TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/31 W176 2197175-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 31.08.2021
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Entscheidungsdatum

31.08.2021

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §2 Abs1 Z15
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §75 Abs24
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W176 2197175-1/23E

Schriftliche Ausfertigung des am 05.07.2021 mündlich verkündeten Erkenntnisses:

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. NEWALD als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft Graz-Umgebung, diese vertreten durch die Caritas der Diözese XXXX /Rechtsberatung, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.04.2018, Zl. 1101506108-160045390/BMI-BFA_STM_AST_02, zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 33/2013 (VwGVG), stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG 2005), der Status eines Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz, BGBl. Nr. 1/1930 (B-VG),


Text


Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

1. Der minderjährige Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am XXXX 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Bei der Erstbefragung vor der Polizeiinspektion Traiskirchen EAST am XXXX .2016 gab er an, vor dem Krieg und vor den Taliban geflüchtet zu seien. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan habe er Angst vor dem Krieg und um sein Leben.

2. Am 08.02.2018 fand vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: belangte Behörde) im Beisein seines gesetzlichen Vertreters und einer Vertrauensperson eine niederschriftliche Einvernahme statt, die auf Wunsch des Beschwerdeführers auf Deutsch erfolgte. Der Beschwerdeführer legte eingangs eine Schulbesuchsbestätigung der XXXX schule in XXXX vom 05.02.2018 sowie eine (teilweise) schwer leserliche Kopie der Tazkira seines Vaters vor. Er gab an, mittlerweile zehn Jahre alt zu sein und schwer sagen zu können, ob er in Afghanistan oder im Iran geboren sei. Er habe zuerst in Afghanistan und dann im Iran gelebt und sei danach mit seinem Onkel nach Österreich gekommen. In Afghanistan habe er zusammen mit seinem Großvater, seiner Großmutter und seinen Eltern und Geschwistern gewohnt, er wisse aber nicht mehr, wie der Ort heiße, wo sie gelebt hätten. Er sei der einzige Sohn der Familie und habe drei Schwestern. Dass er Afghanistan habe verlassen müssen, habe viele Gründe gehabt. Eines nachts habe sein Großvater seine Großmutter an den Haaren gezogen, woraufhin sein Vater und sein Onkel auf den Großvater losgegangen seien. Sie seien dann vom Haus des Großvaters weggegangen und hätten kurze Zeit bei einem Freund der Familie gewohnt. Dann sei seiner Großmutter eingefallen, dass sie in den Iran flüchten wolle; so seien sie letztlich in den Iran ausgereist.

Sein Vater habe dann zu seinem Onkel gesagt, dass er den Beschwerdeführer nach Österreich bringen solle, damit er gut versorgt sei und besser leben könne. So sei er letztlich gemeinsam mit seinem Onkel, seiner Tante und seiner Cousine nach Österreich gereist und habe hier einen Asylantrag gestellt. Sein Onkel habe ihn jedoch nicht gut behandelt; er habe ihm mehrmals wehgetan und einmal sogar so stark geschlagen, dass er geblutet habe. Mittlerweile lebe er bei einer österreichischen Pflegefamilie; seine Pflegemutter sei bei der Einvernahme als Vertrauensperson anwesend.

Befragt, ob er wisse, wer die Taliban seien, führte der Beschwerdeführer aus, dies seien Männer, die einen Schleier und schmutzige Kleidung trügen. Er habe sie schon einmal gesehen; sie seien aber nicht auf ihn losgegangen.

Weiters gab er an, jeden Sonntag telefonisch in Kontakt mit seinen Eltern zu seien.

Zu seinem Leben in Österreich führte er aus, hier die Schule (die dritte Klasse) zu besuchen. Nachmittags gehe er manchmal in den Hort; er habe hier viele Freunde.

3. Mit Schriftsatz vom 09.02.2018 erstattete der Beschwerdeführer durch seine rechtsfreundliche Vertretung eine Stellungnahme, in der er im Wesentlichen Folgendes vorbrachte:

Der Beschwerdeführer habe mit seiner Kernfamilie Afghanistan im frühen Kindesalter verlassen und im Alter von knapp acht Jahren mit seinem Onkel den Iran nach Europa verlassen. Seine Kernfamilie halte sich nach wie vor im Iran auf und es bestehe kein Kontakt zu etwaigen Verwandten in Afghanistan. Infolge Kindeswohlgefährdung seitens seines in Österreich lebenden Onkels sei die Bezirkshauptmannschaft Graz mit seiner Obsorge betraut worden. Er werde in Afghanistan aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der „verlassenen Kinder“ in asylrelevanter Weise verfolgt. Hingewiesen werde zudem auch auf die prekäre Sicherheitslage in Kunduz, seiner Heimatprovinz, bzw. auf fehlende Anknüpfungspunkte und die schlechte Lage in Kabul.

4. Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.).

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass kein asylrelevantes Vorbringen habe erkannt werden können. Dem minderjährigen Beschwerdeführer sei jedoch eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zumutbar, weil ihm dort ein Leben in menschenunwürdigen Zuständen drohen könne, zumal sich seine Kernfamilie im Iran befinde und er über keine familiären Anknüpfungspunkte in Afghanistan verfüge.

5. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde mit den primären Anträgen ihm den Status des Asylberechtigten zuzuerkennen sowie eine mündliche Verhandlung anzuberaumen. Er brachte im Wesentlichen vor, dass er nicht in Kenntnis der näheren Umstände der Furcht vor Verfolgung hinsichtlich seiner Familie sei, zumal er unmündig sei und aufgrund seines jungen Alters detaillierte Angaben nicht erwartet werden können. Er habe „kindgerechte“ Angaben zum Vorherrschen innerfamiliärer Gewalt bzw. zur Gefahr seitens der Taliban getätigt. Es hätte daher weiterer Ermittlungen seitens der belangten Behörde bedurft. Die belangte Behörde hätte seinen Entwicklungsstand ausreichend berücksichtigen müssen. Zudem habe die belangte Behörde es unterlassen konkrete Länderfeststellungen zur Situation von „verlassenen Kindern“ in Afghanistan zu treffen.

6. Mit Erkenntnis vom 04.12.2019 wies das Bundesverwaltungsgerichts die Beschwerde – ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung – als unbegründet ab und führte begründend im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung aus asylrelevanten Gründen ausgesetzt wäre. Vielmehr hätte die Familie des Beschwerdeführers entschieden, den minderjährigen Beschwerdeführer als einzigen Sohn aus wirtschaftlichen Gründen nach Europa zu schicken. Sofern der Beschwerdeführer vorbringe, er gehöre zur sozialen Gruppe der „verlassenen Kinder“, könne nicht gesagt werden, dass eine anzunehmende Eigenschaft als (von den Eltern) verlassenes Kind ein angeborenes oder unveränderliches Merkmal darstelle und ebenso wenig, dass eine solche Eigenschaft für den Beschwerdeführer identitätsstiftend wäre. Überdies sei der Beschwerdeführer nach wie vor regelmäßig in Kontakt mit seiner Familie, die im Iran lebe, weshalb er nicht als „verlassenes Kind“ zu betrachten sei.

7. Gegen dieses Erkenntnis erhob der Beschwerdeführer außerordentliche Revision beim Verwaltungsgerichtshof.

8. Mit Erkenntnis vom 26.04.2021 gab der Verwaltungsgerichtshof der Revision statt und hob das angefochtene Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften auf.

Begründend führte der Verwaltungsgerichtshof im Wesentlichen aus, das Bundesverwaltungsgericht habe seine Pflicht zur Durchführung einer Verhandlung missachtet, weil es nicht von einem geklärten Sachverhalt hätte ausgehen dürfen. Der Beschwerdeführer sei in seiner Beschwerde den tragenden Erwägungen der belangten Behörde nicht bloß unsubstantiiert entgegengetreten und das Bundesverwaltungsgericht habe die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung nicht bloß unwesentlich ergänzt.

Zum Vorbringen des Beschwerdeführers, ihm drohe aufgrund der Zugehörigkeit zur „sozialen Gruppe der verlassenen Kinder“ Verfolgung, hielt der Verwaltungsgerichtshof im Wesentlichen fest, dass mit den in der Revision geltend gemachten Gefahren grundsätzlich möglicher kinderspezifischer Verfolgungshandlungen iSd Art. 9 der Statusrichtlinie sei kein kausaler Zusammenhang mit dem behaupteten Konventionsgrund der „sozialen Gruppe der verlassenen Kinder“ aufgezeigt worden sei, weshalb es sich schon aus diesem Grund erübrige, auf die in der Revision relevierte Frage, ob „verlassene Kinder“ in Afghanistan als eine bestimmte soziale Gruppe iSd Art. 10 Abs. 1 lit. d der Statusrichtlinie anzusehen seien, näher einzugehen. Im Übrigen sei der Beschwerdeführer nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes nicht von seiner im Iran lebenden Familie verlassen worden, sondern von dieser, insbesondere von seinem Vater, aus wirtschaftlichen Gründen mit seinem Onkel und seiner Tante nach Europa geschickt worden und er stehe nach wie vor in ständigem telefonischen Kontakt mit seiner Familie. Insofern handle es sich beim minderjährigen Beschwerdeführer nicht um ein von seiner Familie „verlassenes“, also im Stich gelassenes, Kind.

