS 11.3.2020).
Bürger dürfen sich in jedem Teil des Landes niederlassen (USDOS 11.3.2020). Grundsätzlich besteht in den meisten Fällen die Möglichkeit, staatlicher Verfolgung, Repressionen Dritter sowie Fällen massiver regionaler Instabilität durch Umzug in einen anderen Teil des Landes auszuweichen (AA 16.1.2020). Prinzipiell sollte es einer Person, die von nichtstaatlichen Akteuren verfolgt wird oder die sich vor diesen fürchtet, in einem großen Land wie Nigeria möglich sein, eine interne Relokation in Anspruch zu nehmen. Natürlich müssen die jeweiligen persönlichen Umstände beachtet werden (UKHO 3.2019).
In den vergangenen Jahrzehnten hat durch Wanderungsbewegungen und interethnische Ehen eine fortgesetzte Durchmischung der Wohnbevölkerung auch der „Kern“-Staaten der drei Hauptethnien (Hausa-Fulani, Yoruba, Igbo) stattgefunden. So ist insbesondere eine starke Nord-Süd-Wanderung feststellbar, wodurch Metropolen wie Lagos heute weitgehend durchmischt sind. Es bestehen daher innerstaatliche Fluchtalternativen (ÖB 10.2019). Ein innerstaatlicher Umzug kann allerdings mit gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen verbunden sein, wenn sich Einzelpersonen an einen Ort begeben, an dem keine Mitglieder ihrer (erweiterten) Familie oder der Dorfgemeinschaft leben. Angesichts der Wirtschaftslage, ethnischem Ressentiment und der Bedeutung großfamiliärer Bindungen in der Gesellschaft ist es für viele Menschen schwer, an Orten ohne ein bestehendes soziales Netz erfolgreich Fuß zu fassen. Für alleinstehende Frauen besteht zudem die Gefahr, bei einem Umzug in die Großstadt von der eigenen Großfamilie keine wirtschaftliche Unterstützung mehr zu erhalten (AA 16.1.2020).
Bundesstaats- und Lokalregierungen diskriminieren regelmäßig ethnische Gruppen, die in ihrem Gebiet nicht einheimisch sind. Dies nötigt gelegentlich Personen dazu, in jene Regionen zurückzukehren, aus denen ihre ethnische Gruppe abstammt, obwohl sie dort über keine familiäre Bindung mehr verfügen (USDOS 11.3.2020).
Für Überlandfahrten stehen mehrere Busunternehmen zur Verfügung, so z.B. ABC Transport, Cross Country Limited, Chisco und GUO Transport. Die Busse bieten Komfort, sind sicher, fahren planmäßig und kommen i.d.R. pünktlich am Zielort an. Die nigerianische Eisenbahn gilt als preisgünstiges, aber unzuverlässiges Transportmittel. Günstige Inlandflüge zwischen den Städten werden von mehreren nigerianischen Fluggesellschaften angeboten. Um innerhalb einer der Städte Nigerias von einem Ort zum anderen zu gelangen, stehen Taxis, Minibusse, Dreirad, die Keke und Motorradtaxis, die Okada genannt werden, zur Verfügung (GIZ 9.2020d).
