Entscheidungsdatum
20.09.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
I411 2171398-1/17E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Robert POLLANZ über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Nigeria, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl Regionaldirektion Wien vom 18.08.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 01.09.2021 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer stellte nach illegaler Einreise am 25.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er in der am 27.05.2015 durchgeführten Erstbefragung damit begründete, wegen der Gesetze gegen Homosexualität Angst vor einer Strafe gehabt zu haben und aus seiner Heimat fliehen habe müssen.
2. Nach Durchführung einer Einvernahme am 24.06.2015, in welcher der Beschwerdeführer anführte, in Ungarn einen Asylantrag gestellt zu haben, wies das Bundesamt mit Bescheid vom 30.06.2015, Zl. XXXX , den Antrag auf internationalen auf internationalen Schutz vom 25.05.2015 als unzulässig zurück, stellte fest, dass Ungarn für die Prüfung des Antrags zuständig ist und ordnete die Außerlandesbringung des Beschwerdeführers an.
3. Der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 30.09.2015, GZ: W168 2110657-1/7E, stattgegeben und der bekämpfte Bescheid behoben.
4. Daraufhin wurde der Beschwerdeführer am 01.06.2017 vom Bundesamt niederschriftlich einvernommen. In dieser Einvernahme erstattete er folgendes Fluchtvorbringen;
„Am 17. Mai 2013, es war ein Freitag, als ich bei einem Freund zu Besuch war. Die Familie meines Freundes lebt in Polygamie (das heißt 1 Ehemann und zwei Frauen). Ich war mit meinem Freund auf seinem Zimmer als der Vater anklopfte, die Tür aufmache und uns sah, da fingen die Probleme an. Er begann uns anzuschreien und abwatschen. Er schrie so laut, dass es auch die Nachbarn mitbekamen. Auch die Nachbarn fingen an uns anzuschreien und uns niederzuschlagen. Sie haben uns damit gedroht uns zu töten, weil es in diesem Land und dieser Community. Meine Hand wurde gebrochen.
Sie gingen weiter zu meinen Onkel, XXXX , und beschwerten sich darüber was ich getan habe. Mein Onkel rief einen Freund bei der Polizei, ein DPO, an. Die Polizei kam uns zu retten, dabei gaben die Polizei auch Warnschüsse ab. Als die Polizei kam hatten sie schon uns in Reifen gesteckt, um uns anzuzünden. Die Polizei war aber in der Lage uns zu retten und uns mit auf Revier zu nehmen. Wir verbrachten zwei Nächte auf dem Polizeirevier. Mein Onkel bestach den genannten Polizisten, den DPO, damit mein Onkel mich mitnehmen können und meine Wunden versorgen kann.
Der Polizeibeamte sagt zu meinem Onkel, dass es gut ist, dass er mich zu sich nimmt. Ansonsten müsste die Polizei eine Anzeige erstatten und ich würde strafrechtlich verfolgt werden. Die Polizei entließ mich und meinen Freund am Sonntagabend. Ich verbrachte die Nacht im Haus meines Onkels. Am nächsten Morgen gingen die Ältesten unserer Gemeinde zum Polizeirevier, als sie feststellten, dass wir nicht mehr im Polizeigewahrsam waren, gingen sie zum Haus meiner Mutter. Sie brachen die Tür ein, sie suchten nach mir. Als sie mich im Haus meiner Mutter nicht finden konnten, starteten sie eine Suchaktion innerhalb der Community nach mir. Danach brannten die jüngeren Männer aus der Community das Haus meiner Mutter nieder. Am Dienstagmorgen begann mein Onkel alles arrangieren, damit ich aus dem Dorf ausreise. Er rief einen Freund in Lagos an. Mein Onkel fuhr mich dann zu einem Park, von wo ich aus mit dem Bus nach Lagos reiste, ich habe bei dem Freund vom Onkel im Lagos Unterkunft genommen. In der Zwischenzeit war meine Hand ziemlich angeschwoilen. Der DPO der Polizei riet meinen Onkel dazu mich außerhalb des Landes zu bringen, am besten nach Ruanda, mit der Begründung, dass ich in Nigeria verfolgt werden kann. Zunächst versucht mein Onkel eine Ausreise in die USA für mich zu organisieren, das hätte jedoch viel zu lange gedauert und wäre sehr schwierig geworden, deswegen haben wir die Entscheidung getroffen in die Türkei auszureisen. Ich reise nicht nach Ruanda nicht, weil ich ein kleines Kind war.
Ich weiß nicht, wie sie draufgekommen sind, dass ich in Lagos war. Deshalb war die Anweisung meines Onkels, die das ich schnell ausreisen muss. Als ich in die Türkei ausreiste hatte ich noch ein Verband auf meiner Hand. Ich weiß nicht was aus meinem Freund geworden ist, auch wenn ich meinen Onkel frage, sagt er, dass er nicht weiß was mit meinem Freund passiert.“
5. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 18.08.2017, wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten sowie hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Nigeria als unbegründet ab (Spruchpunkt I. und II.). Zugleich erteilte sie dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG (Spruchpunkt III. erster Satz), erließ gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt III. zweiter Satz) und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Nigeria zulässig ist (Spruchpunkt III. dritter Satz).
Ferner setzte das Bundesamt die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt IV.).
Begründend wurde ausgeführt, dass das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers, wonach er homosexuell orientiert sei und in Nigeria verfolgt werde, nicht glaubhaft sei.
6. Gegen diesen Bescheid richtet sich die im vollen Umfang erhobene Beschwerde vom 07.09.2017, in welcher die Durchführung einer Verhandlung beantragt und vorgebracht wird, dass die Behörde feststellen hätte müssen, dass der Beschwerdeführer homosexuell ist und er aufgrund seiner sexuellen Orientierung Verfolgung in Nigeria zu befürchten hat. Die Behörde habe im angefochtenen Bescheid nicht schlüssig und nachvollziehbar begründet, weshalb das Vorbringen des Beschwerdeführers unglaubwürdig sein soll. Zudem seien die von der belangten Behörde herangezogenen Länderfeststellungen teilweise beschönigend und gäben kein realistisches Bild der tristen Situation für Homosexuell in Nigeria wieder.
7. Mit Schriftsatz vom 20.09.2017 legte das Bundesamt dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor.
8. Am 01.09.2021 führte das Bundesverwaltungsgericht die mündliche Verhandlung durch.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der oben angeführte Verfahrensgang wird als Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende Feststellungen getroffen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der volljährige Beschwerdeführer ist ledig, kinderlos, Staatsangehöriger von Nigeria und bekennt sich zum christlichen Glauben. Seine Identität steht nicht fest.
Er ist gesund und arbeitsfähig.
Der Beschwerdeführer besuchte in Nigeria 6 Jahre lang die Grundschule und im Anschluss daran 2 Jahre lang die Mittelschule bis zum Jahr 2008. Anschließend arbeitete er im Modegeschäft seiner Mutter. Seine Eltern sind bereits verstorben. Sein Vater war Staatsangehöriger von Ruanda und seine Mutter war Staatsangehörige von Nigeria.
Im August 2013 reiste er legal mit einem gültigen nigerianischen Reisedokument aus Nigeria in die Türkei aus und gelangte daraufhin nach Bulgarien, wo er erstmals um Asyl ansuchte und sich bis Februar 2015 aufhielt. Bevor er nach Österreich einreiste, stellte er Anfang Mai 2015 in Ungarn einen Antrag auf internationalen Schutz. Zumindest seit dem 25.05.2015 bzw. dem Tag der Asylantragstellung in Österreich hält er sich im Bundesgebiet auf.
Er ging in Österreich zu keinem Zeitpunkt einer legalen Erwerbstätigkeit nach und bezog bislang Leistungen von der staatlichen Grundversorgung.
Der Beschwerdeführer weist in Österreich keine maßgeblichen Integrationsmerkmale in sprachlicher, beruflicher und kultureller Hinsicht auf und verfügt im Bundesgebiet über keine Verwandten und über keine maßgeblichen privaten und familiären Beziehungen.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich vorbestraft. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX vom 12.09.2018 zu XXXX wurde er wegen dem Vergehen des Suchtgifthandels nach §§ 28a Abs 1 5 Fall, 28a Abs 3 1 Fall SMG zu einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten, davon 8 Monate unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen, verurteilt.