9. Am 05.07.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche Beschwerdeverhandlung statt, in welcher der Beschwerdeführer als Partei sowie seine Pflegemutter XXXX als Zeugin einvernommen wurden. Im Anschluss an diese Verhandlung (an der die belangte Behörde nicht teilnahm) wurde das gegenständliche Erkenntnis mündlich verkündet.

10. In der Folge beantragte die belangte Behörde fristgerecht die Ausfertigung des Erkenntnisses.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zum Beschwerdeführer

1.1.1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Araber an. Er wurde im sunnitisch-muslimischen Glauben erzogen. Er stammt aus der Provinz Kunduz, wo er mit seinen Eltern, Geschwistern und Großeltern lebte.

Aufgrund von Streitigkeiten innerhalb der Familie verließ er im jungen Kindesalter mit seinen Eltern, Geschwistern und seiner Großmutter Afghanistan und lebte fortan im Iran. Im Jahr 2016 verließ er (im Alter von 8 Jahren) auf Wunsch seines Vaters gemeinsam mit seinem Onkel, seiner Tante und seiner Cousine den Iran und reiste (unter anderem) über die Türkei nach Österreich ein, wo er sowie sein Onkel, seine Tante und seine Cousine am 11.01.2016 jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz stellten.

1.1.2. Der Beschwerdeführer lebte zunächst gemeinsam mit seinem Onkel und seiner Tante in einer Unterkunft in der Steiermark. Wegen von seinem Onkel ausgehenden gewalttätigen Zwischenfälle wurde er im Jahr 2017 bei der Familie der Zeugin in Graz als Pflegekind untergebracht und lebt seither dort. Er besucht seit dem Schuljahr 2016/2017 die XXXX schule XXXX , und nimmt dort seit nunmehr fünf Jahren am freichristlichen Religionsunterricht teil.

Er verfügt über keine Familienangehörigen mehr in Afghanistan; seine Eltern und Geschwister leben im Iran. Er verfügt über ausgezeichnete Deutschkenntnisse und spricht seine Muttersprache Dari mittlerweile nur mehr auf einem derart geringen Niveau, dass er nicht mehr in Lage ist sich über Begrüßungsfloskeln hinaus auf Dari zu verständigen. Er hat sein ungefähr einem Jahr keinen Kontakt mehr mit seiner im Iran lebenden Familie.

1.1.3. Der Beschwerdeführer hat sich mittlerweile derart vom Islam abgewandt, dass angenommen werden muss, dass er im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan gegen die dort herrschenden religiösen Sitten und Normen verstoßen würde und in der Folge Übergriffen von hier interessierender Intensität ausgesetzt wäre, gegen die er keinen hinreichenden staatlichen Schutz erhalten könnte.

1.2. Zur hier relevanten Situation in Afghanistan

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 02.04.2021

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020

-        Anfragebeantwortung der Staatendokumentation „COVID-19 Afghanistan; Stand: 29.06.2020“

1.2.1. Allgemeine Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 (zum ersten Mal seit dem Verlust seiner Hauptfestung in der Provinz Nangarhar im November 2019) Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde.

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht.

Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann. Die afghanische Regierung führte zum ersten Mal persönliche Gespräche mit den Taliban, inhaltlich wurde über den Austausch tausender Gefangener verhandelt; bis dahin hatten die beiden Seiten sich nur per Videokonferenz unterhalten. Diese Gespräche sind ein erster Schritt Richtung inner-afghanischer Verhandlungen, welche Teil eines zwischen Taliban und US-Amerikanern unterzeichneten Abkommens sind. Die Gespräche fanden vor dem Hintergrund anhaltender Gewalt im Land statt.