Anfang September 2020 wurde die Phase 3 der Restriktionen im Zusammenhang mit der Coronakrise in Kraft gesetzt. Die Ausgangssperre gilt im ganzen Land nun von Mitternacht bis 4 Uhr. Meetings bis zu maximal 50 Personen sind gestattet. In Lagos dürfen Restaurants, Klubs und Kirchen etc. unter bestimmten Auflagen öffnen (WKO 25.9.2020).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2025287/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Nigeria_%28Stand_September_2019%29%2C_16.01.2020.pdf, Zugriff 18.11.2020
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (9.2020d): Nigeria - Alltag, https://www.liportal.de/nigeria/alltag/, Zugriff 5.10.2020
- ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2020): Asylländerbericht Nigeria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2021612/NIGR_%C3%96B_Bericht_2019_10.pdf, Zugriff 18.11.2020
- UKHO - United Kingdom Home Office (3.2019): Country Policy and Information Note Nigeria: Internal relocation, https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/794323/CPIN_-_Nigeria_-_Internal_relocation.PDF, Zugriff 29.4.2020
- USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026341.html, Zugriff 9.4.2020
- WKO - Wirtschaftskammer Österreich (25.9.2020): Coronavirus: Situation in Nigeria - Aktuelle Informationen und Info-Updates, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-info-nigeria.html, Zugriff 13.10.2020
20.1 Meldewesen
Ein Meldewesen ist nicht vorhanden (ÖB 10.2019; vgl. AA 16.1.2020; EASO 24.1.2019), wie u.a. zahlreiche Quellen bei EASO angeben. Nur eine Quelle behauptet, dass es eine Art Meldewesen gibt. Es bestehen gesetzliche Voraussetzungen, damit Bundesstaaten ein Meldewesen einrichten können. Bislang hat lediglich der Bundesstaat Lagos davon Gebrauch gemacht (EASO 24.1.2019). Auch ein funktionierendes nationales polizeiliches Fahndungssystem existiert nicht. Daraus resultiert, dass eine Ausforschung einmal untergetauchter Personen kaum mehr möglich ist. Das Fehlen von Meldeämtern und bundesweiten polizeilichen Fahndungsbehörden ermöglicht es in den allermeisten Fällen, bereits in der näheren Umgebung unterzutauchen (ÖB 10.2019).
Im Sheriffs and Civil Process Act Chapter 407, Laws of the Federation of Nigeria 1990 sind Ladungen vor Gericht geregelt. Der Sheriff oder von ihm bestellte Bailiffs müssen die Ladungen in ganz Nigeria persönlich zustellen (ÖB 10.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019) - ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2019): Asylländerbericht Nigeria
- EASO - European Asylum Support Office (24.1.2019): Query Response - Identification documents system in Nigeria
- ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2019): Asylländerbericht Nigeria
22 Grundversorgung
Nigeria ist die größte Volkswirtschaft Afrikas. Die Erdölproduktion ist der wichtigste Wirtschaftszweig des Landes. Aufgrund des weltweiten Verfalls der Erdölpreise rutschte Nigeria 2016 jedoch in eine schwere Rezession, die bis zum zweiten Quartal 2017 andauerte (GIZ 6.2020). 2018 wuchs die nigerianische Wirtschaft erstmals wieder um 1,9 Prozent (GIZ 6.2020; vgl. AA 24.5.2019c). Getragen wurde das Wachstum vor allem durch die positive Entwicklung von Teilen des Nicht-Öl-Sektors (Landwirtschaft, Industrie, Gewerbe). Seit 2020 ist die nigerianische Wirtschaft aufgrund des erneuten Verfalls des Rohölpreises sowie der massiven wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie wieder geschwächt. Wie hoch der wirtschaftliche Schaden sein wird, ist bislang noch nicht abschätzbar (GIZ 6.2020). Für 2020 wird aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf Nigeria und der drastisch gesunkenen Erdölpreise mit einer Schrumpfung des nigerianischen BIP um 4,4 % gerechnet. In der 2. Jahreshälfte 2020 ist jedoch ein Wiederanziehen der Konjunktur feststellbar und für 2021 wird ein Wachstum von 2,2 % erwartet (WKO 14.9.2020).
Etwa 80 Prozent der Gesamteinnahmen Nigerias stammen aus der Öl- und Gasförderung (AA 16.1.2019). Neben Erdöl verfügt das Land über z.B. Zinn, Eisen-, Blei- und Zinkerz, Kohle, Kalk, Gesteine, Phosphat – gesamtwirtschaftlich jedoch von geringer Bedeutung (GIZ 6.2020). Von Bedeutung sind hingegen der (informelle) Handel und die Landwirtschaft, welche dem größten Teil der Bevölkerung eine Subsistenzmöglichkeit bieten (AA 16.1.2020). Der Industriesektor (Stahl, Zement, Düngemittel) machte 2016 ca. 20 Prozent des BIP aus. Neben der Verarbeitung von Erdölprodukten werden Nahrungs- und Genussmittel, Farben, Reinigungsmittel, Textilien, Brennstoffe, Metalle und Baumaterial produziert. Industrielle Entwicklung wird durch die unzureichende Infrastruktur (Energie und Transport) behindert (GIZ 6.2020). Vor allem im Bereich Stromversorgung und Transport ist die Infrastruktur weiterhin mangelhaft und gilt als ein Haupthindernis für die wirtschaftliche Entwicklung (AA 24.5.2019c).
