Entscheidungsdatum
13.09.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W236 2246021-1/4E
W236 2233654-2/4E
W236 2233653-2/4E
W236 2233652-2/4E
W236 2238185-2/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Lena BINDER als Einzelrichterin über die Beschwerden von
1. XXXX (alias XXXX ), geb. XXXX ,
2. XXXX (alias XXXX ), geb. XXXX ,
3. XXXX (alias XXXX ), geb. XXXX ,
4. XXXX (alias XXXX ), geb. XXXX ,
5. XXXX (alias XXXX ), geb. XXXX ,
alle StA. Ukraine (alias 1. Syrien, 2.-5. Russische Föderation), vertreten durch BBU GmbH – Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.07.2021, ZIen.
1. 1248291605/191011835,
2. 1248284404/191011886,
3. 1248281010/191011916,
4. 1248281108/191011945,
5. 1270898204/201110567,
zu Recht:
A) Die Beschwerden werden als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind nach islamischem Ritus traditionell verheiratet und Eltern des minderjährigen Drittbeschwerdeführers, des minderjährigen Viertbeschwerdeführers und der minderjährigen Fünftbeschwerdeführerin (alle gemeinsam werden als Beschwerdeführer bezeichnet). Die Beschwerdeführer sind ukrainische Staatsangehörige.
2. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin stellten am 04.10.2019 für sich selbst sowie den minderjährigen Drittbeschwerdeführer und den minderjährigen Viertbeschwerdeführer und am 09.11.2020 für die in Österreich geborene minderjährige Fünftbeschwerdeführerin die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.
3. Zu ihren Anträgen auf internationalen Schutz wurden der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin zunächst am 04.10.2019 von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt und am 28.01.2020 (Erstbeschwerdeführer) bzw. 04.02.2020 (Zweitbeschwerdeführerin) vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen. Der Erstbeschwerdeführer brachte dabei zu seinen Fluchtgründen zusammengefasst vor, syrischer Staatsangehöriger zu sein und Syrien zu Beginn des Krieges verlassen zu haben, da er nicht zum Militär wolle und ihm ein Freikauf vom Militärdienst als Alawite verwehrt sei. Er sei in die Russische Föderation geflüchtet, wo er jedoch keine Papiere bekommen habe und Probleme mit Leuten aus Aserbaidschan gehabt habe. Die Zweitbeschwerdeführerin führte im Wesentlichen aus, russische Staatsangehörige zu sein und von Bekannten ihres Lebensgefährten aufgrund ihrer russisch-orthodoxen Religionszugehörigkeit mit dem Tod bedroht worden zu sein, weshalb sie aus Angst um ihr Leben und das Leben ihrer Kinder aus dem Herkunftsstaat geflüchtet seien. Banditen hätten herausgefunden, dass der Erstbeschwerdeführer illegal in der Russischen Föderation sei, weshalb er bedroht worden sei.
Mit Bescheiden vom 29.06.2020 (Erst- bis ViertbeschwerdeführerInnen) bzw. 03.12.2020 (minderjährige Fünftbeschwerdeführerin) wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Erstbeschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 4 Abs. 1 AsylG 2005 zurück sowie die Anträge der Zweit- bis FünftbeschwerdeführerInnen ab und erließ jeweils Rückkehrentscheidungen samt Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung in die Russische Föderation. In Erledigung der gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden wurden mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 02.03.2021, W240 2233651-1/6E, und 05.03.2021, W280 2233654-1/9E ua., diese Bescheide behoben und zur Erlassung neuer Bescheide an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen. Begründend wurde zusammengefasst ausgeführt, dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nicht nachvollziehbar aufgezeigt habe, wie es zu der Feststellung komme, dass der Erstbeschwerdeführer in der Russischen Föderation Schutz vor Verfolgung finden könne und sein Antrag auf internationalen Schutz daher aufgrund Schutzes im sicheren Drittstaat zurückzuweisen sei. Da vor dem Hintergrund des zu führenden Familienverfahrens der maßgebliche Sachverhalt im Hinblick auf den Erstbeschwerdeführer nicht feststehe, könne auch der Sachverhalt hinsichtlich der Zweit- bis FünftbeschwerdeführerInnen nicht feststehen.
4. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin wurden in weiterer Folge am 26.05.2021 neuerlich niederschriftlich vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen. Dabei erklärte der Erstbeschwerdeführer zusammengefasst, an Epilepsie zu leiden und diesbezüglich in medizinischer Behandlung zu stehen. Auch ein Schilddrüsenmedikament müsse er nehmen. Im bisherigen Verfahren habe er nicht die Wahrheit gesagt; nichts von dem, was er angegeben habe, stimme. Er sei in Wahrheit ukrainischer Staatsangehöriger, habe zuletzt in Kiew gelebt habe, und heiße anders. In der Ukraine seien zunächst seine Kinder von einer Organisation, die XXXX heiße und für Kinder zuständig sei, entführt worden und wären nach sechs Monaten einer anderen Familie übergeben worden, wenn sie nicht für die Kinder Lösegeld bezahlt hätten. Er habe das Geld an diese Organisation gezahlt und die Kinder nach fünfeinhalb Monaten wieder bekommen. Etwa ein Monat, nachdem er seine Kinder zurückgeholt habe, sei er selbst von einer Gruppierung, die XXXX heiße, entführt worden; man habe ihm den Kopf unter Wasser gehalten und mit einer Pistole bedroht, um Geld von ihm zu erpressen, da er ein Geschäft gehabt habe. Es sei ihm dann gelungen, zu flüchten; daraufhin sei er zur Polizei gegangen, die aber nie etwas herausgefunden habe. Etwa zwei Monate vor ihrer Reise nach Österreich sei ihr Zuhause von dieser Gruppierung durchsucht worden, als sie nicht daheim gewesen seien. Sie seien dann sofort geflüchtet. Zu den Behörden könne man nicht gehen, weil die mit diesen Leuten zusammenarbeiten würden; das habe ihm die Polizei selbst gesagt, als die Kinder entführt worden seien, und auch danach. Ihre Nachbarn hätten gesagt, dass die Polizei gekommen sei und ihre Wohnung durchwühlt habe. Die Zweitbeschwerdeführerin führte zusammengefasst aus, dass sie ukrainische Staatsangehörige sei und immer in der Ukraine, in Kiew, gelebt habe. Sie sage jetzt die Wahrheit; aus Dummheit habe sie zuvor andere Angaben gemacht. Ihr Mann habe in der Ukraine bei der Arbeit Probleme bekommen und sei bedroht worden; was konkret passiert sei, habe er nicht gesagt. Ihr selbst oder den Kindern sei nichts passiert. Sie selbst und die minderjährigen Dritt- bis FünftbeschwerdeführerInnen hätten keine eigenen Fluchtgründe, sondern würden sich lediglich auf die Fluchtgründe des Erstbeschwerdeführers beziehen.
5. Mit oben genannten Bescheiden vom 30.07.2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 (Spruchpunkte I.), als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Ukraine gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkte II.) ab und erteilte den Beschwerdeführern gemäß § 57 AsylG 2005 keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkte III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012, wurde gegen die Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005, erlassen (Spruchpunkte IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Ukraine zulässig sei (Spruchpunkte V.). Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz wurde gemäß § 18 Abs. 1 Z 1 BFA-VG (Spruchpunkt VI. im Bescheid des Erstbeschwerdeführers) bzw. gemäß § 18 Abs. 1 Z 1 und 3 BFA-VG (Spruchpunkte VII. in den Bescheiden der Zweit- bis FünftbeschwerdeführerInnen) die aufschiebende Wirkung aberkannt. Gemäß § 55 Abs. 1a FPG wurde keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt VII. im Bescheid des Erstbeschwerdeführers bzw. Spruchpunkte VI. in den Bescheiden der Zweit- bis FünftbeschwerdeführerInnen).