Für den Berichtszeitraum 1.1.2020-30.9.2020 verzeichnete UNAMA 5.939 zivile Opfer. Die Gesamtzahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung ist im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres um 13% zurückgegangen, das ist der niedrigste Wert seit 2012. Afghanistans National Security Council (NSC) zufolge nahmen die Talibanattacken im Juni 2020 deutlich zu. Gemäß NATO Resolute Support (RS) nahm die Anzahl an zivilen Opfern im zweiten Quartal 2020 um fast 60% gegenüber dem ersten Quartal und um 18% gegenüber dem zweiten Quartal des Vorjahres zu.

Die Sicherheitslage bleibt nach wie vor volatil. Die höchste Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle wurde in der südlichen Region, gefolgt von den nördlichen und östlichen Regionen, registriert, die allesamt 68% der Zwischenfälle ausmachten. Die aktivsten Konfliktregionen sind in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Balkh zu finden. Entsprechend saisonaler Trends, gehen die Kämpfe in den Wintermonaten - Ende 2019 und Anfang 2020 – zurück.

(Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 02.04.2021, S. 22 f)

1.2.2. Religionsfreiheit

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 1% der Bevölkerung aus.

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben.

(Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 02.04.2021, S. 246 f)

Apostasie, Blasphemie, Konversion

Glaubensfreiheit, die auch eine freie Religionswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan de facto nur eingeschränkt. Die Abkehr vom Islam (Apostasie) wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht.

Afghanische Christen sind in den meisten Fällen vom Islam zum Christentum konvertiert. Neben der drohenden strafrechtlichen Verfolgung werden Konvertiten in der Gesellschaft ausgegrenzt und zum Teil angegriffen. Bei der Konversion vom Islam zum Christentum wird in erster Linie nicht das Christentum als problematisch gesehen, sondern die Abkehr vom und der Austritt aus dem Islam. Jeder Konvertit soll laut islamischer Rechtsprechung drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum des/der Abtrünnigen konfiszieren und dessen/deren Erbrecht einschränken. Des Weiteren ist gemäß hanafitischer Rechtsprechung Missionierung illegal. Dasselbe gilt für Blasphemie, die in der hanafitischen Rechtsprechung unter die Kapitalverbrechen fällt und auch nach dem neuen Strafgesetzbuch unter der Bezeichnung „religionsbeleidigende Verbrechen“ verboten ist.

Wie in den vergangenen fünf Jahren gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie; jedoch berichten Personen, die vom Islam konvertierten, dass sie weiterhin die Annullierung ihrer Ehen, die Ablehnung durch ihre Familien und Gemeinschaften, den Verlust ihres Arbeitsplatzes und möglicherweise die Todesstrafe riskieren. Die afghanische Regierung scheint kein Interesse daran zu haben, negative Reaktionen oder Druck hervorzurufen - weder vom konservativen Teil der afghanischen Gesellschaft, noch von den liberalen internationalen Kräften, die solche Fälle verfolgt haben.

Es kann jedoch einzelne Lokalpolitiker geben, die streng gegen mutmaßliche Apostaten vorgehen und es kann auch im Interesse einzelner Politiker sein, Fälle von Konversion oder Blasphemie für ihre eigenen Ziele auszunutzen.

Allein der Verdacht, jemand könnte zum Christentum konvertiert sein, kann der Organisation Open Doors zufolge dazu führen, dass diese Person bedroht oder angegriffen wird. Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden. Obwohl es auch säkulare Bevölkerungsgruppen gibt, sind Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren. Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung.

Abtrünnige haben Zugang zu staatlichen Leistungen; es existiert kein Gesetz, Präzedenzfall oder Gewohnheiten, die Leistungen für Abtrünnige durch den Staat aufheben oder einschränken. Sofern sie nicht verurteilt und frei sind, können sie Leistungen der Behörden in Anspruch nehmen.

(Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 02.04.2021, S. 253 f)

1.2.3. Kinder

Die Situation der Kinder hat sich in den vergangenen Jahren insgesamt verbessert. So werden mittlerweile rund zwei Drittel aller Kinder eingeschult. Nach Angaben der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind die durch den Konflikt verursachten zivilen Opfer unter Kindern im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 25 Prozent zurückgegangen. Im Jahr 2020 gab es insgesamt 2.019 zivile minderjährige Opfer, darunter 565 getötete Kinder und 1.454 verletzte Kinder.

Während des gesamten Jahres 2020 rekrutierten die Taliban, die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte und regierungsfreundliche bewaffnete Gruppen weiterhin Kinder. Die regierungsfeindlichen Elemente rekrutierten und verwendeten Kinder sowohl für Kampf- als auch für Dienstfunktionen.