Über 60 Prozent (AA 24.5.2019c) bzw. nach anderen Angaben über 70 Prozent (GIZ 6.2020) der Nigerianer sind in der Landwirtschaft beschäftigt. Der Agrarsektor wird durch die Regierung stark gefördert. Dadurch hat etwa der Anteil an Großfarmen zugenommen (GIZ 6.2020; vgl. AA 24.5.2019c). Die unterentwickelte Landwirtschaft ist jedoch nicht in der Lage, den inländischen Nahrungsmittelbedarf zu decken (AA 24.5.2019c). Einerseits ist das Land nicht autark, sondern auf Importe – v.a. von Reis – angewiesen. Andererseits verrotten bis zu 40 Prozent der Ernten wegen fehlender Transportmöglichkeiten (ÖB 10.2019). Über 95 Prozent der landwirtschaftlichen Produktion kommt von kleinen Anbauflächen – in der Regel in Subsistenzwirtschaft (AA 24.5.2019c).
Historisch war Lebensmittelknappheit in fast ganz Nigeria aufgrund des günstigen Klimas und der hohen agrarischen Tätigkeit so gut wie nicht existent. In einzelnen Gebieten im äußersten Norden (Grenzraum zu Niger) gestaltet sich die Landwirtschaft durch die fortschreitende Desertifikation allerdings schwierig. Experten schließen aufgrund der Wetterbedingungen, aber auch wegen der Vertreibungen als Folge der Attacken durch Boko Haram Hungerperioden für die nördlichen, insbesondere die nordöstlichen Bundesstaaten nicht aus. In Ernährungszentren nahe der nördlichen Grenze werden bis zu 25 Prozent der unter fünfjährigen Kinder wegen starker Unterernährung behandelt. Insgesamt hat sich der Prozentsatz an Unterernährung in den nördlichen Staaten im Vergleich zu 2015 verbessert und liegt nun unter der Alarmschwelle von 10 Prozent. Gemäß Schätzungen von UNICEF unterliegen aber weiterhin zwei Millionen Kinder unter fünf Jahren in Nordnigeria einem hohen Risiko von schwerer akuter Unterernährung (ÖB 10.2019). Im Jahr 2019 benötigten von der Gesamtbevölkerung von 13,4 Millionen Menschen, die in den Staaten Borno, Adamawa und Yobe leben, schätzungsweise 7,1 Millionen Menschen humanitäre Hilfe. Davon sind schätzungsweise 80 Prozent Frauen und Kinder (IOM 17.3.2020).
Die Einkommen sind in Nigeria höchst ungleich verteilt (BS 2020; vgl. GIZ 9.2020b). 87 Millionen Nigerianer (40 Prozent der Bevölkerung) leben in absoluter Armut, d.h. sie haben weniger als 1 US-Dollar pro Tag zur Verfügung (GIZ 6.2020). 48 Prozent der Bevölkerung Nigerias bzw. 94 Millionen Menschen leben in extremer Armut mit einem Durchschnittseinkommen von unter 1,90 US-Dollar pro Tag (ÖB 10.2019). Die Armut ist in den ländlichen Gebieten größer als in den städtischen Ballungsgebieten (GIZ 9.2020b). Programme zur Armutsbekämpfung gibt es sowohl auf Länderebene als auch auf lokaler Ebene. Zahlreiche NGOs im Land sind in den Bereichen Armutsbekämpfung und Nachhaltige Entwicklung aktiv. Frauenorganisationen, von denen Women In Nigeria (WIN) die bekannteste ist, haben im traditionellen Leben Nigerias immer eine wichtige Rolle gespielt. Auch Nigerianer, die in der Diaspora leben, engagieren sich für die Entwicklung in ihrer Heimat (GIZ 6.2020).
