TE Bvwg Beschluss 2021/10/29 W217 2247202-1

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Veröffentlicht am 29.10.2021
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Entscheidungsdatum

29.10.2021

Norm

BBG §40
BBG §41
BBG §45
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch


W217 2247202-1/3E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Julia STIEFELMEYER als Vorsitzende und die Richterin Mag. Ulrike LECHNER LL.M sowie den fachkundigen Laienrichter Franz GROSCHAN als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen, Landesstelle Niederösterreich, vom 16.07.2021, in der Fassung der Beschwerdevorentscheidung vom 24.09.2021, OB: XXXX , betreffend die Abweisung des Antrages auf Ausstellung eines Behindertenpasses in nicht-öffentlicher Sitzung beschlossen:

A)

In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


BEGRÜNDUNG:

I.       Verfahrensgang:

1.       Frau XXXX (in der Folge: „Beschwerdeführerin“) beantragte am 26.03.2021 beim Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (Kurzbezeichnung: Sozialministeriumservice; in der Folge belangte Behörde genannt) einlangend unter Beilage eines Konvolutes an medizinischen Befunden die Ausstellung eines Behindertenpasses sowie die Vornahme der Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel aufgrund einer Behinderung“.

1.1.    In der Folge holte die belangte Behörde ein Sachverständigengutachten von Frau Dr. XXXX , Ärztin für Allgemeinmedizin, ein mit dem Ergebnis, dass der Grad der Behinderung 40 v.H. betrage, wobei folgende Funktionseinschränkungen festgestellt wurden:

Lfd. Nr.

Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:

Begründung der Positionsnummer und des Rahmensatzes:

Pos.Nr.

Gdb %

1

Abnützungserscheinungen in beiden Schultergelenken mit Funktionseinschränkungen geringen bis mittleren Grades beidseitig und leichter Instabilität links

02.06.04

30

2

Zustand nach Implantation einer Knieprothese rechts mit Funktionseinschränkung mittleren Grades

02.05.20

30

3

Zustand nach Implantation einer Hüftprothese links mit Funktionseinschränkung geringen Grades

Oberer Rahmensatz bei prothetischer Versorgung

02.05.07

20

4

Harninkontinenz
Unterer Rahmensatz, da geringgradig und kein Hinweis auf erhebliche Restharnbildung

08.01.06

10

1.2.    Mit Schreiben vom 28.06.2021 wurde der Beschwerdeführerin Gelegenheit gegeben, zum Ergebnis des Ermittlungsverfahrens Stellung zu nehmen. Fristgerecht brachte sie im Wesentlichen vor, sie sei auf ein KFZ angewiesen, weder könne sie längere Wegstrecken zu Fuß zurücklegen, Rad fahren noch kleinere Einkäufe über eine längere Wegstrecke tragen.

1.3.    Die bereits befasste Sachverständige hielt in ihrer Stellungnahme vom 16.07.2021 fest:

„Antwort(en):

Frau XXXX erklärt sich mit dem Ergebnis (GesamtGdB: 40%) vom 23.06.2021 nicht einverstanden, sie beantragt die Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel" mit der Begründung, dass das Gutachten formal richtig alle relevanten Befunde behandle, aber alle Fakten der harten Realität übersehe.

Die funktionelle Beurteilung ist das entscheidende Kriterium zur Feststellung des Grades einer Behinderung und, ob die medizinischen Kriterien für diverse Zusatzeintragungen erfüllt werden. Die bei der klinischen Untersuchung am 23.06.2021 festgestellten Funktionseinschränkungen wurden in Zusammenschau mit den vorliegenden Befunden in den entsprechenden Positionsnummern angeführt und entsprechend der Einschätzungsverordnung eingeschätzt.

Eine Änderung wird nicht vorgeschlagen, da die relevanten objektivierbaren Gesundheitsschädigungen und Funktionsbehinderungen in der Beurteilung nach dem BBG entsprechend berücksichtigt und bewertet wurden.