1.2. Zu den Fluchtmotiven des Beschwerdeführers:
Entgegen seinem Fluchtvorbringen konnte nicht festgestellt werden, dass er homosexuell ist und ihm deshalb in Nigeria die Gefahr einer Verfolgung droht.
Im Fall seiner Rückkehr in den Herkunftsstaat Nigeria wird der Beschwerdeführer mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keiner Verfolgungsgefahr aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung ausgesetzt sein. Es liegen auch keine sonstigen Gründe vor, die einer Rückkehr oder Rückführung (Abschiebung) in den Herkunftsstaat Nigeria entgegenstünden.
Es konnte auch nicht festgestellt werden, dass er bei seiner Rückkehr in den Herkunftsstaat aus in seiner Person gelegenen Gründen oder auf Grund der allgemeinen Lage vor Ort der realen Gefahr einer Verletzung seiner durch Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur EMRK geschützten Rechte oder als Zivilperson einer ernsthaften Bedrohung seines Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes im Herkunftsstaat ausgesetzt wäre.
1.3. Zur (auszugsweise wiedergegebenen) Lage im Herkunftsstaat (mit Angabe der Quellen), soweit sie für den vorliegenden Beschwerdefall von Relevanz sind:
2 COVID-19
Letzte Änderung: 23.11.2020
Die COVID-19-Situation in Nigeria ist nach wie vor angespannt. Die veröffentlichten absoluten Zahlen an bisherigen Infizierten (rund 62.000) geben angesichts der geringen Durchtestung der 200-Millionen-Bevölkerung ein verzerrtes Bild. Aussagekräftiger ist der Anteil der positiven Fälle gemessen an der Zahl der durchgeführten Tests. Dieser lag im Oktober 2020 landesweit bei mehr als drei Prozent, in der Metropole Lagos hingegen bei etwa 30 Prozent. Die Zahlen berücksichtigen noch nicht die Auswirkung der #EndSARS-Proteste, bei denen von den Demonstrierenden praktisch keine Schutzvorkehrungen gegen COVID-19 getroffen worden sind. Ein Anstieg an positiven Fällen ist hauptsächlich in der Südwestzone des Landes zu beobachten. In einigen Bundesstaaten herrscht überhaupt Skepsis an der Notwendigkeit von COVID-19- Maßnahmen. Die allgemeine Risikowahrnehmung und die Nachfrage nach Tests sind gering (ÖB 10.2020).
In Nigeria gibt es wie in anderen afrikanischen Ländern relativ wenig belegte COVID-19 Infizierte. Dies kann auch damit zusammenhängen, dass vergleichsweise wenig Tests durchgeführt werden (Africa CDC 13.10.2020). Anfang September 2020 wurde die Phase 3 der Restriktionen im Zusammenhang mit der Coronakrise in Kraft gesetzt. Die Ausgangssperre gilt im ganzen Land nun von Mitternacht bis vier Uhr. Meetings bis zu maximal 50 Personen sind gestattet. In Lagos dürfen Restaurants, Klubs und Kirchen etc. unter bestimmten Auflagen öffnen (WKO 25.9.2020).
Seit 2020 ist die nigerianische Wirtschaft aufgrund des erneuten Verfalls des Rohölpreises sowie der massiven wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie wieder geschwächt. Wie hoch der wirtschaftliche Schaden sein wird, ist bislang noch nicht abzuschätzen (GIZ 6.2020). Für 2020 wird aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf Nigeria und der drastisch gesunkenen Erdölpreise mit einer Schrumpfung des nigerianischen BIP um 4,4 Prozent gerechnet. In der 2. Jahreshälfte 2020 ist jedoch ein Wiederanziehen der Konjunktur feststellbar und für 2021 wird ein Wachstum von 2,2 Prozent erwartet (WKO 14.9.2020).
Anm.: Diese Informationen zu COVID-19 sind zum Teil ebenfalls in den Kapiteln Bewegungs-freiheit, medizinische Versorgung und Grundversorgung eingepflegt.
Quellen:
• AfricaCDC - Africa Centres for Disease Control and Prevention (13.10.2020): Coronavirus Disease 2019 (COVID-19) - Latest updates on the COVID-19 crisis from Africa CDC, https://africacdc.org/covid-19/, Zugriff 13.10.2020
• GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (6.2020): Wirtschaft & Entwicklung, https://www.liportal.de/nigeria/wirtschaft-entwicklung/, Zugriff 5.10.2020
• ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2020): Asylländerbericht Nigeria, htt- ps://www.ecoi.net/en/file/local/2021612/NIGR_%C3%96B_Bericht_2019_10.pdf, Zugriff 18.11.2020
• WKO - Wirtschaftskammer Österreich (25.9.2020): Coronavirus: Situation in Nigeria - Aktuelle Informationen und Info-Updates, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/co ronavirus-info-nigeria.html , Zugriff 13.10.2020
• WKO - Wirtschaftskammer Österreich (14.9.2020): Die nigerianische Wirtschaft, https: //www.wko.at/service/aussenwirtschaft/die-nigerianische-wirtschaft.html, Zugriff 13.10.2020
4 Sicherheitslage
Letzte Änderung: 23.11.2020
Es gibt in Nigeria keine klassischen Bürgerkriegsgebiete oder -parteien (AA 16.1.2020). Im Wesentlichen lassen sich mehrere Konfliktherde unterscheiden: Jener von Boko Haram im Nordosten; jener zwischen Hirten und Bauern im Middle-Belt (AA 16.1.2020; vgl. FH 4.3.2020); sowie Spannungen im Nigerdelta (AA 16.1.2020; vgl. EASO 11.2018a) und Gewalt im Bundesstaat Zamfara (EASO 11.2018a; vgl. Garda 23.6.2020). Außerdem gibt es im Südosten zwischen der Regierung und Igbo-Gruppen, die für ein unabhängiges Biafra eintreten (EASO 11.2018a; vgl. AA16.1.2020), sowie zwischen Armee und dem Islamic Movement in Nigeria (IMN) Spannungen (EASO 11.2018a) bzw. kommt es seit Jänner 2018 zu regelmäßigen Protesten des IMN in Abuja und anderen Städten, die das Potential haben, in Gewalt zu münden (UKFCDO 26.9.2020). Beim Konflikt im Nordosten handelt es sich um eine grenzüberschreitende jihadistische Insur- genz. Im „Middlebelt" kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen um knapper werdende Ressourcen zwischen Hirten und Bauern. Bei den Auseinandersetzungen im Nigerdelta geht es sowohl um Konflikte zwischen regionalen militanten Gruppen einerseits und der Staatsgewalt andererseits, als auch um Rivalitäten zwischen unterschiedlichen lokalen Gemeinschaften. Im Südosten handelt es sich (noch) um vergleichsweise beschränkte Konflikte zwischen einzelnen sezessionistischen Bewegungen und der Staatsgewalt. Die Lage im Südosten des Landes („Biafra") bleibt jedoch latent konfliktanfällig. Die separatistische Gruppe Indigenous People of Biafra (IPOB) ist allerdings derzeit in Nigeria nicht sehr aktiv (AA 16.1.2020).
Die Kriminalitätsrate in Nigeria ist sehr hoch, die allgemeine Sicherheitslage hat sich in den vergangenen Jahren laufend verschlechtert. In Nigeria können in allen Regionen unvorhersehbare lokale Konflikte aufbrechen. Ursachen und Anlässe der Konflikte sind meist politischer, wirtschaftlicher, religiöser oder ethnischer Art. Insbesondere die Bundesstaaten Zamfara, westl. Taraba und der östl. Teil von Nassarawa, das nördliche Sokoto und die Bundesstaaten Plateau, Kaduna, Benue, Niger und Kebbi sind derzeit von bewaffneten Auseinandersetzungen bzw. innerethnischen Konflikten betroffen. Weiterhin bestimmen immer wieder gewalttätige Konflikte zwischen nomadisierenden Viehzüchtern und sesshaften Farmern sowie gut organisierten Banden die Sicherheitslage. Demonstrationen und Proteste sind insbesondere in Abuja und Lagos, aber auch anderen großen Städten möglich und können zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führen. Im Juli/August 2019 forderten diese in Abuja auch wiederholt Todesopfer (AA 8.10.2020).