Während die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte insgesamt Fortschritte bei der Verhinderung der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern gemacht haben, gibt der Einsatz von Kindern durch die afghanische Nationalpolizei zu Dienst- und sexuellen Zwecken und in geringerem Maße der Einsatz von Kindern durch die Territorial Force der afghanischen Nationalarmee (ANA-TF) und die [Anm.: in Auflösung begriffene] afghanische Lokalpolizei (ALP) für Kampffunktionen weiterhin Anlass zu großer Sorge. Zwischen dem 1. Januar und dem 31. Dezember 2020 verifizierte UNAMA die Rekrutierung und den Einsatz von 196 Jungen, wobei die meisten Fälle in den nördlichen und nordöstlichen Regionen des Landes auftraten. Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass Rekrutierung und Einsatz von Kindern in Afghanistan oft nicht gemeldet werden.

Kinderarbeit und Waisenhäuser

Afghanistan hat die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert. Kinderarbeit ist in Afghanistan somit offiziell verboten. Trotz Verbesserungen mangelt es nach wie vor an einer wirksamen Regelung zur Verhinderung von Kinderarbeit. Nach afghanischem Recht ist das Mindestalter für eine Erwerbstätigkeit 18 Jahre, jedoch können Kinder zwischen 15 und 17 Jahren arbeiten, wenn „die Arbeit nicht schädlich ist, weniger als 35 Stunden pro Woche beträgt und eine Form der Berufsausbildung darstellt“. Kinder unter 14 Jahren dürfen nicht arbeiten. Gemäß einer Studie aus dem Jahr 2018 sind insbesondere zwei Faktoren zentral: 1.) ob eine Familie intakt ist, oder bedeutsame Ernährer der Familie (Väter) fehlen; 2.) ist auch die Haltung der Familien, insbesondere der Eltern, gegenüber Kinderarbeit und Bildung von Bedeutung.

Viele Familien, insbesondere die mit weiblichem Oberhaupt, sind auf die Einkünfte, die ihre Kinder erwirtschaften, angewiesen. Daher ist eine konsequente Umsetzung des Kinderarbeitsverbots schwierig. Es gibt Programme, die es Kindern erlauben sollen, neben der Arbeit eine Schulausbildung zu absolvieren. Auch ein maximaler Stundensatz und Maßnahmen zum Arbeitsschutz (wie z.B. das Tragen einer Schutzmaske beim Teppichknüpfen) sind gesetzlich geregelt. Der Regierung fehlt es allerdings an durchsetzungsfähigen Überprüfungsmechanismen dieser gesetzlichen Regelungen. 6,5 Millionen Kinder gelten als Gefahren ausgesetzt. Viele Kinder sind unterernährt. Straßenkinder gehören zu den am wenigsten geschützten Gruppen Afghanistans und sind jeglicher Form von Missbrauch und Zwang ausgesetzt.

Im Jahr 2014 haben laut AIHRC (Children’s Situation Summary Report vom 14.Dezember 2014) 51,8% der Kinder in Afghanistan auf die ein oder andere Weise gearbeitet (AA 16.7.2020). Die CSO (Central Statistics Organization) [Anm.: jetzt NSIA, Statistikbehörde Afghanistans] schätzte den Anteil der arbeitenden Kinder gemäß der Definition von Kinderarbeit der International Labour Organization (ILO) unter den fünf- bis 17-Jährigen im Zeitraum 2013-14 auf 26,5%. Gemäß der Definition von Kinderarbeit durch UNICEF waren nach CSO-Schätzung im selben Zeitraum 29,4% der fünf- bis 17-Jährigen in Kinderarbeit involviert, wobei UNICEF - anders als ILO - auch Tätigkeiten im Haushalt berücksichtigt. Bei beiden Definitionen von Kinderarbeit lag der Anteil der arbeitenden Buben (ILO: 32,7%; UNICEF: 34,1%) über jenem der Mädchen (ILO: 19,6%; UNICEF: 24,2%). Kinderarbeit ist unter IDPs weiter verbreitet, als in anderen Bevölkerungsschichten.

Arbeitsgesetze sind meist unbekannt und Vergehen werden oftmals nicht sanktioniert. Arbeitende Kinder sind besonders gefährdet, Gewalt oder sexuellen Missbrauch zu erleiden. Dies kann durch den Arbeitgeber, aber auch durch andere Personen geschehen. Für Kinder, welche ungeschützt im öffentlichen Raum arbeiten, besteht beispielsweise ein erhöhtes Risiko von Entführungen, sexuellen Übergriffen und in manchen Fällen auch Tötungen.