Begründend wird darin zusammengefasst ausgeführt, dass das Fluchtvorbringen des Erstbeschwerdeführers – näher dargelegt – nicht glaubhaft sei und den Beschwerdeführern in der Ukraine keine wie immer geartete Verfolgung oder Gefährdung drohe. Die Zweitbeschwerdeführerin habe weder für sich selbst noch die minderjährigen Dritt- bis ViertbeschwerdeführerInnen eigene Fluchtgründe geltend gemacht. Die Beschwerdeführer würden bei einer Rückkehr weder in wirtschaftlicher Hinsicht noch im Zusammenhang mit ihrem Gesundheitszustand in eine lebensbedrohliche Lage geraten. Die Erkrankungen des Erstbeschwerdeführers seien in der Ukraine behandelbar und seien auch Medikamente vorhanden. Der Beschwerdeführer, der lange Zeit im Verkauf gearbeitet habe, sei arbeitsfähig und könne wieder, wie auch vor seiner Ausreise aus der Ukraine, eine Arbeit aufnehmen, wodurch er für seine Familie sorgen könne. Auch könnten die Beschwerdeführer wieder Unterkunft bei der Mutter der Zweitbeschwerdeführerin nehmen. Auch die Zweitbeschwerdeführerin könne im Fall einer Rückkehr eine Arbeit aufnehmen und den eigenen Lebensunterhalt finanzieren; zudem könnten die Beschwerdeführer auch Rückkehrhilfe beantragen und existiere in der Ukraine ein Sozialversicherungssystem. Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie bestehe ebenfalls kein „real risk“ einer Verletzung des Art. 3 EMRK. Die Beschwerdeführer würden in Österreich weder über ein Privat- noch ein Familienleben verfügen, das ihren weiteren Aufenthalt rechtfertigen würde; eine Rückkehrentscheidung sei zulässig. Die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde sei abzuerkennen, da der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin versucht hätten, das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl durch falsche Angaben bzw. Verschweigen wichtiger Informationen über ihre Identität und Staatsangehörigkeit zu täuschen, obwohl sie mehrmals auf ihre Wahrheitspflicht hingewiesen worden seien; außerdem würden die Beschwerdeführer aus einem sicheren Herkunftsstaat stammen.
6. Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer fristgerecht gleichlautende Beschwerden.
Begründend wird im Wesentlichen dargelegt, dass es zu Gewalt gegen den Erstbeschwerdeführer und einer Entführung seiner minderjährigen Kinder gekommen sei; die Beschwerdeführer hätten begründete Furcht vor Verfolgung in ihrem Herkunftsstaat, da der ukrainische Staat schutzunwillig sei. Der Erstbeschwerdeführer sei zudem gesundheitlich stark beeinträchtigt und leide an Epilepsie, weshalb er auf ständige gesundheitliche Begleitung angewiesen sei. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl habe in den Bescheiden der Dritt- bis FünftbeschwerdeführerInnen nur auf das Vorbringen der Zweitbeschwerdeführerin verwiesen und keine weiteren Feststellungen zur Verfolgung der minderjährigen Kinder getroffen. Hätte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl entsprechende Ermittlungen angestellt bzw. schlüssige Feststellungen getroffen, so hätte es feststellen müssen, dass dem Erstbeschwerdeführer und seinen Kindern Verfolgung durch eine Gruppierung drohe, vor welcher der ukrainische Staat nicht schützen könne bzw. wolle. Auch seien die im angefochtenen Bescheid getroffenen Länderfeststellungen unvollständig und würden keine Feststellungen zur vom Beschwerdeführer vorgebrachten Schutzgelderpressung und Verfolgung durch staatsnahe Gruppierungen beinhalten bzw. setze sich das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nicht konkret mit der vorgebrachten Situation zum Vorkommen von Korruption und Schutzgelderpressung auseinander. Schließlich habe sich das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nicht mit dem dauernden medizinischen Behandlungsbedarf des Erstbeschwerdeführers auseinandergesetzt und keine Ermittlungen dahingehend angestellt, welche Therapien aufgrund der Corona-Epidemie dem Beschwerdeführer in der Ukraine derzeit zur Verfügung stünden und welche Folgen ein Abbruch der in Österreich geführten Therapie hätte. Der Erstbeschwerdeführer habe in der Ukraine kein unterstützendes soziales Netzwerk mehr und sei nicht imstande, sich ohne ein solches eine neue Existenz aufzubauen und zusätzlich für die Kosten und Behandlung seiner Erkrankung aufzukommen. Der Erstbeschwerdeführer habe seine divergierenden Angaben vor dem Hintergrund seiner und der Entführung seiner Kinder aus Angst gemacht; das späte Vorbringen der erlittenen Folter könne auf das Trauma zurückzuführen sein. Das Fluchtvorbringen der Beschwerdeführer sei als glaubhaft zu werten, weil der Erstbeschwerdeführer nachvollziehbare Angaben habe machen können und sich das Vorbringen mit den aktuellen Länderberichten decke. Zumindest wäre den Beschwerdeführern aufgrund der besonderen Vulnerabilität der minderjährigen Kinder subsidiärer Schutz zuzuerkennen gewesen. Die Beschwerdeführer seien um ihre Integration bemüht; die Bindungen zum Herkunftsstaat seien nicht mehr stark vorhanden.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Auf Grundlage der Einsichtnahmen in die bezughabenden Verwaltungs- und Gerichtsakten der Beschwerdeführer, der Einsichtnahmen in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister, das Grundversorgungs-Informationssystem und das Strafregister werden die folgenden Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1. Zum Verfahrensgang:
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin stellten am 04.10.2019 für sich selbst sowie den minderjährigen Drittbeschwerdeführer und den minderjährigen Viertbeschwerdeführer und am 09.11.2020 für die minderjährige Fünftbeschwerdeführerin die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin versuchten, das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl durch falsche Angaben über ihre Identität und ihre Staatsangehörigkeit trotz Belehrung über ihre Wahrheits- und Mitwirkungspflicht zu täuschen, indem sie in ihrer Erstbefragung am 04.10.2019 sowie ihrer ersten Einvernahme über ihre Anträge auf internationalen Schutz vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 28.01.2020 (Erstbeschwerdeführer) bzw. am 04.02.2020 (Zweitbeschwerdeführerin) falsche Angaben zu ihren Namen und ihrer Staatsangehörigkeit machten.
Mit Bescheiden vom 30.07.2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkte I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Ukraine gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkte II.) ab und erteilte den Beschwerdeführern gemäß § 57 AsylG 2005 keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkte III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkte IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Ukraine zulässig sei (Spruchpunkte V.). Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz wurde gemäß § 18 Abs. 1 Z 1 BFA-VG (Spruchpunkt VI. im Bescheid des Erstbeschwerdeführers) bzw. gemäß § 18 Abs. 1 Z 1 und 3 BFA-VG (Spruchpunkte VII. in den Bescheiden der Zweit- bis FünftbeschwerdeführerInnen) die aufschiebende Wirkung aberkannt. Gemäß § 55 Abs. 1a FPG bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VII. im Bescheid des Erstbeschwerdeführers bzw. Spruchpunkte VI. in den Bescheiden der Zweit- bis Fünftbeschwerdeführerinnen).
Gegen diese Bescheide erhoben die Beschwerdeführer fristgerecht gleichlautende Beschwerden.