Anfang Oktober 2020 führte eine massive Protestwelle zur Auflösung der Spezialeinheit SARS am 11.10.2020 (Guardian 11.10.2020). Die Einheit wurde in SWAT (Special Weapons and Tactics Team) umbenannt und seine Beamten sollen einer zusätzlichen Ausbildung unterzogen werden. Die Protestwelle hielt jedoch an (DS 16.10.2020). Mit Stand 26.10.2020 war das Ausmaß der Ausschreitungen stark angestiegen. Es kam zu Gewalt und Plünderungen sowie zur Zerstörung von Geschäften und Einkaufszentren. Dabei waren bis zu diesem Zeitpunkt 69 Menschen ums Leben gekommen - hauptsächlich Zivilisten, aber auch Polizeibeamte und Soldaten (BBC News 26.10.2020).
In den nordöstlichen Landesteilen werden fortlaufend terroristische Gewaltakte, wie Angriffe und Sprengstoffanschläge von militanten Gruppen auf Sicherheitskräfte, Märkte, Schulen, Kirchen und Moscheen verübt (AA 8.10.2020).
In der Zeitspanne September 2019 bis September 2020 stechen folgende nigerianische Bun-desstaaten mit einer hohen Anzahl an Toten durch Gewaltakte besonders hervor: Borno (3.085), Kaduna (894), Zamfara (858), und Katsina (644). Folgende Bundesstaaten stechen mit einer niedrigen Zahl hervor: Gombe (3), Kebbi (4), Kano (6), Jigawa (15) (CFR 2020).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019), https://www.ecoi.net/en/file/lo- cal/2025287/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_- abschieberelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Nigeria_%28Stand_September_- 2019%29%2C_16.01.2020.pdf, Zugriff 18.11.2020
• AA-Auswärtiges Amt (16.4.2020): Nigeria: Reise- und Sicherheitshinweise
(Teilreisewarnung), https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-n ode/nigeriasicherheit/205788#content_5,16.4.2020
• BBC News (26.10.2020): Nigeria protests: Police chief deploys ’all resources’ amid street violence, https://www.bbc.com/news/world-africa-54678345, Zugriff 28.10.2020
• CFR - Council on Foreign Relations (2020): Nigeria Security Tracker, https://www.cfr.org/ nigeria/nigeria-security-tracker/p29483 , Zugriff 8.10.2020
• DS - Der Standard (16.10.2020): Berüchtigte „Sars“-Polizeieinheit in Nigeria nach Protes-ten abgeschafft, https://www.derstandard.at/story/2000120951836/beruechtigte-sars-pol izeieinheit-in-nigeria-nach-protesten-abgeschafft, Zugriff 28.10.2020
• EASO - European Asylum Support Office (11.2018a): Country of Origin Information Report - Nigeria - Security Situation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001366/2018_EASO_C OI_Nigeria_SecuritySituation.pdf, Zugriff 16.4.2020
• FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2019 - Nigeria, https://www.ecoi .net/de/dokument/2035799.html , Zugriff 30.9.2020
• Garda - Gardaworld (23.6.2020): Nigeria: Gunmen attack village in Zamfara State on June 20, https://www.garda.com/crisis24/news-alerts/353501/nigeria-gunmen-attack-viNage-in -zamfara-state-on-june-20 , Zugriff 8.10.2020 (siehe „context“)
• Guardian, The (11.10.2020): Nigeria to disband Sars police unit accused of killings and brutality, https://www.theguardian.com/world/2020/oct/11/nigeria-to-disband-sars-police -unit-accused-of-killings-and-brutality, Zugriff 28.10.2020
• UKFCDO - United Kingdom Foreign, Commonwealth & Development Office (26.9.2020): Foreign travel advice - Nigeria, https://www.gov.uk/foreign-travel-advice/nigeria , Zugriff 8.10.2020
5 Rechtsschutz / Justizwesen
Letzte Änderung: 17.11.2020
Die Verfassung unterscheidet zwischen Bundesgerichten, Gerichten des Hauptstadtbezirks sowie Gerichten der 36 Bundesstaaten (AA 16.1.2020; ÖB 10.2019). Letztere haben die Befugnis, per Gesetz erstinstanzliche Gerichte einzusetzen (AA 16.1.2020). Daneben bestehen noch für jede der 774 LGAs eigene Bezirksgerichte (District Courts) (ÖB 10.2019). Bundesgerichte, die nur staatlich kodifiziertes Recht anwenden, sind der Federal High Court (Gesetzgebungsmaterie des Bundes, Steuer-, Körperschafts- und auch Verwaltungssachen), der Court of Appeal (Berufungssachen u.a. der State Court of Appeal und der State Sharia and Customary Court of Appeal) sowie der Supreme Court (Revisionssachen, Organklagen) (AA 16.1.2020). Für Militärangehörige gibt es eigene Militärgerichte (USDOS 11.3.2020).
Mit Einführung der erweiterten Scharia-Gesetzgebung in neun nördlichen Bundesstaaten sowie den überwiegend muslimischen Teilen dreier weiterer Bundesstaaten 2000/2001 haben die staatlichen Schariagerichte strafrechtliche Befugnisse erhalten, während sie zuvor auf das islamische Personenstandsrecht beschränkt waren (AA 16.1.2020). Laut Bundesverfassung wird die Verfassung und Zuständigkeit der Gerichte seit 1999 betreffend das anzuwendende Rechtssystem („Common Law" oder „Customary Law") durch Gesetze der Gliedstaaten festgestellt. Einzelne Bundesstaaten haben „Scharia-Gerichte" neben „Common Law"- und „Custo- mary Courts" geschaffen. Mehrere Bundesstaaten, einschließlich die gemischt-konfessionellen Bundesstaaten Benue und Plateau, haben auch Scharia-Berufungsgerichte eingerichtet (ÖB 10.2019).
Die Verfassung sieht Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz vor (AA 16.1.2020; vgl. FH 4.3.2020; ÖB 10.2019; USDOS 11.3.2020). In der Realität ist die Justiz allerdings der Einflussnahme von Exekutive und Legislative sowie einzelner politischer Führungspersonen ausgesetzt (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020; FH 4.3.2020). Vor allem auf Bundesstaats¬ und Bezirksebene (LGA) versuchen Politiker die Justiz zu beeinflussen (USDOS 11.3.2020). Die drei einander mitunter widersprechenden Rechtssysteme (ÖB 10.2019; vgl. BS 2020) sowie die insgesamt zu geringe personelle und finanzielle Ausstattung sowie mangelnde Ausbildung behindern die Funktionsfähigkeit des Justizapparats und machen ihn chronisch korruptionsanfällig (AA 16.1.2020; vgl. FH 4.3.2020; USDOS 11.3.2020; ÖB 10.2019; BS 2020). Trotz allem hat die Justiz in der Praxis ein gewisses Maß an Unabhängigkeit und Professionalität erreicht (FH 4.3.2020).
Eine willkürliche Strafverfolgung bzw. Strafzumessungspraxis durch Polizei und Justiz, die nach Rasse, Nationalität o. ä. diskriminiert, ist nicht erkennbar. Das bestehende System benachteiligt jedoch tendenziell Ungebildete und Arme, die sich weder von Beschuldigungen freikaufen noch eine Freilassung auf Kaution erwirken oder sich einen Rechtsbeistand leisten können. Zudem ist vielen eine angemessene Wahrung ihrer Rechte aufgrund von fehlenden Kenntnissen selbst elementarster Grund- und Verfahrensrechte nicht möglich (AA 16.1.2020). Gesetzlich vorgesehen sind prozessuale Rechte wie die Unschuldsvermutung, zeitnahe Information über die Anklagepunkte, das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren, das Recht auf einen Anwalt, das Recht auf ausreichende Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung, nicht gezwungen werden auszusagen oder sich schuldig zu bekennen, Zeugen zu befragen und das Recht auf Berufung. Diese Rechte werden jedoch nicht immer gewährleistet (USDOS 11.3.2020). Auch der gesetzlich garantierte Zugang zu einem Rechtsbeistand oder zu Familienangehörigen wird nicht immer ermöglicht (AA 16.1.2020).