Die medizinischen Kriterien für die Zusatzeintragung „Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel" werden nicht erfüllt. Es liegen keine Funktionsbeeinträchtigungen der oberen und unteren Extremitäten und der Wirbelsäule vor, welche das Zurücklegen kurzer Wegstrecken, das Einsteigen und Aussteigen sowie den sicheren Transport in öffentlichen Verkehrsmitteln erheblich und dauerhaft einschränken. Ausreichende Gangsicherheit konnte bei der Untersuchung am 23.06.2021 auch ohne Verwendung einer Gehhilfe festgestellt werden. Die Beschwerden vor allem im Bereich in der linken Hüfte und im rechten Kniegelenk führen zwar zu einer gewissen Einschränkung der Gehstrecke, das objektivierbare Ausmaß des Defizits kann jedoch eine maßgebliche Erschwernis der Erreichbarkeit öffentlicher Verkehrsmittel nicht ausreichend begründen.

Kurze Wegstrecken von etwa 300-400 m können alleine, allenfalls unter Verwendung einer einfachen Gehhilfe, ohne fremde Hilfe und ohne Pause zurückgelegt werden. Niveauunterschiede können überwunden werden, da die Beugefunktion im Bereich der Hüft-, Knie- und Sprunggelenke ausreichend ist und das sichere Ein- und Aussteigen möglich ist. Die Gesamtmobilität ist nicht wesentlich eingeschränkt, Kraft und Koordination sind gut. Im Bereich der oberen Extremitäten liegen keine höhergradigen Funktionseinschränkungen vor, das Erreichen von Haltegriffen und das Festhalten ist nicht eingeschränkt, sodass die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel zumutbar ist.“

2.       Mit Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Niederösterreich, vom 16.07.2021 wurde der Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses abgewiesen. Begründend wurde auf das Gutachten vom 28.06.2021 sowie auf die Stellungnahme vom 16.07.2021, welche einen Bestandteil der Bescheidbegründung bilden würden, hingewiesen.

Dagegen erhob die Beschwerdeführerin rechtzeitig Beschwerde und brachte unter Vorlage neuer Befunde vor, diese würden erstmals eine deutlich erkennbare Ursache der schmerzhaften Bewegungseinschränkungen sowohl in beiden Schultergelenken als auch bei der Knie-TEP liefern. Der Umstand, dass es nach Einsetzen der Hüft-TEP zu einer starken Migration der Pfanne gekommen sei und diese nun in einem medizinisch gerade noch vertretbaren flachen Winkel positioniert sei, schränke ihre Bewegungsfreiheit, vor allem bei jeder Form der Seitwärtsbewegung, weiter ein. Sie sei ein Schmerzpatient. Erst das konsequente Unterlassen der Bewegungen bis zum theoretisch möglichen Anschlag bringe eine Besserung ihres Schmerzbildes. Genau das sei auch der Grund, dass in den chirurgischen Befunden für beide Schultern (erst rechts, dann links) zu einer Totalendoprothese geraten werde, aber aufgrund ihrer zu erwarteten Lebenszeit und der Haltbarkeit der derzeitigen Materialen versucht werde, diese Operationen möglichst lange hinaus zu zögern. Ständige Belastungen führten daher nicht nur zu Schmerzen, sondern würden die in den aktuellen Befunden schon überdeutlich sichtbare Arthrosebildung noch weiter verstärken und seien daher kontraproduktiv. Das Gutachten stelle unter Punkt „Gesamtmobilität“ fest, „Beide Schultergelenke in allen Ebenen endlagig.“ Dies sei unrichtig, denn der fast 3 cm hohe Knick zwischen Schlüsselbeinansatz und Schulterpfanne sei selbst für einen Laien optisch sofort erkennbar und in dieser Form (vielleicht noch leicht vermindert) schon bei der Untersuchung sichtbar gewesen. Auch sei er in allen relevanten Befunden angeführt und in verstärkter Form im aktuell vorgelegten Befund.