1.2. Zu den Personen der Beschwerdeführer:
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind nach islamischem Ritus traditionell verheiratet und Eltern des minderjährigen Drittbeschwerdeführers, des minderjährigen Viertbeschwerdeführers und der minderjährigen Fünftbeschwerdeführerin. Die Beschwerdeführer sind ukrainische Staatsangehörige. Die Identitäten der Beschwerdeführer stehen nicht fest. Der Erstbeschwerdeführer ist der Volks- und Religionsgruppe der Alawiten zugehörig. Die Zweitbeschwerdeführerin ist der Volksgruppe der Russen und dem russich-orthodoxen Glauben zugehörig. Die minderjährigen Dritt- bis FünftbeschwerdeführerInnen gehören der Volksgruppe der Russen und dem islamischen Glauben an.
Der Erstbeschwerdeführer ist im Libanon geboren, in Syrien aufgewachsen und besaß sowohl die libanesische als auch die syrische Staatsangehörigkeit, bis er vor rund zwanzig Jahren in die Ukraine ging, wo er seitdem bis zu seiner Reise nach Österreich lebte, und dort (unter Zurücklegung sowohl der libanesischen als auch der syrischen Staatsangehörigkeit) vor etwa fünfzehn Jahren die ukrainische Staatsangehörigkeit erwarb. Der Erstbeschwerdeführer absolvierte in Syrien Schulbildung und arbeitete in der Landwirtschaft.
Die Zweitbeschwerdeführerin, der minderjährige Drittbeschwerdeführer und der minderjährige Viertbeschwerdeführer sind in der Ukraine geboren und lebten dort bis zu ihrer Reise nach Österreich.
Die minderjährige Fünftbeschwerdeführerin ist in Österreich geboren.
Die Zweitbeschwerdeführerin absolvierte in der Ukraine Schulbildung im Umfang von neun Jahren und besuchte im Anschluss eine Berufsschule, wo sie eine wirtschaftliche und buchhalterische Ausbildung machte. Sie arbeitete als Kassiererin.
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin lernten sich im Jahr 2012 in der Ukraine kennen und lebten bis zu ihrer Reise nach Österreich im Oktober 2019 gemeinsam mit ihren minderjährigen Kindern bei der Mutter der Zweitbeschwerdeführerin in Kiew. In der Ukraine war der Erstbeschwerdeführer selbständig als Textilverkäufer, mit einem Reisebüro und im Transportbereich tätig und war dadurch in der Lage, sowohl den Lebensunterhalt für sich selbst sowie die Zweit- bis ViertbeschwerdeführerInnen zu sichern, während die Zweitbeschwerdeführerin die Kinderbetreuung übernahm, als auch Geld nach Syrien, wo Familienangehörige des Erstbeschwerdeführers leben, zu schicken.
In Kiew lebt nach wie vor die Mutter der Zweitbeschwerdeführerin.
Die Beschwerdeführer beherrschen Russisch; der Erstbeschwerdeführer beherrscht zudem Arabisch.
Die Beschwerdeführer halten sich seit ihrer Einreise nach Österreich im Oktober 2019 (Erst- bis ViertbeschwerdeführerInnen) bzw. seit ihrer Geburt (minderjährige Fünftbeschwerdeführerin) in Österreich auf. Die Beschwerdeführer sprechen kaum Deutsch. Der Erstbeschwerdeführer begann mit dem Besuch eines Deutschkurses und bemüht sich derzeit, zu Hause Deutsch zu lernen. Er war ehrenamtlich für eine österreichische Gemeinde tätig. Die Beschwerdeführer verfügen über keine familiären, engeren sozialen und wirtschaftlichen Anknüpfungspunkte in Österreich. Sie beziehen Leistungen aus der Grundversorgung.
Der Erstbeschwerdeführer leidet an Epilepsie und Hashimoto Thyreoiditis und nimmt diesbezüglich Medikamente ein; darüber hinaus leidet er an Globus (Druckgefühl im Rachen), Vertigo (Schwindel) und Umilikalhernie (Nabelbruch). Die Erkrankungen des Erstbeschwerdeführers sind in der Ukraine behandelbar; der Erstbeschwerdeführer ist in der Lage, die benötigte Behandlung in Anspruch zu nehmen. Die Zweit- bis FünftbeschwerdeführerInnen sind gesund. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind arbeitsfähig.
Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.3. Zum Fluchtgrund und einer möglichen Rückkehr der Beschwerdeführer in den Herkunftsstaat:
Weder der Erstbeschwerdeführer noch der minderjährige Drittbeschwerdeführer und der minderjährige Viertbeschwerdeführer wurden in der Ukraine zum Zweck der Gelderpressung von mit staatlichen Behörden zusammenarbeitenden Gruppierungen entführt. Die Beschwerdeführer sind in der Ukraine nicht aus Gründen der Volksgruppenzugehörigkeit, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer (ihnen allenfalls unterstellten) politischen Ansichten bedroht oder verfolgt (worden). Den Beschwerdeführern drohen im Fall einer Rückkehr in die Ukraine nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ungerechtfertigte konkrete und individuelle physische und/oder psychische Eingriffe erheblicher Intensität in ihre persönliche Sphäre. Sie können sich wieder in Kiew niederlassen.
Die Beschwerdeführer sind im Fall einer Rückkehr in die Ukraine nicht gefährdet, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden und sind nicht von der Todesstrafe bedroht. Sie würden bei einer Rückkehr in die Ukraine nicht in eine existenzgefährdende Notlage geraten.
Auch die aktuell vorherrschende COVID-19-Pandemie stellt kein Rückkehrhindernis dar. Die Beschwerdeführer gehören mit Blick auf ihr Alter sowie aufgrund des Fehlens einschlägiger physischer (chronischer) Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht daher keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass die Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in die Ukraine eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würden. COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck) auf.
1.4. Zur maßgeblichen Situation in der Ukraine:
Insbesondere zur allgemeinen Situation und Sicherheitslage, zur allgemeinen Menschenrechtslage, zu Grundversorgung und Wirtschaft sowie zur Lage von Rückkehrern wird unter Heranziehung der erstinstanzlichen Länderfeststellungen Folgendes festgestellt:
Covid-19-Situation
Letzte Änderung: 08.06.2021
In der Ukraine gilt ein System der adaptiven Quarantäne (regionales Ampelsystem), welches bis 30. Juni vorgesehen ist. Ein nationaler Lockdown ist nicht geplant (UNIAN 10.5.2021; vgl. UA 28.4.2021, AA 3.5.2021). Gemäß dem Gesundheitsminister ist die dritte Pandemiewelle in der Ukraine vorbei (UP 7.5.2021).
An öffentlichen Orten, nicht jedoch im Freien, besteht die Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes. Das gilt auch für öffentliche Verkehrsmittel. Hygiene- und Gesundheitsmaßnahmen müssen im öffentlichen Verkehr sowie in Geschäften und Gaststättenbetrieben eingehalten werden (AA 3.5.2021; vgl. WKO 30.4.2021, RFE/RL 1.5.2021). 2020 wurden mehr als 6.800 Personen im Rahmen der IOM Ukraine Covid-19 Response Intervention unterstützt (IOM 10.2.2021).
Am 24.2.2021 begannen in der Ukraine die Covid-Impfungen. Derzeit sind die folgenden Impfstoffe in Verwendung: AstraZeneca, SinoVac und Pfizer. Seit dem 24.4.2021 befindet sich die Ukraine in der zweiten Phase der Impfstrategie und verabreicht Impfungen an medizinisches Personal, Militärpersonal und ältere Personen (KP 10.5.2021). Die Impfungen werden vorwiegend von mobilen Impfteams durchgeführt (UA 28.4.2021; vgl. Gov.ua 10.5.2021). Impfungen sind freiwillig und kostenlos (GM 10.5.2021). Mit Stand 8.5.2021 erhielten 862.639 Personen die erste Teilimpfung und 446 Personen bereits die zweite Teilimpfung (GM 8.5.2021). Es wurden bisher 9.668.937 PCR-Tests durchgeführt (Gov.ua 10.5.2021).