Der Zugang zu staatlicher Prozesskostenhilfe ist in Nigeria beschränkt: Das Institut der Pflichtverteidigung wurde erst vor kurzem in einigen Bundesstaaten eingeführt. Lediglich in den Landeshauptstädten existieren NGOs, die sich zum Teil mit staatlicher Förderung der rechtlichen Beratung von Beschuldigten bzw. Angeklagten annehmen. Gerade in den ländlichen Gebieten gibt es jedoch zahlreiche Verfahren, bei denen Beschuldigte und Angeklagte ohne rechtlichen Beistand mangels Kenntnis ihrer Rechte schutzlos bleiben (AA 16.1.2020). Das Recht auf ein zügiges Verfahren wird zwar von der Verfassung garantiert, ist jedoch kaum gewährleistet. Dauerinhaftierungen ohne Anklage oder Urteil, die sich teils über mehrere Jahre hinziehen, sind weit verbreitet (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020). Entgegen gesetzlicher Vorgaben ist die Untersuchungshaft nicht selten länger als die maximal zu erwartende gesetzliche Höchststrafe des jeweils in Frage stehenden Delikts. Außerdem bleiben zahlreiche Häftlinge auch nach Verbüßung ihrer Freiheitsstrafen in Haft, weil ihre Vollzugsakten unauffindbar sind (AA 16.1.2020).
Im Allgemeinen hat der nigerianische Staat Schritte unternommen, um ein Strafverfolgungssystem zu etablieren und zu betreiben, im Rahmen dessen Angriffe von nicht-staatlichen Akteuren bestraft werden. Er beweist damit in einem bestimmten Rahmen eine Schutzwilligkeit und -fähigkeit, die Effektivität ist aber durch einige signifikante Schwächen eingeschränkt. Effektiver Schutz ist in jenen Gebieten, wo es bewaffnete Konflikte gibt (u.a. Teile Nordostnigerias, des Middle Belt und des Nigerdeltas) teils nicht verfügbar. Dort ist auch für Frauen, Angehörige sexueller Minderheiten und Nicht-Indigene der Zugang zu Schutz teilweise eingeschränkt (UKHO 3.2019).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019)
• BS - Bertelsmann Stiftung (2020): BTI 2020 - Nigeria Country Report, https://www.ecoi.n et/en/file/local/2029575/country_report_2020_NGA.pdf, Zugriff 18.5.2020
• FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2019 - Nigeria, https://www.ecoi .net/de/dokument/2035799.html , Zugriff 30.9.2020
• ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2019): Asylländerbericht Nigeria
• UKHO - United Kingdom Home Office (3.2019): Country Policy and Information Note - Nigeria: Actors of protection, https://assets.publishing.service.gov.uk/government/upload s/system/uploads/attachment_data/file/794316/CPIN_-_NGA_-_Actors_of_Protection.fi nal_v.1.G.PDF , Zugriff 29.4.2020
• USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practi- ces 2019 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026341.html , Zugriff 9.4.2020
12 Allgemeine Menschenrechtslage
Letzte Änderung: 23.11.2020
Die am 29.5.1999 in Kraft getretene Verfassung Nigerias enthält einen umfassenden Grund-rechtskatalog. Dieser ist zum Teil jedoch weitreichenden Einschränkungen unterworfen. Das in Art. 33 der Verfassung gewährte Recht auf körperliche Unversehrtheit wird z.B. unter den Vorbehalt gestellt, dass die betroffene Person nicht bei der Anwendung legal ausgeübter staatlicher Gewalt zur „Unterdrückung von Aufruhr oder Meuterei" ihr Leben verloren hat. In vielen Bereichen bleibt die Umsetzung der zahlreich eingegangenen menschenrechtlichen Verpflichtungen weiterhin deutlich hinter internationalen Standards zurück. Zudem wurden völkerrechtliche Verpflichtungen zum Teil nur lückenhaft in nationales Recht umgesetzt. Einige Bundesstaaten haben Vorbehalte gegen einige internationale Vereinbarungen geltend gemacht und verhindern regional eine Umsetzung. Selbst in Bundesstaaten, welche grundsätzlich eine Umsetzung befürworten, ist die Durchsetzung garantierter Rechte häufig nicht gewährleistet (AA 16.1.2020).
Die Menschenrechtssituation hat sich seit Amtsantritt einer zivilen Regierung 1999 zum Teil erheblich verbessert (AA 24.5.2019a; vgl. GIZ 9.2020a), vor allem im Hinblick auf die Freilassung politischer Gefangener und die Presse- und Meinungsfreiheit (GIZ 9.2020a). Allerdings kritisieren Menschenrechtsorganisationen den Umgang der Streitkräfte mit Boko Haram-Verdächtigen, der schiitischen Minderheit, Biafra-Aktivisten und Militanten im Nigerdelta. Schwierig bleiben die allgemeinen Lebensbedingungen, die durch Armut, Analphabetismus, Gewaltkriminalität, ethnische Spannungen, ein ineffektives Justizwesen und die Scharia-Rechtspraxis im Norden des Landes beeinflusst werden. Die Gleichstellung von Angehörigen sexueller Minderheiten wird gesetzlich verweigert, homosexuelle Handlungen sind mit schweren Strafen belegt (AA 24.5.2019a). Es gibt viele Fragezeichen hinsichtlich der Einhaltung der Menschenrechte, wie z.B. die Praxis des Scharia-Rechts (Tod durch Steinigung), Entführungen und Geiselnahmen im Nigerdelta, Misshandlungen und Verletzungen durch Angehörige der nigerianischen Polizei und Armee sowie Verhaftungen von Angehörigen militanter ethnischer Organisationen (GIZ 9.2020a). Zu den schwerwiegendsten Menschenrechtsproblemen gehören zudem u.a. rechtswidrige und willkürliche Tötungen, Verschwindenlassen, Folter und willkürliche Inhaftierung sowie substanzielle Eingriffe in die Rechte auf friedliche Versammlung und Vereinigungsfreiheit (USDOS 11.3.2020).
Die in den Jahren 2000/2001 eingeführten strengen strafrechtlichen Bestimmungen der Scharia in zwölf nördlichen Bundesstaaten führten zu Amputations- und Steinigungsurteilen. Die wenigen Steinigungsurteile wurden jedoch jeweils von einer höheren Instanz aufgehoben; auch Amputationsstrafen wurden in den vergangenen Jahren nicht vollstreckt (AA 16.1.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).
Die Regierung bekennt sich ausdrücklich zum Schutz der Menschenrechte, und diese sind auch in der Verfassung als einklagbar verankert. Dessen ungeachtet bleiben viele Probleme ungelöst, wie etwa Armut, Analphabetentum, Gewaltkriminalität, ethnische Spannungen, die Scharia-Rechtspraxis, Entführungen und Geiselnahmen sowie das Problem des Frauen- und Kinderhandels. Daneben ist der Schutz von Leib und Leben der Bürger gegen Willkürhandlungen durch Vertreter der Staatsmacht keineswegs verlässlich gesichert und besteht weitgehend Straflosigkeit bei Verstößen der Sicherheitskräfte und bei Verhaftungen von Angehörigen militanter Organisationen. Das hohe Maß an Korruption auch im Sicherheitsapparat und der Justiz wirkt sich negativ auf die Wahrung der Menschenrechte aus (ÖB 10.2019).