3.       In der Folge holte die belangte Behörde ein weiteres Gutachten eines Arztes für Allgemeinmedizin ein. Dr. XXXX hält in seinem Gutachten vom 22.09.2021, basierend auf der persönlichen Begutachtung der Beschwerdeführerin, Folgendes fest:

„Anamnese:

2021-06-28 Gutachten 40% (Schulter bds 30, KTEP re 30, HTEP li 20, Harninkontinenz 10)

Dagegen Berufung, Stellungnahme: abschlägig bezüglich §29b

Derzeitige Beschwerden:

Ich habe schon seit längerer Zeit Abnutzungen im rechten Kniegelenk. Heuer im Jänner 2021 habe ich eine Knieendoprothese bekommen mit der ich allerdings nicht zufrieden bin. Ich habe im rechten Knie Schmerzen, das Knie ist stark angeschwollen und ich kann es nicht gut bewegen. Nach mehreren Unfällen habe ich auch Bewegungsstörungen und Schmerzen im Bereich des linken Kniegelenkes und bin dort instabil. Darüber hinaus habe ich auch 2019 eine Hüftendoprothese auf der linken Seite bekommen, auch dort habe ich nach einer Migration der Pfanne eine Instabilität.

Ich habe Bewegungsstörungen in beiden Schultergelenke an und habe Schwierigkeiten bei über Kopfarbeiten.

Ich habe Pflegegeldstufe eins. Infolge der Bewegungseinschränkungen in den Beinen habe ich Schwierigkeiten beim Ein- und Aussteigen in ein bzw. aus dem Auto.

Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:

Keine Dauermedikation, Schmerzmittel bei Bedarf

Sozialanamnese:

Hausfrau, ist verheiratet und hat keine Kinder

Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):

2021-08 Fachärztliches Attest FA f. Orthopädie, Dr. XXXX : Ausgeprägte Omarthrose beidseits Instabile Gonarthrose links Coxarthrose rechts Z.n. Hüft-TEP links 31.01.2019

Z.n. Knie-TEP rechts 13.01.2021 bei massiv kontrakter Gonarthrose Z.n. VKU 05.09.2020 Z.n. Patellafraktur rechts Z.n. Kompressionsfraktur Thl2 und L3 Z.n.

Sacrumfraktur rechts Z.n. Schambeinfraktur beidseits

2021-08 Radiologischer Befund, Beide Schultergelenke Ergebnis:

Postoperative Veränderungen beidseits. Hochgradige Omarthrose links mit knöchernen Impingement. Ebenso hochgradige Omarthrose rechts mit grenzwertigen Subacromialraum. AC-Gelenksarthrose beidseits. Keine pathologischen Weichteilverkalkungen.

2021-08 Radiologischer Befund, Rechtes Knie a.p. seitlich sowie Patella tangential Ergebnis:

Zustand nach Knie-TEP. Verdacht auf partielle Lockerung der femoralen Prothesenkomponente. Femoropatellararthrose. Die Weichteile ohne Auffälligkeiten.

Untersuchungsbefund:

Allgemeinzustand:

athletischer Körperbau

Ernährungszustand:

gut

Größe: 159,00 cm  Gewicht: 58,00 kg  Blutdruck: 140/80

Klinischer Status – Fachstatus:

Caput/Collum: keine Lippenzyanose, keine Halsvenenstauung

Sensorium: Umgangssprache wird anstandslos verstanden

Haut: unauffällig

Hals:    unauffällig, keine Einflußstauung

Thorax: symmetrisch, mäßig elastisch

Lunge: Vesikuläratmung, keine Atemnebengeräusche, keine Dyspnoe beim Gang im Zimmer

Herz: reine Herzgeräusche, rhythmisch, normfrequent

Abdomen: im Thoraxniveau, rektal nicht untersucht

Neurologisch: Störungen der Sensibilität werden keine angegeben.

WIRBELSÄULE:

Die Rückenmuskulatur ist symmetrisch ausgebildet, kein wesentlicher Hartspann der Rückenmuskulatur.