In den Krankenhäusern der Hauptstadt Kiew werden derzeit 33 Covid-Patienten behandelt und 230 Patienten mit Verdacht auf Covid und Lungenentzündung (IU 9.5.2021). Ab 1.5.2021 wurden in Kiew die meisten Quarantänebeschränkungen aufgehoben (KP 10.5.2021; vgl. WKO 30.4.2021, RFE/RL 1.5.2021). Wieder geöffnet sind unter anderem Restaurants, Geschäfte, Sporteinrichtungen und Kultureinrichtungen (WKO 30.4.2021; vgl. KP 10.5.2021, RFE/RL 1.5.2021). Seit 5.5.2021 ist der Besuch von Vorschuleinrichtungen, Schulen und Hochschulen wieder erlaubt (WKO 30.4.2021; vgl. RFE/RL 1.5.2021).
Ukrainische Staatsangehörige benötigen für die Einreise einen negativen PCR-Test, welcher zum Zeitpunkt der Einreise nicht älter als 72 Stunden sein darf. Die verpflichtende Selbstisolation von 14 Tagen kann durch einen negativen PCR-Test bei einem zugelassenen Testzentrum nach Einreise verkürzt werden. Ein Einreiseverbot bzw. Beschränkungen im internationalen Reiseverkehr sind derzeit nicht vorgesehen, können aber nicht ausgeschlossen werden (AA 3.5.2021). Die Flughäfen in Kiew, Dnipro, Charkiw, Lwiw, Odesa und Saporischschja sind für den internationalen und inländischen Flugverkehr geöffnet (WKO 30.4.2021).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (3.5.2021): Ukraine: Reise- und Sicherheitshinweise (Teilreisewarnung und COVID-19-bedingte Reisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/ukraine-node/ukrainesicherheit/201946, Zugriff 10.5.2021
- GM – Gesundheitsministerium [Ukraine] (10.5.2021): ?????????? ??? COVID-19 ? ???????: ?????????? ???? ?? 09 ?????? 2021 ???? [COVID-19-Impfung in der Ukraine: Operative Daten für den 9. Mai 2021], https://vaccination.covid19.gov.ua/news/vaccinationdata70, Zugriff 10.5.2021
- GM – Gesundheitsministerium [Ukraine] (8.5.2021): ??? ??? ?????????? ??? COVID-19 ? ??????? [Alles über die COVID-19-Impfung in der Ukraine], https://vaccination.covid19.gov.ua/, Zugriff 10.5.2021
- Gov.ua – Regierungsportal [Ukraine] (10.5.2021): ?????????? ?????????? ??? ????????? ?????????????? ???????? 2019-nCoV [Operative Information über die Ausbreitung der Coronavirus-Infektion 2019-nCoV], https://www.kmu.gov.ua/news/operativna-informaciya-pro-poshirennya-koronavirusnoyi-infekciyi-2019-ncov-10092021, Zugriff 10.5.2021
- IOM – International Organization for Migration (10.2.2021): IOM Ukraine Covid-19 Response Report 8: IOM helps conflict-affected Toretsk get through water shortages, https://www.iom.org.ua/en/iom-ukraine-covid-19-response-report-8, Zugriff 10.5.2021
- IU – Interfaks Ukraine (9.5.2021): ? ????? ?? ????? 255 ????? ?????????? COVID-19, ??????? ?? ??????????? [In Kiew binnen 24 Stunden 255 Covid-Neuerkrankungen, ebenso viele wurden geheilt], https://interfax.com.ua/news/general/742784.html, Zugriff 10.5.2021
- KP – Kyiv Post (10.5.2021): COVID-19 in Ukraine: 2,817 new cases, 119 new deaths, 1,004 new vaccinations, https://www.kyivpost.com/ukraine-politics/covid-19-in-ukraine-2817-new-cases-119-new-deaths-1004-new-vaccinations.html, Zugriff 10.5.2021
- RFE/RL – Radio Free Europe/Radio Liberty (1.5.2021): Kyiv Eases COVID-19 Restrictions Following Decrease In Infections, https://www.rferl.org/a/kyiv-eases-covid-lockdown-restrictions/31233221.html, Zugriff 10.5.2021
- UA – Ukraine-Analysen (28.4.2021): Covid-19-Chronik, 23.3.-25.4.2021 (Nr. 250), https://www.laender-analysen.de/ukraine-analysen/250/UkraineAnalysen250.pdf, Zugriff 10.5.2021
- UNIAN – ?????????? ????????? ???????????? ????????? ????? [Ukrainische unabhängige Nachrichtenagentur] (10.5.2021): ??????? ??????????? ????????? ??????????? ????????? ? ?????????, ????? ?? ????? ??????? [Schmygal kündigte Verlängerung der adaptiven Quarantäne an und teilte mit, ob es neuen Lockdown geben wird], https://www.unian.net/society/shmygal-anonsiroval-prodlenie-adaptivnogo-karantina-i-rasskazal-budet-li-novyy-lokdaun-novosti-ukrainy-11415166.html?, Zugriff 10.5.2021
- UP – Ukrainska Prawda (7.5.2021): ??????? ?????? ? ??????? ????? ???????? – ???????? [In der Ukraine dritte Pandemiewelle vorbei – Stepanow], https://www.pravda.com.ua/news/2021/05/7/7292748/, Zugriff 10.5.2021
- WKO – Wirtschaftskammer [Österreich] (30.4.2021): Coronavirus: Situation in der Ukraine, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/coronavirus-info-ukraine.html, Zugriff 10.5.2021
Politische Lage
Letzte Änderung: 09.07.2020
Die Ukraine ist eine parlamentarisch-präsidiale Republik. Staatsoberhaupt ist seit 20. Mai 2019 Präsident Wolodymyr Selenskyj (AA 6.3.2020). Beobachtern zufolge verlief die Präsidentschaftswahl am 21. April 2019 im Großen und Ganzen frei und fair und entsprach generell den Regeln des demokratischen Wettstreits. Kritisiert wurden unter anderem die unklare Wahlkampffinanzierung und die Medienberichterstattung in der Wahlauseinandersetzung (KP 22.4.2019). Auf der russisch besetzten Halbinsel Krim und in den von Separatisten kontrollierten Gebieten im Donbas fanden keine Wahlen statt (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
2019 war ein Superwahljahr in der Ukraine. Am 31. März fanden die Präsidentschaftswahlen statt; Parlamentswahlen waren ursprünglich für den 27. Oktober 2019 angesetzt. Nach der Inauguration des Präsidenten Selenskyj wurde das Parlament aufgelöst. Die vorgezogenen Parlamentswahlen fanden am 21. Juli 2019 statt (GIZ 3.2020a). Selenskyjs Partei „Sluha Narodu“ (Diener des Volkes) gewann 254 von 450 Sitzen. Die Wahlbeteiligung war mit knapp 50% geringer als vor fünf Jahren. Die OSZE sprach trotz des klaren Ergebnisses von einer fairen Konkurrenz. Zwar bemängelte sie fehlende Transparenz bei der Finanzierung des Wahlkampfs, insgesamt registrierten die Wahlbeobachter bei der Abstimmung allerdings keine gröberen Verstöße (FH 4.3.2020; vgl. BAMF 22.7.2019, DS 22.7.2019). Es wurden sechs Fraktionen gebildet: „Diener des Volkes“ mit 254 Sitzen, die Oppositionsplattform „Für das Leben“ mit 44 Sitzen, Europäische Solidarität (Ex-Block Poroschenko) mit 27 Sitzen, Batkivshchyna (Julia Timoschenkos Partei) mit 25 Sitzen, Holos (Stimme) mit 17 Sitzen und schließlich die aus unabhängigen Abgeordneten bestehende Fraktion „Für die Zukunft“ mit 23 Sitzen (KP 29.8.2019). Auf der Krim und in den von Separatisten kontrollierten Teilen des Donbas konnten die Wahlen nicht stattfinden; folglich wurden nur 424 der 450 Sitze im Parlament besetzt. Darüber hinaus sind rund eine Million ukrainische Bürger nicht wahlberechtigt, weil sie keine registrierte Adresse haben (FH 4.3.2020).