Es setzten sich nigerianische Organisationen wie z.B. CEHRD (Centre for Environment, Human Rights and Development), CURE-NIGERIA (Citizens United for the Rehabilitation of Errants) und HURILAWS (Human Rights Law Services) für die Einhaltung der Menschenrechte in ihrem Land ein. Auch die Gewerkschaftsbewegung Nigeria Labour Congress (NLC) ist im Bereich von Menschenrechtsfragen aktiv (GIZ 9.2020a).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019), https://www.ecoi.net/en/file/localZ2 025287/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschie berelevante_LageJn_der_Bundesrepublik_Nigeria_%28Stand_September_2019%29 %2C_16.01.2020.pdf, Zugriff 18.11.2020
• AA-Auswärtiges Amt (24.5.2019a): Nigeria - Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt .de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/-/205844http://www.auswaertiges-amt.de/DE /Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Nigeria/Innenpolitik_node.html , Zugriff 30.9.2020
• GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (9.2020a): Nigeria - Ge-schichte und Staat, http://liportal.giz.de/nigeria/geschichte-staat.html , Zugriff 30.9.2020
• ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2020): Asylländerbericht Nigeria, https://www.ec oi.net/en/file/local/2021612/NIGR_%C3%96B_Bericht_2019_10.pdf, Zugriff 18.11.2020
• USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practi- ces 2019 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026341.html , Zugriff 9.4.2020
19.4 Homosexuelle
Letzte Änderung: 23.11.2020
Homosexuelle Handlungen jeglicher Art sind - unabhängig vom Geschlecht der betroffenen Personen - sowohl nach säkularem Recht (AA 16.1.2020; vgl. GIZ 9.2020b) als auch nach Scharia-Recht (Körperstrafen bis hin zum Tod durch Steinigung in besonderen Fällen) strafbar (AA 16.1.2020; vgl. ÖB 10.2019). § 214 des Strafgesetzbuchs sieht 14 Jahre Haft für gleichgeschlechtliche Beziehungen vor (ÖB 10.2019). Der im Jänner 2014 verabschiedete Same Sex Marriage Prohibition Act (SSMPA) sieht zudem vor, dass homosexuelle Paare, die heiraten oder öffentlich ihre Zuneigung zeigen, mit Haft bestraft werden können. Das Gesetz sieht bis zu 14 Jahre Haft für Eheschließungen und zivilrechtliche Partnerschaften zwischen zwei Frauen oder zwei Männern vor (ÖB 10.2019; vgl. USDOS 11.3.2020, GIZ 9.2020b). Wer seine Liebesbeziehung zu einem Menschen des gleichen Geschlechts direkt oder indirekt öffentlich zeigt, soll dem Gesetz zufolge mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden können (ÖB 10.2019). Die gleiche Strafe ist für die Gründung und Unterstützung von Clubs, Organisationen oder anderen Einrichtungen für Schwule und Lesben vorgesehen (ÖB 10.2019; vgl. AA 16.1.2020). In den zwölf nördlichen Bundesstaaten, wo das islamische Recht in Kraft ist, können homosexuelle Handlungen mit Haft, Stockschlägen oder Tod durch Steinigung bestraft werden. Im Jahr 2019 wurden von Scharia-Gerichten keine solchen Urteile verhängt. In den vergangenen Jahren kam es zu Verurteilungen zu Stockschlägen (USDOS 11.3.2020).
Insgesamt gibt es keine systematische staatliche Verfolgung oder aktive Überwachung von Angehörigen sexueller Minderheiten (STDOK 15.9.2020; vgl. ÖB 10.2019, EMB A9./10.2019). Die Rechtsänderung durch den SSMPA hat bisher nicht zu einer flächendeckenden verschärften Strafverfolgung geführt (AA 16.1.2020). Es gibt nach keinem der betroffenen Gesetze Haftbefehle wegen Homosexualität. Über- oder Zugriffe durch die Polizei erfolgen zufällig oder nach Hinweisen. Es gibt nahezu keine Anklagen unter den spezifisch gegen Angehörige sexueller Minderheiten anwendbaren Gesetzen und noch weniger Verurteilungen. Die Anwendung von Strafgesetz und Scharia gestaltet sich schwierig, denn es gilt der Nachweis gleichgeschlechtlichen Sexualverkehrs. Auch unter dem SSMPA gab es kaum Anklagen. Üblicherweise verlaufen Gerichtsfälle unter diesen Gesetzen im Sand. Allerdings werden manchmal andere Vergehen vorgeschoben, um eine Verurteilung zu vereinfachen. Zudem schafft die Existenz der spezi¬fisch auf sexuelle Minderheiten anwendbaren Gesetze die Basis dafür, dass Personen von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren drangsaliert, bedroht oder erpresst werden können. Verhaftungen wiederum ziehen kaum jemals Anklagen nach sich, sondern dienen in erster Linie der Erpressung (STDOK 15.9.2020).
Im August 2018 wurden 57 Personen bei einer Hotelparty in Lagos verhaftet, wo die Polizei „homosexuelle Aktivitäten" feststellte. Ende 2019 lief das Verfahren noch (USDOS 11.3.2020). Ein Richter hat am 27.10.2020 den Fall abgewiesen, in dem 47 Männer [Anm.: Gleicher Fall, immer wieder leicht abweichende Angaben zur Verhafteten / Angeklagten] wegen der Erfüllung eines Straftatbestands der nigerianischen Anti-Homosexuellen-Gesetzgebung vor Gericht standen. Konkreter Grund für die Abweisung sei das Nichterscheinen der Staatsanwaltschaft vor Gericht gewesen, sowie deren Unfähigkeit, Zeugen zu benennen (BAMF 2.11.2020; vgl. NYT 27.10.2020). Nach nigerianischem Recht könnte der Fall zu einem späteren Zeitpunkt wiederaufgenommen werden (BAMF 2.11.2020).
Gerade im Rahmen der Verabschiedung des SSMPA 2014 kam es zu einer Zunahme an Fällen von Belästigung und Drohung. Es wurde von zahlreichen Verhaftungen berichtetet (USDOS 11.3.2020; vgl. WHER 9./10.2019). Denn der SSMPA hat zu einer weiteren Stigmatisierung von Lesben und Schwulen geführt. Diese werden oftmals von der Polizei schikaniert und misshandelt, sowie von der Bevölkerung gemobbt oder mittels Selbstjustiz verfolgt (GIZ 9.2020b). Das Gesetz dient dabei zur Rechtfertigung von Menschenrechtsverletzungen wie Folter, sexueller Gewalt, willkürlicher Haft, Erpressung von Geld sowie Verletzung von Prozessrechten (USDOS 11.3.2020).
Seit der Verabschiedung des SSMPA ist die Zahl an Gewaltvorfällen gegen Homosexuelle leicht zurückgegangen. Zugleich nahmen Fälle von Erpressungen (TIERS 12.2019; vgl. LN- GO C 9./10.2019), Eindringen in die Privatsphäre und willkürlichen Verhaftungen zu. Im Jahr 2019 ist es zu einer sprunghaften Zunahme von illegalen Anhaltungen und Durchsuchungen, zielgerichtetem Missbrauch sowie ungesetzlichen Verhaftungen gekommen (TIERS 12.2019). Aufgrund von Stigma und Tabu kommt es zu homophoben Vorfällen. Manchmal werden tatsächliche oder vermeintliche Angehörige sexueller Minderheiten gezielt in eine Falle gelockt. Vergehen reichen von Verhöhnungen über Entlassungen bis hin zu physischen Übergriffen (STDOK 15.9.2020). Die Zahl letzterer hat jedoch abgenommen (STDOK 15.9.2020; vgl. LNGO C 9./10.2019). Die überwiegende Mehrheit von Menschenrechtsverletzungen gegenüber Angehörigen sexueller Minderheiten geht von nicht-staatlichen Akteuren aus (STDOK 15.9.2020; vgl. EMB B 9./10.2019). Staatlicher Schutz ist diesbezüglich nicht zu erwarten (STDOK 15.9.2020; vgl. EMB B 9./10.2019, LNGO C 9./10.2019; WHER 9./10.2019). Zu Ermittlungen kommt es nicht. Dieses Phänomen betrifft aber nicht nur Angehörige sexueller Minderheiten, vielmehr ist der Standard der Polizei allgemein niedrig. Allerdings kommt es bei dieser Personengruppe mitunter sogar zur Nötigung oder Verhaftung des Opfers (STDOK 15.9.2020).