HWS: altersentsprechend frei beweglich, Drehung und Seitneigung beidseits frei. KJA: 1 cm

BWS: Rotation und Seitwärtsneigung in allen Ebenen frei beweglich

LWS: altersentsprechend frei beweglich, kein Klopfschmerz, Finger-Bodenabstand im

Stehen: 10 cm

Obere Extremitäten: Die Benützungszeichen sind seitengleich vorhanden.

Trophik und Tonus seitengleich normal, grobe Kraft bds nicht signifikant vermindert.

Schultergelenk rechts Seitliches Anheben: 90° Anheben nach vorne: 90°

Schultergelenk links Seitliches Anheben: 90° Anheben nach vorne: 90°

Nackengriff: bds möglich Schürzengriff: bds möglich

Ellbogengelenke, Unterarmdrehung, seitengleich frei beweglich.

Hand- und Fingergelenke: keine signifikanten Funktionseinschränkungen, Feinmotorik und Fingerfertigkeit altersentsprechend

Der Pinzettengriff ist beidseits mit allen Fingern möglich.

Der Faustschluß ist beidseits mit allen Fingern möglich.

Untere Extremitäten:

grobe Kraft bds nicht signifikant vermindert.

Hüftgelenk rechts: Beugung: 100° Rotation: 40-0-40°

Hüftgelenk links: Beugung: 90° Rotation: 30-0-30° TEP

Kniegelenk rechts: 0-0-90° stark geschwollen Umfang 39 cm gegenüber links 32 cm

Kniegelenk links: 0-0-100° laterale Seitenbandinstabilität

Sprunggelenke: beidseits annähernd normale passive Beweglichkeit.

Zehenstand und Fersenstand beidseits bds angedeutet, Einbeinstand beidseits nicht vorgezeigt, Fußpulse beidseits palpabel.

Keine Ödeme beidseits, keine relevante Varicositas, kein Hinweis für postthrombotisches Syndrom.

Gesamtmobilität – Gangbild:

Moderat hinkend rechts (Knie) jedoch sicher und ohne Hilfsmittel, Schrittlänge normal, Setzen/Erheben unbehindert möglich.

Status Psychicus:

Klar, wach, zeitlich, örtlich und zur Person orientiert. Wirkt in der Kommunikation klagend, die Anamneseerhebung unauffällig möglich. Die Stimmungslage ist gedrückt. Aufmerksamkeit und Konzentration scheinen nicht beeinträchtigt. Merkfähigkeit scheint unauffällig.

Ergebnis der durchgeführten Begutachtung:

Lfd. Nr.

Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:

Begründung der Positionsnummer und des Rahmensatzes:

Pos.Nr.

Gdb %

1

Zustand nach Implantation einer Knieprothese rechts mit

Funktionseinschränkung mittleren Grades fixer Rahmensatz

02.05.20

30

2

Abnützungserscheinungen in beiden Schultergelenken mit

Funktionseinschränkung geringen bis mittleren Grades beidseitig und leichter Instabilität links fixer Rahmensatz

02.06.04

30

3

Totalendoprothese des linken Hüftgelenkes

Heranziehung dieser Position, da mittelgradige Funktionseinschränkung

02.05.07

20

4

Degenerative und posttraumatische Veränderungen des linken Kniegelenkes

Oberer Rahmensatz, da Bandinstabilität

02.05.18

20

5

Harninkontinenz

Unterer Rahmensatz, da geringgradig und kein Hinweis auf erhebliche Restharnbildung

08.01.06

10

                Gesamtgrad der Behinderung  40 v. H.

Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung:

Leiden 2 bis 4 erhöhen gemeinsam um 1 Stufe, da ungünstiges Zusammenwirken vorliegt. Leiden 5 erhöht nicht weiter, da von zu geringe Relevanz.