Die nach der „Revolution der Würde“auf dem Kiewer Maidan im Winter 2013/2014 und der Flucht von Wiktor Janukowytsch von Präsident Poroschenko verfolgte europafreundliche Reformpolitik wird durch Präsident Selenskyj verstärkt fortgesetzt. Grundlage bildet ein ambitioniertes Programm für fast alle Lebensbereiche. Schwerpunkte liegen u.a. auf Korruptionsbekämpfung, Digitalisierung, Bildung und Stimulierung des Wirtschaftswachstums. Selenskyj kann sich dabei auf eine absolute Mehrheit im Parlament stützen. Diese Politik, maßgeblich von der internationalen Gemeinschaft unterstützt, hat über eine Stabilisierung der Verhältnisse im Inneren zu einer Annäherung an europäische Verhältnisse geführt (AA 29.2.2020).
Während des ersten Jahres seiner Amtszeit war Präsident Selenskyj mit einigen Herausforderungen konfrontiert (RFE/RL 20.4.2020; vgl. Brookings 20.5.2020). Zwar liegt seine Popularität nicht mehr bei den historischen 70% Unterstützung, die er einst genoss; Umfragen zeigen jedoch, dass seine Zustimmungswerte immer noch höher sind als die aller seiner Vorgänger (RFE/RL 25.4.2020). Im März 2020 gestaltete er die Regierung um, nachdem Ministerpräsident Hon?aruk seinen Rücktritt bekanntgegeben hatte (DW 3.3.2020; vgl. Brookings 20.5.2020). Seit 4. März 2020 ist Denys Schmyhal neuer Ministerpräsident und somit Regierungschef (AA 6.3.2020). Dem neuen Kabinett fehlt jedoch die Glaubwürdigkeit in Bezug auf die Reformen und Mitglieder der alten Eliten sind in Machtpositionen zurückgekehrt. Ob und wie stark das Kabinett Veränderungen durchsetzen wird, muss sich erst zeigen (Brookings 20.5.2020).
Das ukrainische Parlament (Verkhovna Rada) wurde bisher über ein Mischsystem zur Hälfte nach Verhältniswahlrecht und zur anderen Hälfte nach Mehrheitswahl in Direktwahlkreisen gewählt. Das gemischte Wahlsystem wird als anfällig für Manipulation und Stimmenkauf kritisiert. Ukrainische Oligarchen üben durch ihre finanzielle Unterstützung für verschiedene politische Parteien einen bedeutenden Einfluss auf die Politik aus (FH 4.3.2020). Im Dezember 2019 wurde vom Parlament ein neues Wahlgesetz beschlossen. Es sieht teils ein Verhältniswahlsystem mit offenen Parteilisten sowohl für Parlaments- als auch für Kommunalwahlen vor (FH 4.3.2020).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (6.3.2020): Ukraine: Steckbrief, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/ukraine-node/steckbrief/201830, Zugriff 25.5.2020
- AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020
- BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (22.7.2019): Briefing Notes, per E-Mail
- Brookings Institution (20.5.2020): Zelenskiy’s first year: New beginning or false dawn?, https://www.brookings.edu/blog/order-from-chaos/2020/05/20/zelenskiys-first-year-new-beginning-or-false-dawn/, Zugriff 22.5.2020
- DS – Der Standard (22.7.2019): Diener des Volkes werden Kiew regieren, https://www.derstandard.at/story/2000106566433/diener-des-volkes-werden-kiew-regieren, Zugriff 25.5.2020
- DW – Deutsche Welle (3.3.2020): Ukraine Prime Minister Oleksiy Honcharuk resigns for second time, https://www.dw.com/en/ukraine-prime-minister-oleksiy-honcharuk-resigns-for-second-time/a-52628402, Zugriff 25.5.2020
- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025958.html, Zugriff 19.5.2020
- FH - Freedom House (6.5.2020): Nations in Transit 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2029666.html, Zugriff 25.5.2020
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (3.2020a): Länderinformationsportal, Ukraine, Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/ukraine/geschichte-staat/#c4037, Zugriff 22.5.2020
- Jamestown Foundation (24.2.2020): Looming Confrontation in President Zelenskyy’s Entourage Could Lead to Reset of Ukrainian Government, https://jamestown.org/program/looming-confrontation-in-president-zelenskyys-entourage-could-lead-to-reset-of-ukrainian-government/, Zugriff 25.5.2020
- KP – Kyiv Post (29.8.2019): Ukraine’s new parliament sworn in, Dmytro Razumkov becomes speaker, https://www.kyivpost.com/ukraine-politics/ukraines-new-parliament-sworn-in.html?cn-reloaded=1, Zugriff 25.5.2020
- RFE/RL – Radio Free Europe / Radio Liberty (30.8.2019): Ukraine’s Zelenskiy Inducts Politically Untested Government, https://www.rferl.org/a/ukraine-zelenskiy-new-government-honcharuk/30137220.html, Zugriff 25.5.2020
- RFE/RL – Radio Free Europe, Radio Liberty (25.4.2020): Zelenskiy's First Year: He Promised Sweeping Changes. How's He Doing?, https://www.rferl.org/a/zelenskiys-first-year-he-promised-sweeping-changes-how-s-he-doing-/30576329.html, Zugriff 25.5.2020
- USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026415.html, Zugriff 19.5.2020
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 09.07.2020
In den von Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Luhansk sowie auf der Krim haben ukrainische Behörden und Amtsträger zurzeit keine Möglichkeit, ihre Befugnisse wahrzunehmen und staatliche Kontrolle auszuüben (AA 29.2.2020).
Die Sicherheitslage außerhalb der besetzten Gebiete im Osten des Landes ist im Allgemeinen stabil. Allerdings gab es in den letzten Jahren eine Reihe von öffentlichkeitswirksamen Attentaten und Attentatsversuchen, von denen sich einige gegen politische Persönlichkeiten richteten (FH 4.3.2020). In den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teilen der Gebiete Donezk und Luhansk wurde nach Wiederherstellung der staatlichen Ordnung der Neuaufbau begonnen. Die humanitäre Versorgung der Bevölkerung ist sichergestellt (AA 29.2.2020).
Russland hat im März 2014 die Krim annektiert und unterstützt seit Frühjahr 2014 die selbst erklärten separatistischen „Volksrepubliken“ im Osten der Ukraine. Seit Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen im Osten sind über 13.000 Menschen getötet und rund 30.000 Personen verletzt worden, davon laut OHCHR zwischen 7.000 und 9.000 Zivilisten. 1,5 Mio. Binnenflüchtlinge sind innerhalb der Ukraine registriert; nach Schätzungen von UNHCR sind weitere 1,55 Mio. Ukrainer in Nachbarländer (Russland, Polen, Belarus) geflohen (AA 29.2.2020). Das im Februar 2015 vereinbarte Maßnahmenpaket von Minsk wird weiterhin nur schleppend umgesetzt. Die Sicherheitslage hat sich seither zwar deutlich verbessert, Waffenstillstandsverletzungen an der Kontaktlinie bleiben aber an der Tagesordnung und führen regelmäßig zu zivilen Opfern und Schäden an der dortigen zivilen Infrastruktur. Schäden ergeben sich auch durch Kampfmittelrückstände (v.a. Antipersonenminen). Mit der Präsidentschaft Selenskyjs hat der politische Prozess im Rahmen der Trilateralen Kontaktgruppe (OSZE, Ukraine, Russland), insbesondere nach dem Pariser Gipfel im Normandie-Format (Deutschland, Frankreich, Ukraine, Russland) am 9. Dezember 2019 wieder an Dynamik gewonnen. Fortschritte beschränken sich indes überwiegend auf humanitäre Aspekte (Gefangenenaustausch). Besonders kontrovers in der Ukraine bleibt die im Minsker Maßnahmenpaket vorgesehene Autonomie für die gegenwärtig nicht kontrollierten Gebiete, die unter anderem aufgrund der Unmöglichkeit, dort Lokalwahlen nach internationalen Standards abzuhalten, noch nicht in Kraft gesetzt wurde. Gleichwohl hat das ukrainische Parlament zuletzt die Gültigkeit des sogenannten „Sonderstatusgesetzes“ bis Ende 2020 verlängert (AA 29.2.2020).