Eine andere Möglichkeit, Gerechtigkeit zu suchen, besteht in der Anrufung der National Human Rights Commission. Zwar bleibt der offizielle staatliche Diskurs bezüglich sexueller Minderheiten von Homophobie geprägt. Trotzdem gibt es in staatlichen Bereichen Anknüpfungspunkte - v.a. im Gesundheitsbereich und eben bei der Nationalen Menschenrechtskommission (NHRC). Positive Trends sind hier sichtbar im Bereich der Kooperation mit der NHRC und der Anerkennung von Menschenrechtsverletzungen durch diese Behörde (STDOK 15.9.2020).
Die Zustimmung der Bevölkerung zum SSMPA und anderen Strafmaßnahmen gegenüber sexuellen Minderheiten ist immer noch hoch, doch ist diese zugleich innerhalb weniger Jahre auch drastisch gesunken. Immer mehr Menschen sind zudem bereit, ein homosexuelles Familienmitglied zu akzeptieren. Mit vermehrter Toleranz sinkt die Radikalität der Homophobie. Allerdings ist die Gewaltschwelle in Nigeria generell niedrig. Während in den Medien eine negative Berichterstattung über sexuelle Minderheiten weiterhin vorherrscht, ist auch dort ein Trend zur Liberalisierung bemerkbar. Immer wieder kommt es nun zu sachlicher Berichterstattung, auch Filme zur Thematik wurden veröffentlicht (STDOK 15.9.2020).
Gesellschaftliche Diskriminierung bei offenem Zurschaustellen der sexuellen Orientierung ist vorhanden (ÖB 10.2019; vgl. AA 16.1.2020). Es kann nach wie vor riskant sein, sich gegenüber der Familie als homosexuell zu outen. Es kann zum Verstoßen, zum Einsperren, zu Gewalt oder zur Zuführung zu einer „Konversionstherapie“ („conversion therapy“) kommen. Allerdings sinkt die Ablehnung homosexueller Familienmitglieder und gleichzeitig steigt deren Akzeptanz (STDOK 15.9.2020).
In mehreren Großstädten können Angehörige und Communities sexueller Minderheiten freier leben. Zudem gibt es dort ein größeres Ausmaß an möglicher Unterstützung. Der maßgebliche Vorteil ist die Anonymität. Diese sinkt naturgemäß im ländlichen Raum - aber auch in den Slums der Großstädte. Es gibt aber auch konträre Meinungen, wonach nämlich die Gesellschaft in bestimmten ländlichen Gebieten toleranter sei, als in der Stadt. Die meisten dokumentierten Fälle von Menschenrechtsverletzungen betreffen Städte. Dies kann aber freilich auch damit zu tun haben, dass dort Vorfälle eher gemeldet und dokumentiert werden (STDOK 15.9.2020).
Die Community wird nicht überwacht (EMB A 9./10.2019). Die Polizei wird nicht aus eigenem Antrieb aktiv oder sucht gezielt nach Homosexuellen (EMB B 9./10.2019; vgl. WHER 9./10.2019). Sie verhaftet Verdächtige in erster Linie mit dem Ziel, Geld zu erpressen (EMB A9./10.2019; vgl EMB B 9./10.2019; LNGO C 9./10.2019; LHRL 9./10.2019). Grundsätzlich kommen Verdächtige nach der Zahlung einer „Kaution“ wieder frei (LNGO C 9./10.2019; vgl. LHRL 9./10.2019).
Auch für betroffene Homosexuellen-NGOs hatte der SSMPA kaum Auswirkungen, keine der Organisationen musste die Arbeit einstellen. Kurzfristig hatten einige Organisationen den Eindruck, von der Bildfläche verschwinden zu müssen. Das taten sie teilweise kurz, und als nichts passierte, tauchten sie wieder auf. Derzeit sieht man eine Professionalisierung bei den Organisationen. Zusammengefasst hatte das Gesetz kurz Auswirkungen auf NGOs, diese ist jedoch vorübergegangen. Eine Bedrohung ist allerdings immer noch spürbar (EMB B 9./10.2019). Homosexuellen-NGOs arbeiten weiter, die Netzwerke sind sogar ausgebaut und sichtbarer geworden. Die Zahl an Organisationen hat sich nahezu verdreifacht. Nur in seltenen - dokumentierten -Ausnahmefällen kam es zu staatlichen Maßnahmen gegen NGOs. Fördergelder werden weiterhin gezahlt und sind nach Angaben einer Quelle sogar gestiegen (STDOK 15.9.2020). Der SSMPA hat neben einer Steigerung der Belästigungen von Homosexuellen auch zu einer erhöhten Sichtbarkeit der homosexuellen Community geführt, und zu dem Bewusstsein in der Bevölkerung, das Homosexualität in Nigeria existiert (WHER 9./10.2019).
Lokale NGOs sammeln Informationen zu Menschenrechtsverletzungen an Angehörigen sexueller Minderheiten. Ein Beispiel für eine umfangreiche Datensammlung dieser Art stellt der jährlich aktualisierte Menschenrechtsbericht von TIERs und kooperierenden NGOs dar. Einige NGOs betreiben Hotlines bzw. stellen Telefonnummern für Notfälle zur Verfügung. Die meisten Quellen gehen davon aus, dass etwa in Polizeigewahrsam geratene Personen wissen, wen sie zur Unterstützung anrufen können. Die Unterstützung wird in erster Linie zwecks Kautionszahlung („bail out“) geleistet (STDOK 15.9.2020).
Einige Anwälte und Vereinigungen stellen Angehörigen sexueller Minderheiten Rechtshilfe zur Verfügung. Diese kommt u.a. beim sogenannten „bail out" aus dem Polizeigewahrsam zu tragen. Gelangt ein Fall tatsächlich vor Gericht, kommt es üblicherweise zur (juristischen) Intervention von NGOs (STDOK 15.9.2020). Verschiedene NGOs bieten Angehörigen sexueller Minderheiten rechtliche Beratung und Schulungen in Meinungsbildung, Medienarbeit und Bewusstseinsbildung in Bezug auf HIV an (USDOS 11.3.2020). Gemäß zweier Quellen organisieren die Menschenrechtsgruppen im Bereich MSM und WSW (das ist das Gros der männlichen und weiblichen Angehörige sexueller Minderheiten) nach Anruf Anwälte, die im Falle einer Verhaftung tätig werden. Diese Gruppen kooperieren fallweise miteinander (NJA 9/10.2019; vgl. EMB B 9/10.2019). Manchmal werden solche Organisationen auch direkt seitens der Polizei kontaktiert (EMB B 9/10.2019). Die Organisation WHER organisiert bei betroffenen WSW eine Freilassung auf Kaution (WHER 9/10.2019).
Es existieren Netzwerke von Menschenrechtsanwälten, welche - im Falle der Verhaftung eines Homosexuellen - unmittelbar kontaktiert werden und die Person gegen „Kaution" freizukaufen versuchen (IO1 20.11.2015). Allerdings gibt es nicht sehr viele Anwälte, die in diesem Bereich arbeiten wollen, da sie sich nicht exponieren wollen (NJA 9./10.2019) Homosexuellen-Netzwerke verschiedener Landesteile bzw. Städte stehen miteinander in Kontakt (LHRL 9./10.2019). Die Netzwerke und Organisationen bieten auch Unterstützung und Zufluchtsmöglichkeiten an (USDOS 11.3.2020). Es gibt einige Safe Houses aber die Finanzierung derselben ist nicht ausreichend (LNGO D 9/10.2019). Die NGO WHER betreibt etwa ein Safe House für Frauen, die beispielsweise durch Familie oder Polizei einem unmittelbaren Sicherheitsrisiko ausgesetzt sind (WHER 9/10.2019).