Folgende beantragten bzw. in den zugrunde gelegten Unterlagen diagnostizierten Gesundheitsschädigungen erreichen keinen Grad der Behinderung:

Z.n. Kompressionsfraktur Th 12 und L3, Z.n. Sacrumfraktur rechts, Z.n. Schambeinfraktur beidseits: Eine funktionelle Defizite

Stellungnahme zu gesundheitlichen Änderungen im Vergleich zum Vorgutachten:

Neues Antragsleiden ins aktuelle Gutachten aufgenommen (aktuelle Pos. 4).

Änderung des Gesamtgrades der Behinderung im Vergleich zu Vorgutachten:

X        Dauerzustand

(…)“

4.       Mit Beschwerdevorentscheidung vom 24.09.2021 wurde die Beschwerde unter Verweis auf das Gutachten von Dr. XXXX abgewiesen.

Mit Schreiben vom 05.05.10.2021 beantragte die Beschwerdeführerin die Vorlage an das Bundesverwaltungsgericht. Inhaltlich führte sie aus, Dr. XXXX habe unter Punkt „Obere Extremitäten“ ausgeführt, „Grobe Kraft bds. nicht signifikant verändert“. Dies stehe in diametralem Gegensatz zu allen Befunden und kollidiere mit dem Umstand, dass sie sich bereits auf einer Warteliste für ein künstliches Schultergelenk rechts befinde. Lediglich die Instabilität der Kniegelenke und ihr noch relatives junges Alter veranlassten sie und die mit der Sache vertrauten Ärzte, den Termin noch etwas zu verschieben. Subjektiv betrage der Kraftverlust in der rechten Schulter mindestens 90% zum Zustand vor dem Unfall, und gut 75 % in der Schulter links. Dass beide Schultergelenke in absehbarer Zeit mit Totalendoprothesen versehen werden müssten, stehe in allen ihrem Akt inliegenden relevanten Befunden. In diesem Zusammenhang von keinem signifikanten Kraftverlust zu sprechen, scheine befremdlich. Den Faustschluss links habe sie entgegen der Darstellung im Gutachten nicht ausführen können, da dies durch die Daumengrundgelenksverletzung nicht mehr möglich sei.

Angemerkt wurde ebenso, dass der Gutachter die OP-Narbe der Hüft-TEP- Operation an der Außenseite des Oberschenkels gesucht habe, diese sich aber nahe der Leiste befinde, da mit der AMIS-Methode operiert wurde sei. Diese Methode sei ihm offensichtlich nicht bekannt gewesen. Ebenso habe er die nicht ausgeheilte „Dog-Bone“-Operation als Folge der massiven AC-Gelenkssprengung (Rockwood IV) an der rechten Schulter und den ausgebliebenen Effekt des Eingriffs nicht begutachtet. Auch sei ihrer mehrmals geäußerten Bitte, einen Orthopäden als Sachverständigen zugeteilt zu bekommen, leider wieder nicht nachgekommen worden.

II.      Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Gesetzliche Bestimmungen:

Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz - BVwGG) entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

Gemäß § 45 Abs. 3 BBG hat in Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch einen Senat zu erfolgen. Gegenständlich liegt somit Senatszuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichts-verfahrensgesetz - VwGVG) geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung (BAO), BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes (AgrVG), BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 (DVG), BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

2.       Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchpunkt A):

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden,

wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

Das Modell der Aufhebung des Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, allerdings mit dem Unterschied, dass die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 28 Abs. 3 VwGVG nicht erforderlich ist (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren (2013), § 28 VwGVG, Anm. 11.).

§ 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen hat.

Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, zur Auslegung des § 28 Abs. 3 2. Satz ausgeführt hat, wird eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer „Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht, vgl. Holoubek, Kognitionsbefugnis, Beschwerdelegitimation und Beschwerdegegenstand, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, erster Instanz, 2013, Seite 127, Seite 137; siehe schon Merli, Die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte erster Instanz, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz, 2008, Seite 65, Seite 73 f).

Die im Beschwerdefall relevanten Bestimmungen des BBG, BGBl. Nr. 283/1990 idgF, ergänzt durch die VO BGBl. II Nr. 59/2014, lauten:

„§ 1. (2) Unter Behinderung im Sinne dieses Bundesgesetzes ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen zu verstehen, die geeignet ist, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu erschweren. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten.