Waisenhäuser

Die Lebensbedingungen in afghanischen Waisenhäusern sind schlecht. Laut NGOs sind bis zu 80% der vier- bis 18-Jährigen in den Waisenhäusern keine Waisen, sondern Kinder, deren Familien nicht für ihre Verpflegung, Unterkunft oder Bildung sorgen können. Kinder in Waisenhäusern berichteten von psychischem, physischem und sexuellem Missbrauch, manchmal werden sie auch zu Opfern von Menschenhandel. Sie haben keinen regelmäßigen Zugang zu Wasser, Heizung im Winter, Sanitäranlagen innerhalb des Hauses, Gesundheitsleistungen, Freizeiteinrichtungen oder Bildung.

(Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 02.04.2021, S. 335 ff)

1.2.4. Situation für Rückkehrer

In den letzten zehn Jahren sind Millionen von Migranten und Flüchtlingen nach Afghanistan zurückgekehrt. Die schnelle Ausbreitung des COVID-19 Virus in Afghanistan hat starke Auswirkungen auf die Vulnerablen unter der afghanischen Bevölkerung, einschließlich der Rückkehrer, da sie nur begrenzten Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, insbesondere zur Gesundheitsversorgung, haben und zudem aufgrund der landesweiten Abriegelung Einkommens- und Existenzverluste hinnehmen müssen.

Soziale, ethnische und familiäre Netzwerke sind für einen Rückkehrer unentbehrlich. Der Großteil der nach Afghanistan zurückkehrenden Personen verfügt über ein familiäres Netzwerk, auf das in der Regel zurückgegriffen wird. Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z.B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen beruflichen Netzwerken (Kollegen, Mitstudierende etc.) sowie politische Netzwerke usw. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind manche Rückkehrer auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden.

Rückkehrer aus dem Iran und aus Pakistan, die oft über Jahrzehnte in den Nachbarländern gelebt haben und zum Teil dort geboren wurden, sind in der Regel als solche erkennbar. Offensichtlich sind sprachliche Barrieren, von denen vor allem Rückkehrer aus dem Iran betroffen sind, weil sie Farsi (die iranische Landessprache) oder Dari (die afghanische Landessprache) mit iranischem Akzent sprechen. Zudem können fehlende Vertrautheit mit kulturellen Besonderheiten und sozialen Normen die Integration und Existenzgründung erschweren. Das Bestehen sozialer und familiärer Netzwerke am Ankunftsort nimmt auch hierbei eine zentrale Rolle ein. Über diese können die genannten Integrationshemmnisse abgefedert werden, indem die erforderlichen Fähigkeiten etwa im Umgang mit lokalen Behörden sowie sozial erwünschtes Verhalten vermittelt werden und für die Vertrauenswürdigkeit der Rückkehrer gebürgt wird. UNHCR verzeichnete jedoch nicht viele Fälle von Diskriminierung afghanischer Rückkehrer aus dem Iran und Pakistan aufgrund ihres Status als Rückkehrer.

Fast ein Viertel der afghanischen Bevölkerung besteht aus Rückkehrern. Diskriminierung beruht in Afghanistan großteils auf ethnischen und religiösen Faktoren sowie auf dem Konflikt. Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland werden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Dem deutschen Auswärtigen Amt sind jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden und auch IOM Kabul sind keine solche Vorkommnisse bekannt. Andere Quellen geben jedoch an, dass es zu tätlichen Angriffen auf Rückkehrer gekommen sein soll, wobei dies auch im Zusammenhang mit einem fehlenden Netzwerk vor Ort gesehen wird. UNHCR berichtet von Fällen zwangsrückgeführter Personen aus Europa, die von religiösen Extremisten bezichtigt werden, verwestlicht zu sein; viele werden der Spionage verdächtigt. Auch glaubt man, Rückkehrer aus Europa wären reich und sie würden die Gastgebergemeinschaft ausnutzen. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkommt, stehen ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung als den übrigen Afghanen, was bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen kann.

(Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 02.04.2021, S. 390 ff)

2. Beweiswürdigung

2.1.1. Die wesentlichen biografischen Feststellungen zum Beschwerdeführer beruhen auf seinen diesbezüglich glaubwürdigen Angaben vor dem Bundesverwaltungsgericht und der belangten Behörde. Die Angaben zu seiner religiösen Prägung beruhen überdies auf den Angaben seiner Pflegemutter XXXX .