Netzwerke sexueller Minderheiten sind v.a. in großen Städten präsent und aktiv. Vormals gab es im ländlichen Bereich wenn, dann aus dem Gesundheitsbereich heraus aktive Organisationen. Nunmehr versuchen einige städtische Netzwerke ihre Arbeit auch auf ländliche Gegenden auszudehnen. Insgesamt hat sich die Reichweite der Netzwerke in den letzten Jahren verbessert. Sprachgrenzen und Infrastruktur stellen allerdings Barrieren dar. In den meisten Fällen wissen Angehörige sexueller Minderheiten, wen bzw. welche Organisation sie bei Bedarf kontaktieren können (STDOK 15.9.2020). Es gibt jedoch auch viele Fälle, in denen die Betroffenen nicht wissen, an wen sie sich wenden können (NJA 9./10.2019). Nach Angaben einer anderen Quelle sind die Homosexuellen-NGOs den Betroffenen üblicherweise zumindest in größeren Städten wie Lagos bekannt, in ländlichen Gegenden allerdings oftmals nicht. Dort wissen Betroffene nicht, an wen sie sich im Fall einer Verhaftung wenden können (EMB B 9./10.2019). Angehörige sexueller Minderheiten können sich durch einen Umzug in eine (andere) Stadt oder einen anderen Stadtteil aus einer direkten Risikolage befreien. Netzwerke und NGOs der Community unterstützen Personen bei diesem Schritt. In einigen Städten gibt es auch von NGOs organisierte Notquartiere (safe house / shelter). Es kommt mitunter auch zu „Zuweisungen“ bedrohter Personen von einer Stadt in eine andere (STDOK 15.9.2020).
Grundsätzlich ist weibliche Homosexualität weniger stark tabuisiert als männliche. WSW sind in geringerem Ausmaß von Verhaftungen und Menschenrechtsverletzungen bedroht und betroffen. Allerdings sind ihre Netzwerke schwächer. Mitunter kommt es zu Vergewaltigungen und anderen Formen von Gewalt. Manche Frauen werden von ihren Familien eingesperrt oder zwangsweise zu „Therapien“ gezwungen (STDOK 15.9.2020). Die Situation von homosexuellen Frauen ist einerseits besser als jene von homosexuellen Männern, da von einem Teil der Männer Homosexualität bei Frauen eher toleriert wird, andererseits sind Frauen in Nigeria generell mit Schwierigkeiten konfrontiert. Für homosexuelle Frauen ist es schwer denkbar, sich gegenüber Familie oder Freunden zu outen. Frauen - wie Männer - heiraten manchmal als Deckmantel für ihre Homosexualität, z.B. eine homosexuelle Frau einen homosexuellen Mann, um sozialen Normen zu genügen. Der SSMPA gilt für Frauen und Männer gleichermaßen. Im Strafrecht (penal code) und Scharia-Recht des Nordens sowie im Strafrecht (criminal code) im Süden gibt es eigene Passagen, die sich mit weiblicher Homosexualität befassen (WHER 9./10.2019).
Homosexuelle versuchen aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen und weit verbreiteter Vorbehalte in der Bevölkerung, ihre sexuelle Orientierung zu verbergen (AA 16.1.2020). Generell gehen viele Nigerianer mit ihrer Sexualität nicht offen um. Das gesellschaftliche Umfeld führt zur Geheimhaltung gleichgeschlechtlicher Beziehungen. Zahlreiche Angehörige sexueller Minderheiten sind „normal“ verheiratet. Dies dient einerseits der Verschleierung, andererseits dem Entsprechen sozialer Normen (STDOK 15.9.2020).
Sichtbarkeit im Auftreten und im Verhalten stellt einen Risikofaktor dar. Dies betrifft insbesondere Männer, die sich feminin geben, doch auch Frauen, die diesbezüglich gegen gesellschaftliche Normen verstoßen, können betroffen sein. Das gemeinsame Wohnen alleine stellt für gleichgeschlechtliche Personen kein Problem dar, dies ist in Nigeria-von der Wohnung bis hin zum Hotelzimmer - aus Kostengründen nicht unüblich. Der Einfluss des Alters oder des Familienstandes auf die Frage des persönlichen Risikos von Angehörigen sexueller Minderheiten ist unklar. Einen maßgeblichen Einfluss hat hingegen der sozio-ökonomische Status einer Person. Mit zunehmender Finanzkraft, Bildung und Vernetzung - also mit zunehmenden Privilegien - sinkt das Risiko gegen Null. Hauptrisikogruppe sind hingegen jene Personen, deren Alltag in einem Umfeld mit niedrigem sozialen und ökonomischem Status verankert ist (STDOK 15.9.2020).
Quellen:
• AA - Auswärtiges Amt (16.1.2020): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand September 2019), https://www.ecoi.net/en/file/localZ2 025287/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_%C3%BCber_die_asyl-_und_abschie berelevante_Lage_in_der_Bundesrepublik_Nigeria_%28Stand_September_2019%29 %2C_16.01.2020.pdf, Zugriff 18.11.2020
• BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (2.11.2020): Briefing Notes vom 2.11.2020, https://www.ecoi.net/en/file/local/2040309/briefingnotes-kw45-2020.pdf , Zugriff 18.11.2020
• EMB A - westliche Botschaft A (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation), Gesprächsprotokoll liegt bei der Staatendokumentation auf
• EMB B - westliche Botschaft B (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation), Gesprächsprotokoll liegt bei der Staatendokumentation auf
• GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (9.2020b): Nigeria - Ge¬sellschaft, https://www.liportal.de/nigeria/gesellschaft/, Zugriff 29.9.2020
• LHRL - Lokaler Menschenrechtsanwalt (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation), Gesprächsprotokoll liegt bei der Staatendokumentati¬on auf
• LNGO C - Repräsentantin der lokalen NGO C (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation), Gesprächsprotokoll liegt bei der Staatendo¬kumentation auf
• LNGO D - Repräsentant der lokalen NGO D (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation), Gesprächsprotokoll liegt bei der Staatendo¬kumentation auf
• IO1 - International Health and Development Research Organisation (20.11.2015): Inter¬view im Rahmen einer Fact Finding Mission, Gesprächsprotokoll liegt bei der Staatendo-kumentation auf
• NJA - Nigerianischer Journalist und Aktivist (9/10.2019): Interview im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFA Staatendokumentation), Gesprächsprotokoll liegt bei der Staatendo¬kumentation auf
• NYT - The New York Times (27.10.2020): Judge Dismisses Case Against 47 Men Charged Under Nigeria’s Anti-Gay Law, https://www.nytimes.com/2020/10/27/world/africa/Nigeria- anti-gay-law.html, Zugriff 9.11.2020
• ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2020): Asylländerbericht Nigeria, https://www.ec oi.net/en/file/local/2021612/NIGR_%C3%96B_Bericht_2019_10.pdf, Zugriff 18.11.2020
• STDOK - Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (15.9.2020): Zur Lage sexueller Minderheiten unter Hinzunahme der Informationen der FFM Nigeria 2019, Update der Analyse sexuelle Minderheiten vom 30.9.2016
• TIERS - The Initiative for Equal Rights (12.2019): 2019 Human Rights Violations Report, https://theinitiativeforequalrights.org/wp-content/uploads/2019/12/2019-Human-Rights-V iolations-Reports-Based-on-SOGI.pdf, Zugriff 23.4.2020
• USDOS - U.S. Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practi- ces 2019 - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026341.html , Zugriff 20.4.2020
• WHER - Repräsentantin der Women’s Health and Equal Rights Initiative (9/10.2019): Inter¬view im Rahmen der FFM Nigeria 2019 (BFAStaatendokumentation), Gesprächsprotokoll liegt bei der Staatendokumentation auf
22 Grundversorgung
Letzte Änderung: 17.11.2020
Nigeria ist die größte Volkswirtschaft Afrikas. Die Erdölproduktion ist der wichtigste Wirtschaftszweig des Landes. Aufgrund des weltweiten Verfalls der Erdölpreise rutschte Nigeria 2016 jedoch in eine schwere Rezession, die bis zum zweiten Quartal 2017 andauerte (GIZ 6.2020). 2018 wuchs die nigerianische Wirtschaft erstmals wieder um 1,9 Prozent (GIZ 6.2020; vgl. AA 24.5.2019c). Getragen wurde das Wachstum vor allem durch die positive Entwicklung von Teilen des Nicht-Öl-Sektors (Landwirtschaft, Industrie, Gewerbe). Seit 2020 ist die nigerianische Wirtschaft aufgrund des erneuten Verfalls des Rohölpreises sowie der massiven wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie wieder geschwächt. Wie hoch der wirtschaftliche Schaden sein wird, ist bislang noch nicht abschätzbar (GIZ 6.2020). Für 2020 wird aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf Nigeria und der drastisch gesunkenen Erdölpreise mit einer Schrumpfung des nigerianischen BIP um 4,4 % gerechnet. In der 2. Jahreshälfte 2020 ist jedoch ein Wiederanziehen der Konjunktur feststellbar und für 2021 wird ein Wachstum von 2,2 % erwartet (WKO 14.9.2020).