Ende November 2018 kam es im Konflikt um drei ukrainische Militärschiffe in der Straße von Kertsch erstmals zu einem offenen militärischen Vorgehen Russlands gegen die Ukraine. Das als Reaktion auf diesen Vorfall für 30 Tage in zehn Regionen verhängte Kriegsrecht endete am 26.12.2018, ohne weitergehende Auswirkungen auf die innenpolitische Entwicklung zu entfalten. (AA 22.2.2019; vgl. FH 4.2.2019). Die Besatzung der involvierten ukrainischen Schiffe wurde im September 2019 freigelassen, ihre Festnahme bleibt indes Gegenstand eines von der Ukraine angestrengten Verfahrens vor dem Internationalen Seegerichtshof (AA 29.2.2020).
Der russische Präsident, Vladimir Putin, beschloss am 24.4.2019 ein Dekret, welches Bewohnern der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk den Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft im Eilverfahren erleichtert ermöglicht. Demnach soll die Entscheidung der russischen Behörden über einen entsprechenden Antrag nicht länger als drei Monate dauern. Internationale Reaktionen kritisieren dies als kontraproduktiven bzw. provokativen Schritt. Ukrainische Vertreter sehen darin die Schaffung einer rechtlichen Grundlage für den offiziellen Einsatz der russischen Streitkräfte gegen die Ukraine. Dafür gibt es einen historischen Präzedenzfall. Als im August 2008 russische Truppen in Georgien einmarschierten, begründete der damalige russische Präsident Dmitrij Medwedjew das mit seiner verfassungsmäßigen Pflicht, „das Leben und die Würde russischer Staatsbürger zu schützen, wo auch immer sie sein mögen“. In den Jahren zuvor hatte Russland massenhaft Pässe an die Bewohner der beiden von Georgien abtrünnigen Gebiete Abchasien und Südossetien ausgegeben (FAZ 26.4.2019; vgl. SO 24.4.2019).
Frieden in der Ostukraine gehörte zu den zentralen Versprechen von Wolodymyr Selenskyj während seiner Wahlkampagne 2019. In der Tat gelangen ihm einige Durchbrüche innerhalb der ersten zehn Monate seiner Präsidentschaft. Es kam zu einem mehrmaligen Austausch von Gefangenen, zur Entflechtung der Streitkräfte beider Seiten an drei Abschnitten der Kontaktlinie, zu einer relativ erfolgreichen Waffenruhe im August 2019 und zum Normandie-Treffen unter Teilnahme des russischen, französischen und ukrainischen Präsidenten sowie der deutschen Bundeskanzlerin. An der Dynamik des Konfliktes hat sich jedoch wenig verändert. Im Donbas wird weiterhin geschossen und die gegenwärtigen Verluste des ukrainischen Militärs sind mit denen in den Jahren 2018 und 2019 vergleichbar. In den ersten drei Monaten 2020 starben 27 ukrainische Soldaten in den Kampfhandlungen (KAS 4.2020).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020
- FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (26.4.2019): Ein Signal an Selenskyj, https://www.faz.net/aktuell/politik/putin-verteidigt-russische-staatsbuergerschaft-fuer-ukrainer-16157482.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0, Zugriff 25.5.2020
- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025958.html, Zugriff 19.5.2020
- KAS – Konrad Adenauer Stiftung (4.2020): Ukrainische Politik im Schatten der Pandemie: Teil 1, https://www.ecoi.net/en/file/local/2028885/Ukrainische+Politik+im+Schatten+der+Pandemie.+Teil+1.pdf, Zugriff 25.5.2020
- SO – Spiegel Online (24.4.2019): Putins Provokation, https://www.spiegel.de/politik/ausland/ukraine-wladimir-putin-kuendigt-an-russische-paesse-im-besetzten-donbass-auszuteilen-a-1264280.html, Zugriff 25.5.2020
Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung: 09.07.2020
Die ukrainische Verfassung sieht eine unabhängige Justiz vor, die Gerichte sind aber trotz Reformmaßnahmen der Regierung weiterhin ineffizient und anfällig für politischen Druck und Korruption. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz ist gering. Trotz der Bemühungen um eine Reform der Justiz und der Generalstaatsanwaltschaft ist Korruption bei Richtern und Staatsanwälten weiterhin ein Problem. Zivilgesellschaftliche Gruppen bemängeln weiterhin die schwache Gewaltenteilung zwischen der Exekutive und der Judikative. Einige Richter behaupten Druckausübung durch hochrangige Politiker. Einige Richter und Staatsanwälte erhielten Berichten zufolge Bestechungsgelder. Andere Faktoren, welche das Recht auf ein faires Verfahren behindern, sind langwierige Gerichtsverfahren, insbesondere bei Verwaltungsgerichten, unterfinanzierte Gerichte und mangelnde Möglichkeiten Urteile durchzusetzen (USDOS 11.3.2020).
Die ukrainische Justizreform trat im September 2016 in Kraft, der langjährige Prozess der Implementierung der Reform dauert weiter an. Bereits 2014 startete ein umfangreicher Erneuerungsprozess mit der Annahme eines Lustrationsgesetzes, das u.a. die Entlassung aller Gerichtspräsidenten sowie die Erneuerung der Selbstverwaltungsorgane der Richterschaft vorsah. Eine im Februar 2015 angenommene Gesetzesänderung zur „Sicherstellung des Rechtes auf ein faires Verfahren“ sieht auch eine Erneuerung der gesamten Richterschaft anhand einer individuellen qualitativen Überprüfung („re-attestation“) aller Richter vor, die jedoch von der Zivilgesellschaft als teils unzureichend kritisiert wurde. Bislang wurden laut Informationen von ukrainischen Zivilgesellschaftsvertretern rund 2.000 der insgesamt 8.000 in der Ukraine tätigen Richter diesem Prozess unterzogen, wobei rund 10% entweder von selbst zurücktraten oder bei der Prozedur durchfielen. Ein wesentliches Element der Justizreform ist auch der vollständig neu gegründete Oberste Gerichtshof, der am 15. Dezember 2017 seine Arbeit aufnahm. Allgemein ist der umfassende Erneuerungsprozess der Richterschaft jedoch weiterhin in Gange und schreitet nur langsam voran. Die daraus resultierende häufige Unterbesetzung der Gerichte führt teilweise zu Verfahrensverzögerungen. Von internationaler Seite wurde die Annahme der weitreichenden Justizreform weitgehend begrüßt (ÖB 2.2019).