Die Arbeitslosigkeit ist hoch, bei den Jugendlichen im Alter von 15 bis 35 wird sie auf über 50 Prozent geschätzt (GIZ 9.2020b). Offizielle Statistiken über Arbeitslosigkeit gibt es aufgrund fehlender sozialer Einrichtungen und Absicherung nicht. Geschätzt wird sie auf 20 bis 45 Prozent – in erster Linie unter 30-jährige – mit großen regionalen Unterschieden. Die Chancen, einen sicheren Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst, staatsnahen Betrieben oder Banken zu finden, sind gering, außer man verfügt über eine europäische Ausbildung und vor allem über Beziehungen (ÖB 10.2019). Verschiedene Programme auf Ebene der Bundesstaaten aber auch der Zentralregierung zielen auf die Steigerung der Jugendbeschäftigung ab (ÖB 10.2019; vgl. BS 2020).
Der Mangel an lohnabhängiger Beschäftigung führt dazu, dass immer mehr Nigerianer in den Großstädten Überlebenschancen im informellen Wirtschaftssektor als "self-employed" suchen. Die Massenverelendung nimmt seit Jahren bedrohliche Ausmaße an (GIZ 9.2020b). Nur Angestellte des öffentlichen Dienstes, des höheren Bildungswesens sowie von staatlichen, teilstaatlichen oder großen internationalen Firmen genießen ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit. Eine immer noch geringe Anzahl von Nigerianern (acht Millionen) ist im Pensionssystem (Contributory Pension Scheme) registriert (BS 2020).
Die Großfamilie unterstützt in der Regel beschäftigungslose Angehörige (ÖB 10.2019). Generell wird die Last für Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung vom Netz der Großfamilie und vom informellen Sektor getragen (BS 2020). Allgemein kann festgestellt werden, dass auch eine nach Nigeria zurückgeführte Person, die in keinem privaten Verband soziale Sicherheit findet, keiner lebensbedrohlichen Situation überantwortet wird. Sie kann ihre existenziellen Grundbedürfnisse aus selbstständiger Arbeit sichern, insbesondere dann, wenn Rückkehrhilfe angeboten wird (ÖB 10.2019).
Die täglichen Lebenshaltungskosten differieren regional zu stark, um Durchschnittswerte zu berichten. Mietkosten, Zugang zu medizinischer Versorgung und Lebensmittelpreise variieren nicht nur von Bundesstaat zu Bundesstaat, sondern auch regional/ethnisch innerhalb jedes Teilstaates (ÖB 10.2019).
Verdienstmöglichkeiten für Rückkehrerinnen: Eine der Berufsmöglichkeiten für Rückkehrerinnen ist die Eröffnung einer mobilen Küche für „peppersoup“, „garri“ oder „pounded yam“, für die man lediglich einen großen Kochtopf und einige Suppenschüsseln benötigt. Die Grundausstattung für eine mobile Küche ist für einen relativ geringen Betrag erhältlich. Hauptsächlich im Norden ist auch der Verkauf von bestimmten Holzstäbchen zur Zahnhygiene eine Möglichkeit, genügend Einkommen zu erlangen. In den Außenbezirken der größeren Städte und im ländlichen Bereich bietet auch „mini-farming“ eine Möglichkeit, selbständig erwerbstätig zu sein. Schneckenfarmen sind auf 10 m² Grund einfach zu führen und erfordern lediglich entweder das Sammeln der in Nigeria als „bushmeat“ gehandelten Wildschnecken zur Zucht oder den Ankauf einiger Tiere. Ebenso werden nun „grasscutter“ (Bisamratten-ähnliche Kleintiere) gewerbsmäßig in Kleinkäfigen als „bushmeat“ gezüchtet. Großfarmen bieten Tagesseminare zur Aufzucht dieser anspruchslosen und sich rasch vermehrenden Tiere samt Verkauf von Zuchtpaaren an. Rascher Gewinn und gesicherte Abnahme des gezüchteten Nachwuchses sind gegeben. Schnecken und „grasscutter“ finden sich auf jeder Speisekarte einheimischer Lokale. Für handwerklich geschickte Frauen bietet auch das Einflechten von Kunsthaarteilen auf öffentlichen Märkten eine selbständige Erwerbsmöglichkeit. Für den Verkauf von Wertkarten erhält eine Verkäuferin wiederum pro 1.000 Naira Wert eine Provision von 50 Naira. Weiters werden im ländlichen Bereich Mobiltelefone für Gespräche verliehen; pro Gespräch werden 10 Prozent des Gesprächspreises als Gebühr berechnet (ÖB 10.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)