Etwa 80 Prozent der Gesamteinnahmen Nigerias stammen aus der Öl- und Gasförderung (AA 16.1.2019). Neben Erdöl verfügt das Land über z.B. Zinn, Eisen-, Blei- und Zinkerz, Kohle, Kalk, Gesteine, Phosphat - gesamtwirtschaftlich jedoch von geringer Bedeutung (GIZ 6.2020). Von Bedeutung sind hingegen der (informelle) Handel und die Landwirtschaft, welche dem größten Teil der Bevölkerung eine Subsistenzmöglichkeit bieten (AA 16.1.2020). Der Industriesektor (Stahl, Zement, Düngemittel) machte 2016 ca. 20 Prozent des BIP aus. Neben der Verarbeitung von Erdölprodukten werden Nahrungs- und Genussmittel, Farben, Reinigungsmittel, Textilien, Brennstoffe, Metalle und Baumaterial produziert. Industrielle Entwicklung wird durch die unzureichende Infrastruktur (Energie und Transport) behindert (GIZ 6.2020). Vor allem im Bereich Stromversorgung und Transport ist die Infrastruktur weiterhin mangelhaft und gilt als ein Haupthindernis für die wirtschaftliche Entwicklung (AA 24.5.2019c).
Über 60 Prozent (AA 24.5.2019c) bzw. nach anderen Angaben über 70 Prozent (GIZ 6.2020) der Nigerianer sind in der Landwirtschaft beschäftigt. Der Agrarsektor wird durch die Regierung stark gefördert. Dadurch hat etwa der Anteil an Großfarmen zugenommen (GIZ 6.2020; vgl. AA 24.5.2019c). Die unterentwickelte Landwirtschaft ist jedoch nicht in der Lage, den inländischen Nahrungsmittelbedarf zu decken (AA 24.5.2019c). Einerseits ist das Land nicht autark, sondern auf Importe - v.a. von Reis - angewiesen. Andererseits verrotten bis zu 40 Prozent der Ernten wegen fehlender Transportmöglichkeiten (ÖB 10.2019). Über 95 Prozent der landwirtschaftlichen Produktion kommt von kleinen Anbauflächen - in der Regel in Subsistenzwirtschaft (AA 24.5.2019c).
Historisch war Lebensmittelknappheit in fast ganz Nigeria aufgrund des günstigen Klimas und der hohen agrarischen Tätigkeit so gut wie nicht existent. In einzelnen Gebieten im äußersten Norden (Grenzraum zu Niger) gestaltet sich die Landwirtschaft durch die fortschreitende Desertifikation allerdings schwierig. Experten schließen aufgrund der Wetterbedingungen, aber auch wegen der Vertreibungen als Folge der Attacken durch Boko Haram Hungerperioden für die nördlichen, insbesondere die nordöstlichen Bundesstaaten nicht aus. In Ernährungszentren nahe der nördlichen Grenze werden bis zu 25 Prozent der unter fünfjährigen Kinder wegen starker Unterernährung behandelt. Insgesamt hat sich der Prozentsatz an Unterernährung in den nördlichen Staaten im Vergleich zu 2015 verbessert und liegt nun unter der Alarmschwelle von 10 Prozent. Gemäß Schätzungen von UNICEF unterliegen aber weiterhin zwei Millionen Kinder unter fünf Jahren in Nordnigeria einem hohen Risiko von schwerer akuter Unterernährung (ÖB 10.2019). Im Jahr 2019 benötigten von der Gesamtbevölkerung von 13,4 Millionen Menschen, die in den Staaten Borno, Adamawa und Yobe leben, schätzungsweise 7,1 Millionen Menschen humanitäre Hilfe. Davon sind schätzungsweise 80 Prozent Frauen und Kinder (IOM 17.3.2020).
Die Einkommen sind in Nigeria höchst ungleich verteilt (BS 2020; vgl. GIZ 9.2020b). 87 Millionen Nigerianer (40 Prozent der Bevölkerung) leben in absoluter Armut, d.h. sie haben weniger als 1 US-Dollar pro Tag zur Verfügung (GIZ 6.2020). 48 Prozent der Bevölkerung Nigerias bzw. 94 Millionen Menschen leben in extremer Armut mit einem Durchschnittseinkommen von unter 1,90 US-Dollar pro Tag (ÖB 10.2019). Die Armut ist in den ländlichen Gebieten größer als in den städtischen Ballungsgebieten (GIZ 9.2020b). Programme zur Armutsbekämpfung gibt es sowohl auf Länderebene als auch auf lokaler Ebene. Zahlreiche NGOs im Land sind in den Bereichen Armutsbekämpfung und Nachhaltige Entwicklung aktiv. Frauenorganisationen, von denen Women In Nigeria (WIN) die bekannteste ist, haben im traditionellen Leben Nigerias immer eine wichtige Rolle gespielt. Auch Nigerianer, die in der Diaspora leben, engagieren sich für die Entwicklung in ihrer Heimat (GIZ 6.2020).
Die Arbeitslosigkeit ist hoch, bei den Jugendlichen im Alter von 15 bis 35 wird sie auf über 50 Prozent geschätzt (GIZ 9.2020b). Offizielle Statistiken über Arbeitslosigkeit gibt es aufgrund fehlender sozialer Einrichtungen und Absicherung nicht. Geschätzt wird sie auf 20 bis 45 Prozent - in erster Linie unter 30-jährige - mit großen regionalen Unterschieden. Die Chancen, einen sicheren Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst, staatsnahen Betrieben oder Banken zu finden, sind gering, außer man verfügt über eine europäische Ausbildung und vor allem über Beziehungen (ÖB 10.2019). Verschiedene Programme auf Ebene der Bundesstaaten aber auch der Zentralregierung zielen auf die Steigerung der Jugendbeschäftigung ab (ÖB 10.2019; vgl. BS 2020).
Der Mangel an lohnabhängiger Beschäftigung führt dazu, dass immer mehr Nigerianer in den Großstädten Überlebenschancen im informellen Wirtschaftssektor als „self-employed" suchen. Die Massenverelendung nimmt seit Jahren bedrohliche Ausmaße an (GIZ 9.2020b). Nur Angestellte des öffentlichen Dienstes, des höheren Bildungswesens sowie von staatlichen, teilstaatlichen oder großen internationalen Firmen genießen ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit. Eine immer noch geringe Anzahl von Nigerianern (acht Millionen) ist im Pensionssystem (Contributory Pension Scheme) registriert (BS 2020).
Die Großfamilie unterstützt in der Regel beschäftigungslose Angehörige (ÖB 10.2019). Generell wird die Last für Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung vom Netz der Großfamilie und vom informellen Sektor getragen (BS 2020). Allgemein kann festgestellt werden, dass auch eine nach Nigeria zurückgeführte Person, die in keinem privaten Verband soziale Sicherheit findet, keiner lebensbedrohlichen Situation überantwortet wird. Sie kann ihre existenziellen Grundbedürfnisse aus selbstständiger Arbeit sichern, insbesondere dann, wenn Rückkehrhilfe angeboten wird (ÖB 10.2019).
Die täglichen Lebenshaltungskosten differieren regional zu st