2014 wurde auch eine umfassende Reform der Staatsanwaltschaft in Gang gesetzt. In erster Linie ging es dabei auch darum, das schwer angeschlagene Vertrauen in die Institution wieder herzustellen, weshalb ein großer Teil dieser Reform auch eine Erneuerung des Personals vorsieht. Im Juli 2015 begann die vierstufige Aufnahmeprozedur für neue Mitarbeiter. Durchgesetzt haben sich in erster Linie jedoch Kandidaten, die bereits in der Generalstaatsanwaltschaft Erfahrung gesammelt hatten. Weiters wurde der Generalstaatsanwaltschaft ihre Funktion als allgemeine Aufsichtsbehörde mit der Justizreform 2016 auf Verfassungsebene entzogen, was jedoch noch nicht einfach gesetzlich umgesetzt wurde. Jedenfalls wurde in einer ersten Phase die Struktur der Staatsanwaltschaft verschlankt, indem über 600 Bezirksstaatsanwaltschaften auf 178 reduziert wurden. 2017 wurde mit dem Staatsanwaltschaftsrat („council of prosecutors“) ein neues Selbstverwaltungsorgan der Staatsanwaltschaft geschaffen. Es gab bereits erste Disziplinarstrafen und Entlassungen, Untersuchungen gegen die Führungsebene der Staatsanwaltschaft wurden jedoch vorerst vermieden. Auch eine spezialisierte Antikorruptions-Staatsanwaltschaft wurde geschaffen. Diese Reformen wurden vor allem wegen der mangelnden personellen Erneuerung der Staatsanwaltschaft kritisiert. Auch erhöhte die Reform die Belastung der Ankläger, die im Durchschnitt rund je 100 Strafverfahren gleichzeitig bearbeiten, was zu einer Senkung der Effektivität der Institution beiträgt. Allgemein bleibt aber, trotz einer signifikanten Reduktion der Zahl der Staatsanwälte, diese im europäischen Vergleich enorm hoch, jedoch ineffizient auf die zentrale, regionale und lokale Ebene verteilt (ÖB 2.2019).
Die jüngsten Reforminitiativen, die sich gegen korrupte und politisierte Gerichte wenden, sind ins Stocken geraten oder blieben hinter den Erwartungen zurück. Das neue Hohe Anti-Korruptionsgericht, das im September 2019 seine Arbeit aufgenommen hat, hat noch keine Ergebnisse erzielt. Obwohl es Garantien für ein ordnungsgemäßes Verfahren gibt, können Personen mit finanziellen Mitteln und politischem Einfluss in der Praxis einer Strafverfolgung wegen Fehlverhaltens entgehen (FH 4.3.2020). Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis orientieren sich an westeuropäischen Standards. Untersuchungshaft wird nach umfassender Reform des Strafverfahrensrechts erkennbar seltener angeordnet als früher (AA 29.2.2020). Nach den 2019 veröffentlichten Statistiken des World Prison Bureau sind etwa 36% der Gefangenen in der Ukraine Untersuchungshäftlinge (FH 4.3.2020).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020
- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025958.html, Zugriff 19.5.2020
- ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003113/UKRA_%C3%96B-Bericht_2018.doc, Zugriff 20.5.2020
- USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026415.html, Zugriff 19.5.2020
Sicherheitsbehörden
Letzte Änderung: 09.07.2020
Das Innenministerium ist für die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und Ordnung zuständig. Das Ministerium beaufsichtigt das Personal der Polizei und anderer Strafverfolgungsbehörden. Der Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) ist für den Staatsschutz im weitesten Sinne, den nicht-militärischen Nachrichtendienst sowie für Fragen der Spionage- und Terrorismusbekämpfung zuständig. Das Innenministerium untersteht dem Ministerkabinett, der SBU ist direkt dem Präsidenten unterstellt. Das Verteidigungsministerium schützt das Land vor Angriffen aus dem In- und Ausland, gewährleistet die Souveränität und die Integrität der Landesgrenzen und übt die Kontrolle über die Aktivitäten der Streitkräfte im Einklang mit dem Gesetz aus. Der Präsident ist der oberste Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Das Verteidigungsministerium untersteht direkt dem Präsidenten. Der Staatliche Steuerfiskus übt über die Steuerpolizei Strafverfolgungsbefugnisse aus und untersteht dem Ministerkabinett. Der dem Innenministerium unterstellte Staatliche Migrationsdienst setzt die staatliche Politik in Bezug auf Grenzsicherheit, Migration, Staatsbürgerschaft und Registrierung von Flüchtlingen und anderen Migranten um (USDOS 11.3.2020).
Die Sicherheitsbehörden unterstehen generell effektiver ziviler Kontrolle. Die Regierung hat es jedoch im Allgemeinen versäumt, angemessene Schritte zu unternehmen, um Missbräuche durch Beamte strafrechtlich zu verfolgen oder zu bestrafen. Menschenrechtsgruppen und die Vereinten Nationen stellten erhebliche Mängel bei den Ermittlungen zu mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Sicherheitskräfte fest. Zuweilen wenden die Sicherheitskräfte selbst übermäßige Gewalt an, um Proteste aufzulösen (USDOS 11.3.2020), oder verabsäumen es in einzelnen Fällen, Opfer vor Belästigung oder Gewalt zu schützen. Dies betrifft vor allem Hassverbrechen gegen ethnische Minderheiten, insbesondere Roma, LGBT-Personen, Feministinnen oder Personen, die von ihren Angreifern als „anti-ukrainisch“ wahrgenommen werden. Auch die Misshandlung von Festgenommenen durch die Polizei ist weiterhin ein Problem (USDOS 11.3.2020; vgl. AI 16.4.2020).
Während der Maidan-Proteste 2013/2014 kam es zu Menschenrechtsverletzungen durch die gewaltsame Unterdrückung der Proteste durch Sicherheitskräfte, mehr als 100 Menschen wurden getötet, hunderte verletzt. Die laufende Untersuchung zu diesen Verbrechen ist langsam und ineffektiv (AI 16.4.2020). Es wurden dennoch einige Fortschritte erzielt, 422 Menschen wurden angeklagt, 52 verurteilt und 9 davon mit einer Gefängnisstrafe belegt. Die Gesellschaft fordert jedoch, dass auch diejenigen, die die Befehle zur Tötung gaben, zur Rechenschaft gezogen werden, und nicht nur jene, die diesen Befehlen folgten (BTI 2020).