- AA - Auswärtiges Amt (24.5.2019c): Nigeria - Wirtschaft, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/wirtschaft/205790, Zugriff 5.10.2020
- BS - Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020 - Nigeria Country Report, https://www.ecoi.net/en/file/local/2029575/country_report_2020_NGA.pdf, Zugriff 18.5.2020
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (6.2020): Wirtschaft & Entwicklung, https://www.liportal.de/nigeria/wirtschaft-entwicklung/, Zugriff 5.10.2020
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (9.2020b): Nigeria, Gesellschaft, https://www.liportal.de/nigeria/gesellschaft/, Zugriff 2.10.2020
- IOM Nigeria - International Organization for Migration (17.3.2020): Emergency Response, 2019 Annual Reports, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/2019_annual_report_-_iom_nigeria_emergency_responsefinal.pdf, Zugriff 15.4.2020
- ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2019): Asylländerbericht Nigeria
- WKO - Wirtschaftskammer Österreich (14.9.2020): Die nigerianische Wirtschaft, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-nigerianische-wirtschaft.html, Zugriff 13.10.2020
23 Medizinische Versorgung
Insgesamt kann die Gesundheitsversorgung in Nigeria als mangelhaft bezeichnet werden. Zwischen Arm und Reich sowie zwischen Nord und Süd besteht ein erhebliches Gefälle: Auf dem Land sind die Verhältnisse schlechter als in der Stadt (GIZ 3.2020b); und im Norden des Landes ist die Gesundheitsversorgung besonders prekär (GIZ 9.2020b; vgl. ÖB 10.2019). Die medizinische Versorgung ist vor allem im ländlichen Bereich vielfach technisch, apparativ und/oder hygienisch problematisch (AA 7.9.2020). Die Gesundheitsdaten Nigerias gehören zu den schlechtesten in Afrika südlich der Sahara und der Welt (ÖB 10.2019). Mit 29 Todesfällen pro 1.000 Neugeborenen hat Nigeria weltweit die elfthöchste Todesrate bei Neugeborenen (GIZ 9.2020b). Die aktuelle Sterberate für Kinder unter fünf Jahren beträgt 100,2 Todesfälle pro 1.000 Lebendgeburten (ÖB 10.2019).
Es gibt sowohl staatliche als auch zahlreiche privat betriebene Krankenhäuser (AA 16.1.2020). Rückkehrer finden in den Großstädten eine medizinische Grundversorgung vor, die im öffentlichen Gesundheitssektor allerdings in der Regel unter europäischem Standard liegt. Der private Sektor bietet hingegen in einigen Krankenhäusern der Maximalversorgung (z.B. in Abuja, Ibadan, Lagos) westlichen Medizinstandard. Nahezu alle, auch komplexe Erkrankungen, können hier kostenpflichtig behandelt werden (AA 16.1.2020; vgl. ÖB 10.2019). In größeren Städten ist ein Großteil der staatlichen Krankenhäuser mit Röntgengeräten ausgestattet, in ländlichen Gebieten verfügen nur einige wenige Krankenhäuser über moderne Ausstattung (ÖB 10.2019).
In den letzten Jahren hat sich die medizinische Versorgung in den Haupt- und größeren Städten allerdings sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor deutlich verbessert. So ist mittlerweile insbesondere für Privatzahler eine gute medizinische Versorgung für viele Krankheiten und Notfälle erhältlich. Es sind zunehmend Privatpraxen und -kliniken entstanden, die um zahlungskräftige Kunden konkurrieren. Die Ärzte haben oft langjährige Ausbildungen in Europa und Amerika absolviert und den medizinischen Standard angehoben. In privaten Kliniken können die meisten Krankheiten behandelt werden (AA 16.1.2020).