§ 40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpass auszustellen, wenn

1. ihr Grad der Behinderung (ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder

2. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder

3. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften ein Pflegegeld, eine Pflegezulage, eine Blindenzulage oder eine gleichartige Leistung erhalten oder

...

5. sie dem Personenkreis der begünstigten Behinderten im Sinne des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, angehören.

(2) Behinderten Menschen, die nicht dem im Abs. 1 angeführten Personenkreis angehören, ist ein Behindertenpaß auszustellen, wenn und insoweit das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen auf Grund von Vereinbarungen des Bundes mit dem jeweiligen Land oder auf Grund anderer Rechtsvorschriften hiezu ermächtigt ist.

§ 41. (1) Als Nachweis für das Vorliegen der im § 40 genannten Voraussetzungen gilt der letzte rechtskräftige Bescheid eines Rehabilitationsträgers (§ 3) oder ein rechtskräftiges Urteil eines Gerichtes nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, BGBl. Nr. 104/1985. Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen hat den Grad der Behinderung nach der Einschätzungsverordnung (BGBl. II Nr. 261/2010) unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen einzuschätzen, wenn

1. nach bundesgesetzlichen Vorschriften Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden und die hiefür maßgebenden Vorschriften keine Einschätzung vorsehen oder

2. zwei oder mehr Einschätzungen nach bundesgesetzlichen Vorschriften vorliegen und keine Gesamteinschätzung vorgenommen wurde oder

3. ein Fall des § 40 Abs. 2 vorliegt.“

Maßgebend für die Entscheidung über den Antrag der Beschwerdeführerin auf Ausstellung eines Behindertenpasses ist die Feststellung der Art und des Ausmaßes der bei der Beschwerdeführerin vorliegenden Gesundheitsschädigungen sowie in der Folge die Beurteilung des Gesamtgrades der Behinderung.

Dazu hat die belangte Behörde im angefochtenen Verfahren nur ansatzweise Ermittlungen geführt.

In dem von der belangten Behörde im Beschwerdevorentscheidungsverfahren erneut eingeholten allgemeinmedizinischen Sachverständigengutachten wurde von Dr. XXXX , Arzt für Allgemeinmedizin, nach Durchführung einer persönlichen Untersuchung der Beschwerdeführerin am 21.09.2021 der Gesamtgrad der Behinderung unter Anführung der Leiden „Zustand nach Implantation einer Knieprothese rechts mit Funktionseinschränkung mittleren Grades; Abnützungserscheinungen in beiden Schultergelenken mit Funktionseinschränkungen geringen bis mittleren Grades beidseitig und leichter Instabilität links; Totalendoprothese des linken Hüftgelenkes; degenerative und posttraumatische Veränderungen des linken Kniegelenkes; Harninkontinenz“ mit 40 v.H. eingeschätzt.

Obwohl die Beschwerdeführerin bereits mit dem Antrag umfangreiche medizinische Beweismittel vorgelegt hat, aus denen sich ergibt, dass bei der Beschwerdeführerin insbesondere Gesundheitsschädigungen des orthopädischen Formenkreises vorliegen, wurden im gesamten Verfahrensverlauf vor der belangten Behörde, sohin auch im Rahmen des Beschwerdevorentscheidungsverfahrens, lediglich medizinische Gutachten durch Ärzte für Allgemeinmedizin eingeholt.

Dies erscheint nicht ausreichend zur Beurteilung des Beschwerdebildes der Beschwerdeführerin.

Es besteht zwar kein Anspruch auf die Zuziehung von Sachverständigen eines bestimmten medizinischen Teilgebietes. Es kommt jedoch auf die Schlüssigkeit des eingeholten Gutachtens an. Gegenständlich ist die Begutachtung lediglich durch Ärzte für Allgemeinmedizin erfolgt. Die vorgelegten Beweismittel enthalten jedoch konkrete Anhaltspunkte, dass jedenfalls die Einholung eines Sachverständigengutachtens der Fachrichtung Orthopädie erforderlich ist, um eine vollständige und ausreichend qualifizierte Prüfung zu gewährleisten.