2.1.2. Die Feststellungen zu den Lebensumständen des Beschwerdeführers in Österreich beruhen auf seinen diesbezüglichen Angaben, den Aussagen seiner Pflegemutter XXXX , einem ZMR-Auszug sowie der vorgelegten Schulbesuchsbestätigung.

2.1.3. Die Feststellungen zur religiösen Haltung/Einstellung des Beschwerdeführers hinsichtlich des muslimischen Glaubens beruhen auf folgenden Erwägungen:

Das erkennende Gericht erlangte im Rahmen der mündlichen Verhandlung aufgrund der Angaben des Beschwerdeführers und seiner Pflegemutter den Eindruck, dass der Beschwerdeführer sich ernsthaft innerlich vom Islam abgewandt hat:

Auf Frage, ob er gläubig sei, gab der Beschwerdeführer an, dass ihm seine Pflegeeltern gesagt hätten, dass er Moslem sei. Er bete jedoch nicht, halte sich nicht an den Ramadan und möchte davon auch nichts wissen. Befragt, was für ein Gefühl er bezüglich des Islams habe, führte er aus, diesbezüglich gar kein Gefühl zu haben (BVwG, VHS vom 05.07.2021, S. 6 und S. 9).

Seine Pflegemutter gab in der mündlichen Verhandlung als Zeugin befragt an, dass sie und ihr Mann sich bemüht hätten, dem Beschwerdeführer Grundlagen des Islams zu vermitteln bzw. für ihn einen gemäßigten islamischen Religionsunterricht zu finden; der Beschwerdeführer habe dies jedoch von Anfang an abgelehnt. Ihres Wissens nach sei der Beschwerdeführer streng muslimisch-gläubig erzogen worden, er lehne den Islam jedoch mittlerweile gänzlich ab; sie habe den Eindruck, dass der Beschwerdeführer Religionen überhaupt allgemein ablehne (BVwG, VHS vom 05.07.2021, S. 7 ff).

Aufgrund der Angaben des Beschwerdeführers und seiner Pflegemutter entstand für den erkennenden Richter insgesamt der Eindruck, dass sich der Beschwerdeführer innerlich gänzlich vom Islam abgewandt hat bzw. sich in keiner Weise mehr als dem Islam zugehörig betrachtet. Zudem besucht er nun seit mittlerweile fünf Jahren einen freichristlichen Religionsunterricht.

Die Tatsache, dass es der Beschwerdeführer seit seiner Ankunft in Österreich von Anfang abgelehnt hat, sich mit dem Islam näher zu befassen bzw. in der mündlichen Verhandlung klar zum Ausdruck brachte, dass er weder beten noch vom Ramadan „etwas wissen möchte“, legt eine durchaus verfestigte innerliche (den Islam ablehnende) Glaubenshaltung des Beschwerdeführers nahe. Trotz seines noch jungen Alters ist beim erkennenden Richter aufgrund der Aussagen des Beschwerdeführers und dessen Pflegemutter, bei der er nunmehr seit vier Jahren lebt, der Eindruck entstanden, dass sich der Beschwerdeführer nach einer Rückkehr nach Afghanistan nicht in der von der afghanischen Gesellschaft erwarteten Form religiös betätigen würde und er infolge dadurch von der Gesellschaft als andersartig und als vom Islam abtrünnig wahrgenommen werden würde.

2.2. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan beruhen auf den genannten im Rahmen der Ladungen zur Beschwerdeverhandlung eingeführten Quellen, die schon die belangte Behörde (zum Teil) seinem Bescheid zugrunde legte und die im Wesentlichen inhaltsgleich blieben. Angesichts der Seriosität dieser Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen, denen auch die Parteien nicht entgegentraten, besteht für das Bundesverwaltungsgericht kein Grund, an deren Richtigkeit zu zweifeln.

3. Rechtliche Beurteilung

3.1 Zu Spruchpunkt A)

3.1.1. Zur Zuerkennung des Status des Asylberechtigten

3.1.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung i.S.d. Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht.

Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG ist der Antrag abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offensteht oder er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG) gesetzt hat.

Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde (vgl. VwGH 19.12.2007, 2006/20/0771). Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob der Antragsteller tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.