Stigmatisierung und Missverständnisse über psychische Gesundheit, einschließlich der falschen Wahrnehmung, dass psychische Erkrankungen von bösen Geistern oder übernatürlichen Kräften verursacht werden, veranlassen die Menschen dazu, religiöse oder traditionelle Heiler zu konsultieren; eine Rolle spielt hier auch der Mangel an qualitativ hochwertiger psychiatrischer Versorgung und die unerschwinglichen Kosten (HRW 11.11.2019). Es existiert kein mit westlichen Standards vergleichbares Psychiatriewesen, sondern allenfalls Verwahreinrichtungen auf sehr niedrigem Niveau. Dort werden Menschen mit psychischen Erkrankungen oft gegen ihren Willen untergebracht, können aber nicht adäquat behandelt werden (AA 16.1.2020). Nigeria verfügt derzeit über weniger als 150 Psychiater (AJ 2.10.2019), nach anderen Angaben sind es derzeit 130 für 200 Millionen Einwohner (Österreich 2011: 20 Psychiater/100.000 Einwohner). Bei Psychologen ist die Lage noch drastischer, hier kamen im Jahr 2014 auf 100.000 Einwohner 0,02 Psychologen (Österreich 2011: 80 Psychologen/100.000 Einwohner). Aufgrund dieser personellen Situation ist eine regelrechte psychologische/psychiatrische Versorgung für die große Mehrheit nicht möglich, neben einer basalen Medikation werden die stationären Fälle in öffentlichen Einrichtungen im Wesentlichen „aufbewahrt“. Die Auswahl an Psychopharmaka ist aufgrund der mangelnden Nachfrage sehr begrenzt (VAÖB 23.1.2019). Die WHO schätzt, dass weniger als 10 Prozent der Nigerianer jene psychiatrische Behandlung bekommen, die sie brauchen (AJ 2.10.2019; vgl. HRW 11.11.2019).
Nach anderen Angaben gibt es insgesamt für die inzwischen annähernd (VAÖB 23.1.2019) 180-200 Millionen (Punch 22.12.2017: 180 Mio; VAÖB 23.1.2019: 200 Mio) Einwohner 100 Hospitäler mit psychiatrischer Abteilung (VAÖB 23.1.2019). Das in Lagos befindliche Federal Neuro Psychiatric Hospital Yaba bietet sich als erste Anlaufstelle für die Behandlung psychisch kranker Rückkehrer an. Die Kosten für einen Empfang durch ein medizinisches Team direkt am Flughafen belaufen sich auf ca. 195.000 Naira (ca. 570 Euro). Die Behandlungskosten sind jedoch je nach Schwere der Krankheit unterschiedlich. Zudem ist an diesem Krankenhaus auch die stationäre Behandlung psychischer Erkrankungen mit entsprechender Medikation möglich (AA 16.1.2020).
Es gibt eine allgemeine Kranken- und Rentenversicherung, die allerdings nur für Beschäftigte im formellen Sektor gilt. Die meisten Nigerianer arbeiten jedoch als Bauern, Landarbeiter oder Tagelöhner im informellen Sektor. Leistungen der Krankenversicherung kommen schätzungsweise nur zehn Prozent der Bevölkerung zugute (AA 16.1.2020). Nur weniger als sieben Millionen (Punch 22.12.2017) der 180-200 Millionen (Punch 22.12.2017: 180 Mio; VAÖB 23.1.2019: 200 Mio) Einwohner Nigerias sind beim National Health Insurance Scheme leistungsberechtigt (Punch 22.12.2017). Eine Minderheit der erwerbstätigen Bevölkerung ist über das jeweils beschäftigende Unternehmen mittels einer Krankenversicherung abgesichert, die jedoch nicht alle Krankheitsrisiken abdeckt (VAÖB 27.3.2019).
Wer kein Geld hat, bekommt keine medizinische Behandlung (GIZ 9.2020b). Selbst in staatlichen Krankenhäusern muss für Behandlungen bezahlt werden (AA 16.1.2020). Die Kosten medizinischer Betreuung müssen im Regelfall selbst getragen werden. Die staatlichen Gesundheitszentren heben eine Registrierungsgebühr von umgerechnet 10 bis 25 Cent ein (ÖB 10.2019). Eine medizinische Grundversorgung wird über die Ambulanzen der staatlichen Krankenhäuser aufrechterhalten, jedoch ist auch dies nicht völlig kostenlos, in jedem Fall sind Kosten für Medikamente und Heil- und Hilfsmittel von den Patienten zu tragen, von wenigen Ausnahmen abgesehen (VAÖB 27.3.2019). Die staatliche Gesundheitsversorgung gewährleistet keine kostenfreie Medikamentenversorgung. Jeder Patient - auch im Krankenhaus - muss Medikamente selbst besorgen bzw. dafür selbst aufkommen (AA 16.1.2020). Gemäß Angaben einer anderen Quelle werden Tests und Medikamente an staatlichen Gesundheitseinrichtungen dann unentgeltlich abgegeben, wenn diese überhaupt verfügbar sind. Religiöse Wohltätigkeitseinrichtungen und NGOs bieten kostenfrei medizinische Versorgung (ÖB 10.2019).