Das im Rahmen der Beschwerdevorentscheidung erneut eingeholte allgemeinmedizinische Sachverständigengutachten ist im Hinblick darauf, dass die Beschwerdeführerin bereits im Antrag jedenfalls auch orthopädische Leidenszustände durch Vorlage von medizinischen Beweismitteln vorgebracht hat, mangels Fachkenntnis nicht ausreichend zur qualifizierten Beurteilung des Gesamtleidenszustandes. Zusätzlich monierte die Beschwerdeführerin, entgegen der Darstellung im Gutachten könne sie den Faustschluss links nicht ausführen, da dies durch die Daumengrundgelenksverletzung nicht mehr möglich sei. Vor dem Hintergrund dieser Ausführung kann somit nicht von einer Schlüssigkeit des eingeholten Sachverständigengutachtens gesprochen werden.

Die seitens des Entscheidungsorganes erforderliche Überprüfung im Rahmen der freien Beweiswürdigung ist auf dieser Grundlage nicht möglich. Der eingeholte medizinische Sachverständigenbeweis vermag die verwaltungsbehördliche Entscheidung nicht zu tragen.

Es ist nicht nachvollziehbar, warum die belangte Behörde darauf verzichtet hat, das Ermittlungsverfahren dahingehend zu erweitern, jedenfalls auch ein Gutachten der Fachrichtung Orthopädie einzuholen.

Aus den dargelegten Gründen ist davon auszugehen, dass die belangte Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen hat und sich der vorliegende Sachverhalt zur Beurteilung des Grades der Behinderung als so mangelhaft erweist, dass weitere Ermittlungen bzw. konkretere Sachverhaltsfeststellungen erforderlich erscheinen.

Das Verwaltungsgericht hat im Falle einer Zurückverweisung darzulegen, welche notwendigen Ermittlungen die Verwaltungsbehörde unterlassen hat (Ra 2014/20/0146 vom 20.05.2015).

Im fortgesetzten Verfahren wird die belangte Behörde jedenfalls ein medizinisches Sachverständigengutachten der Fachrichtung Orthopädie einzuholen haben, wobei die Ergebnisse unter Einbeziehung des Beschwerdevorbringens bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen sind.

Von den Ergebnissen des weiteren Ermittlungsverfahrens wird die Beschwerdeführerin mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme in Wahrung des Parteiengehörs in Kenntnis zu setzen sein.

Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens durch das Bundesverwaltungsgericht kann - im Lichte der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 VwGVG - nicht im Sinne des Gesetzes liegen. Dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht „im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden" wäre, ist - angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes und angesichts der im gegenständlichen Fall unterlassenen Sachverhaltsermittlungen - nicht ersichtlich.

Im Übrigen scheint die Zurückverweisung der Rechtssache an die belangte Behörde auch vor dem Hintergrund der seit 01.07.2015 geltenden Neuerungsbeschränkung in Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gemäß § 46 BBG zweckmäßig.

Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben. Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall der Beschwerdeführerin noch nicht feststeht und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht rasch und kostengünstig festgestellt werden kann, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen zurückzuverweisen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

In den rechtlichen Ausführungen zu Spruchteil A wurde ausführlich unter Bezugnahme auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. u.a. Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, Ra 2015/01/0123 vom 06.07.2016, Ra 2014/20/0146 vom 20.05.2015, Ra 2015/08/0171 vom 27.01.2016, Ra 2015/10/0106 vom 24.02.2016) ausgeführt, warum die Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen geboten war.

Schlagworte

Behindertenpass Ermittlungspflicht Grad der Behinderung Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Sachverständigengutachten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W217.2247202.1.00

Im RIS seit

26.11.2021

Zuletzt aktualisiert am

26.11.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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