Verfolgung ist gemäß § 2 Abs. 11 AsylG jede Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Statusrichtlinie. Nach Art. 9 der Statusrichtlinie muss eine Verfolgungshandlung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sein, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend sind, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist.

Unter anderem können als Verfolgung folgende Handlungen gelten:

- Anwendung physischer oder psychischer, einschließlich sexueller Gewalt,

- gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder diskriminierend angewandt werden,

- unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,

- Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,

- Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich des Art. 12 Abs. 2 fallen und

- Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.

Für die Annahme einer Verfolgung wegen Apostasie ist jedenfalls Voraussetzung, dass der Asylwerber seine Konfessionslosigkeit als innere Überzeugung und identitätsstiftendes Merkmal versteht, die er auch in seinem Heimatstaat leben wird (siehe etwa VwGH 19.05.2020,
Ra 2019/14/0599; siehe zum Ganzen auch VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0395).

3.1.1.2. Es ist glaubhaft, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine asylrelevante Verfolgung droht:

Aus den Länderberichten (siehe Punkt 1.2.2. zu Religionsfreiheit bzw. Apostasie, Blasphemie und Konversion) geht hervor, dass die Abkehr vom Islam (Apostasie) nach der Scharia als Verbrechen betrachtet wird, auf das die Todesstrafe steht. Bei der Konversion vom Islam zum Christentum wird bspw. in erster Linie nicht das Christentum als problematisch angesehen, sondern die Abkehr vom und der Austritt aus dem Islam. Im Falle der Apostasie gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer; auch kann die Regierung das Eigentum des/der Abtrünnigen konfiszieren und dessen/deren Erbrecht einschränken. Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden. Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, sind oft Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt. Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerable für Misshandlung.

Aufgrund der den Islam ablehnenden Haltung des Beschwerdeführers ist mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass dieser sich bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht an die dort herrschenden religiösen Sitten und Normen halten würde, sondern – ganz im Gegenteil – aufgrund des Unterlassenes (erwarteter) religiöser Betätigungen in der Gesellschaft auffallen würde und in der Folge Übergriffen von hier interessierendem Ausmaß ausgesetzt wäre. Sollte ihm nicht sogar staatliche Verfolgung drohen (zumal die Abkehr vom Islam nach der Scharia als Verbrechen gilt), ist jedenfalls davon auszugehen, dass er gegen die ihm von Seiten privater Akteure (Umfeld, Nachbarn) drohenden Übergriffe keinen hinreichenden staatlichen Schutz erwarten kann.

Verstärkend kommt überdies hinzu, dass der Beschwerdeführer nur wenige Jahre (in noch sehr jungem Alter) in Afghanistan gelebt hat, mit den dortigen gesellschaftlichen Normen und Traditionen nicht vertraut ist, nicht mehr in der Lage ist, sich über Begrüßungsfloskeln hinaus auf Dari zu verständigen und über kein familiäres Netzwerk in Afghanistan verfügt. Aufgrund dieser Umstände wäre er bei einer Rückkehr verstärkt in Gefahr in der Gesellschaft aufzufallen, als andersartig empfunden zu werden und in Folge Übergriffen oder Misshandlungen ausgesetzt zu sein.

Somit ist es glaubhaft, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan aus einer Gemengelage von religiösen Gründen (negative Religionsfreiheit) und politisch/weltanschaulichen Gründen – und somit aufgrund eines in der GFK genannten Grundes – hier relevante Verfolgungshandlungen drohen würden.

Die Voraussetzungen für die Zuerkennung das Status des Asylberechtigten liegen demnach vor, weshalb der Beschwerde stattzugeben und dem Beschwerdeführer der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen war.

3.2. Zur Unzulässigkeit der Revision (Spruchpunkt B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

Apostasie Asyl auf Zeit Asylgewährung asylrechtlich relevante Verfolgung Asylverfahren befristete Aufenthaltsberechtigung begründete Furcht vor Verfolgung Ersatzentscheidung Fluchtgründe Flüchtlingseigenschaft Glaubhaftmachung Glaubwürdigkeit inländische Schutzalternative innerstaatliche Fluchtalternative Kind mündliche Verhandlung mündliche Verkündung Nachfluchtgründe Religionsausübung Religionsfreiheit religiöse Gründe schriftliche Ausfertigung soziale Gruppe staatlicher Schutz Verfolgungsgefahr Verfolgungshandlung wohlbegründete Furcht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W176.2197175.1.00

Im RIS seit

26.11.2021

Zuletzt aktualisiert am

26.11.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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