In der Regel gibt es fast alle geläufigen Medikamente in Nigeria in Apotheken zu kaufen, so auch die Antiphlogistika und Schmerzmittel Ibuprofen und Diclofenac sowie die meisten Antibiotika, Bluthochdruckmedikamente und Medikamente zur Behandlung von neurologischen und psychiatrischen Leiden (AA 16.1.2020). Medikamente gegen einige weit verbreitete Infektionskrankheiten wie Malaria und HIV/AIDS können teilweise kostenlos in Anspruch genommen werden, werden jedoch nicht landesweit flächendeckend ausgegeben. Schutzimpfaktionen werden von internationalen Organisationen finanziert, stoßen aber auf religiös und kulturell bedingten Widerstand, überwiegend im muslimischen Norden (ÖB 10.2019).
Die Qualität der Produkte auf dem freien Markt ist jedoch zweifelhaft, da viele gefälschte Produkte – meist aus asiatischer Produktion – vertrieben werden (bis zu 25% aller verkauften Medikamente). Diese wirken aufgrund unzureichender Dosisanteile der Wirkstoffe nur eingeschränkt. Es gibt zudem wenig zuverlässige Kontrollen hinsichtlich der Qualität der auf dem Markt erhältlichen Produkte (AA 16.1.2020). Gegen den grassierenden Schwarzmarkt mit Medikamenten gehen staatliche Stellen kaum vor (ÖB 10.2019).
Der Glaube an die Heilkräfte der traditionellen Medizin ist nach wie vor sehr lebendig. Bei bestimmten Krankheiten werden eher traditionelle Heiler als Schulmediziner konsultiert (GIZ 9.2020b). Gerade im ländlichen Bereich werden „herbalists“ und traditionelle Heiler aufgesucht (ÖB 10.2019).
In Nigeria gibt es wie in anderen Ländern relativ wenig belegte COVID-19 Infizierte. Dies kann auch damit zusammenhängen, dass vergleichsweise wenig Tests durchgeführt werden (Africa CDC 13.10.2020).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (7.9.2020): Nigeria - Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/nigeriasicherheit/205788#content_5, Zugriff 5.10.2020
- AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2025287/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Nigeria_%28Stand_September_2019%29%2C_16.01.2020.pdf, Zugriff 18.11.2020
- Africa CDC - Africa Centres for Disease Control and Prevention (13.10.2020): Coronavirus Disease 2019 (COVID-19) - Latest updates on the COVID-19 crisis from Africa CDC, https://africacdc.org/covid-19/, Zugriff 13.10.2020
- AJ - Al Jazeera (2.10.2019): Nigeria has a mental health problem, https://www.aljazeera.com/ajimpact/nigeria-mental-health-problem-191002210913630.html, Zugriff 16.4.2020
- ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2020): Asylländerbericht Nigeria, https://www.ecoi.net/en/file/local/2021612/NIGR_%C3%96B_Bericht_2019_10.pdf, Zugriff 18.11.2020
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (9.2020b): Nigeria, Gesellschaft, https://www.liportal.de/nigeria/gesellschaft/, Zugriff 2.10.2020
- HRW - Human Rights Watch (11.11.2019). Nigeria: People With Mental Health Conditions Chained, Abused, https://www.hrw.org/news/2019/11/11/nigeria-people-mental-health-conditions-chained-abused, Zugriff 16.4.2020
- Punch (22.12.2017): NHIS: Health insurance still elusive for many Nigerians, https://punchng.com/nhis-health-insurance-still-elusive-for-many-nigerians/, Zugriff 16.4.2020
- VAÖB - Vertrauensarzt der