In den letzten Jahren wurden u.a. Reformen im Bereich der Polizei durchgeführt (AA 29.2.2020). Das sichtbarste Ergebnis der ukrainischen Polizeireform ist die Gründung der Nationalen Polizei nach europäischen Standards, mit starker Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, als von der Politik grundsätzlich unabhängiges Exekutivorgan. Mit November 2015 ersetzte die Nationale Polizei offiziell die bestehende und aufgrund von schweren Korruptionsproblemen in der Bevölkerung stark diskreditierte „Militsiya“. Alle Mitglieder der Militsiya hatten grundsätzlich die Möglichkeit, in die neue Truppe aufgenommen zu werden, mussten hierfür jedoch einen „Re-Attestierungsprozess“ samt umfangreichen Schulungsmaßnahmen und Integritätsprüfungen durchlaufen. Im Oktober 2016 verkündete die damalige Leiterin der Nationalen Polizei den erfolgreichen Abschluss dieses Prozesses, in dessen Zuge 26% der Polizeikommandanten im ganzen Land entlassen, 4.400 Polizisten befördert und im Gegenzug 4.400 herabgestuft wurden. Zentrale Figur der Polizeireform war die ehemalige georgische Innenministerin Khatia Dekanoidze, die jedoch am 14. November 2016 aufgrund des von ihr bemängelnden Reformfortschrittes, zurücktrat. Zu ihrem Nachfolger wurde, nach einem laut Einschätzung der EU Advisory Mission (EUAM) offenen und transparenten Verfahren, im Februar 2017 Serhii Knyazev bestellt. Das Gesetz „Über die Nationalpolizei“ sieht eine Gewaltenteilung zwischen dem Innenminister und dem Leiter der Nationalen Polizei vor. Der Innenminister ist ausschließlich für die staatliche Politik im Rechtswesen zuständig, der Leiter der Nationalen Polizei konkret für die Polizei. Dieses europäische Modell soll den Einfluss des Ministers auf die operative Arbeit der Polizei verringern. Dem Innenministerium unterstehen seit der Reform auch der Staatliche Grenzdienst, der Katastrophendienst, die Nationalgarde und der Staatliche Migrationsdienst. Festzustellen ist, dass der Innenminister in der Praxis immer noch die Arbeit der Polizei beeinflusst und die Reform somit noch nicht vollständig umgesetzt ist. Das nach dem Abgang von Khatia Dekanoidze befürchtete Zurückrollen diverser erzielter Reformen, ist laut Einschätzung der EUAM, jedenfalls nicht eingetreten. Das im Juni 2017 gestartete Projekt „Detektive“ – Schaffung polizeilicher Ermittler/Zusammenlegung der Funktionen von Ermittlern und operativen Polizeieinsatzkräften, spielt in den Reformen ebenfalls eine wichtige Rolle. Wie in westeuropäischen Staaten bereits seit langem praktiziert, soll damit ein- und derselbe Ermittler für die Erhebung einer Straftat, die Beweisaufnahme bis zur Vorlage an die Staatsanwaltschaft zuständig sein. Bislang sind in der Ukraine, wie zu Sowjetzeiten, immer noch die operative Polizei für die Beweisaufnahme und die Ermittler für die Einreichung bei Gericht zuständig. Etwas zögerlich wurde auch die Schaffung eines „Staatlichen Ermittlungsbüros (SBI)“ auf den Weg gebracht und mit November 2017 ein Direktor ernannt. Das SBI hat die Aufgabe, vorgerichtliche Erhebungen gegen hochrangige Vertreter des Staates, Richter, Polizeikräfte und Militärangehörige durchzuführen, sofern diese nicht in die Zuständigkeit des Nationalen Antikorruptions-Büros (NABU) fallen. Die Auswahl der Mitarbeiter ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Mit Unterstützung der EU Advisory Mission (EUAM) wurde 2018 auch eine „Strategie des Innenministeriums bis 2020“ sowie ein Aktionsplan entwickelt (ÖB 2.2019). Kritiker bemängeln, dass bei den Reformen der Strafverfolgung ab 2015 systemische Fragen im Innenministerium und im Strafrechtssystem nicht behandelt wurden, und dass sich das weit verbreitete kriminelle Verhalten von Polizisten, Ermittlern und Staatsanwälten fortsetzt bzw. sich in einigen Fällen sogar verschlechtert hat (AC 30.6.2020).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (29.2.2020): Bericht über die asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine (Stand: Januar 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2027985/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%Bcber_die_asyl-_und_abschiebungsrelevante_Lage_in_der_Ukraine_%28Stand_Januar_2020%29%2C_29.02.2020.pdf, Zugriff 19.5.2020
- AC – Atlantic Council (30.6.2020):Ukraine’s powerful Interior Minister Avakov under fire over police reform failures, https://www.atlanticcouncil.org/blogs/ukrainealert/ukraines-powerful-interior-minister-avakov-under-fire-over-police-reform-failures/, Zugriff 6.7.2020
- AI – Amnesty International (16.4.2020): Human Rights in Eastern Europe and Central Asia - Review of 2019 - Ukraine [EUR 01/1355/2020], https://www.ecoi.net/de/dokument/2028174.html, Zugriff 20.5.2020
- BTI – Bertelsmann Transformation Index (2020): Ukraine, Country Report 2020, https://www.bti-project.org/de/berichte/country-report-UKR.html, Zugriff 22.5.2020
- ÖB - Österreichische Botschaften (2.2019): Asylländerbericht Ukraine, https://www.ecoi.net/en/file/local/2003113/UKRA_%C3%96B-Bericht_2018.doc, Zugriff 19.5.2020
- USDOS – US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 - Ukraine, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026415.html, Zugriff 19.5.2020
Folter und unmenschliche Behandlung
Letzte Änderung: 09.07.2020
Folter sowie grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Bestrafungen, die gegen die Menschenwürde verstoßen, sind gemäß Artikel 28 der ukrainischen Verfassung verboten. Die Ukraine ist seit 1987 Mitglied der UN-Anti-Folter-Konvention (CAT) und seit 1997 Teilnehmerstaat der Anti-Folter-Konvention des Europarats (AA 29.2.2020).
Trotzdem gibt es Berichte, dass Strafverfolgungsbehörden an solchen Misshandlungen beteiligt waren. Obwohl Gerichte keine unter Zwang zustande gekommene Geständnisse mehr als Beweismittel verwenden, gibt es Berichte über von Exekutivbeamten durch Folter erzwungene Geständnisse. Die Misshandlung von Gefangenen durch die Polizei blieb ein weit verbreitetes Problem. In einem Bericht des UN-Sonderberichterstatters über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe von Jänner 2019 heißt es, dass der Sonderberichterstatter zahlreiche Vorwürfe von Folter und Misshandlung durch die Polizei erhalten habe, darunter auch gegen Jugendliche, fast immer während der Festnahme und des Verhörs. Die meisten Insassen berichteten, dass die Untersuchungsbeamten eine solche Behandlung einsetzten, um sie einzuschüchtern oder sie zu zwingen, ein angebliches Verbrechen zu gestehen. Der Sonderberichterstatter stellte ferner fest, dass es Rechtsanwälten, Polizeibeamten, Staatsanwälten und Richtern an grundlegenden Kenntnissen mangelte, um Anschuldigungen von Folter und Misshandlung angemessen zu untersuchen und zu dokumentieren. Folglich erhielten Opfer von Folter oder anderen Misshandlungen im Allgemeinen keine Hilfe von staatlichen Behörden. Nach Angaben der Charkiwer Menschenrechtsgruppe berichteten diejenigen, die bei der Generalstaatsanwaltschaft Folterbeschwerden eingereicht hatten, dass Strafverfolgungsbeamte sie oder ihre Angehörigen eingeschüchtert und gezwungen hätten, ihre Beschwerden zurückzuziehen. Menschenrechtsorganisationen und Medien berichteten über Todesfälle aufgrund von Folter oder Vernachlässigung durch Polizei oder Gefängnispersonal (USDOS 11.3.2020).
Im von der Regierung kontrollierten Gebiet erhielt das Office of the UN High Commissioner for Human Rights Monitoring Mission in Ukraine (HRMMU) weiterhin Vorwürfe, dass der SBU Personen sowohl in offiziellen als auch in inoffiziellen Haftanstalten festhielt und missbrauchte, um Informationen zu erhalten und Verdächtige unter Druck zu setzen, damit sie gestehen oder kooperieren. Die Zahl der gemeldeten Fälle war erheblich geringer als in den vergangenen Jahren. HRMMU vermutete, dass solche Fälle zu wenig gemeldet wurden, weil die Opfer oft in Haft blieben oder aus Angst vor Vergeltungsmaßnahmen oder aus mangelndem Vertrauen in das Justizsystem Angst hatten, Missbrauch anzuzeigen. Dem HRMMU zufolge gibt der Mangel an wirksamen Ermittlungen in zuvor dokumentierten Fällen von Folter und körperlicher Misshandlung nach wie vor Anlass zur Sorge (USDOS 11.3.2020). Der ukrainische Sicherheitsdienst SBU bestreitet, trotz anderslautender Erkenntnisse des HRMMU, einige wenige Personen in der Konfliktregion unbekannten Orts festzuhalten und verweist auf seine gesetzlichen Ermittlungszuständigkeiten. In mindestens einem Fall haben die Strafverfolgungsbehörden bisher Ermittlungen wegen illegaler Haft gegen Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden aufgenommen. HRMMU, das sonst in regierungskontrollierten Gebieten problemlos Zugang zu Inhaftierten erhält, beklagte