TE Bvwg Erkenntnis 2021/11/9 W205 2239832-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 09.11.2021
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

09.11.2021

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §57
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch


W205 2239832-1/2E

W205 2239833-1/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. SCHNIZER-BLASCHKA über die Beschwerden von 1.) XXXX , geboren am XXXX , und 2.) mj. XXXX , geboren am XXXX , beide Staatsangehörigkeit Indien, vertreten durch RA Dr. Rudolf Mayer, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 18.01.2021 zu 1.) Zl. 74175100-200927225 und 2.) Zl. 1269911701-201006271, zu Recht:

1. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird gemäß § 57 AsylG mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt I. zu lauten hat: „Eine ,Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz‘ gemäß § 57 AsylG wird Ihnen nicht erteilt.“

2. Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1.       Die Beschwerdeführer sind indische Staatsangehörige. Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter und gesetzliche Vertreterin des mj. Zweitbeschwerdeführers.

2.       Aus der Anzeige einer Landespolizeidirektion vom 28.09.2020 geht hervor, dass die Erstbeschwerdeführerin aufgrund eines Verdachts des illegalen Aufenthalts an deren Wohnadresse aufgesucht und kontrolliert worden sei. Im Zuge dessen seien ihr indischer Reisepass sowie ihr abgelaufener Aufenthaltstitel für Studierende sichergestellt worden.

3.       Am 15.10.2020 fand die Einvernahme der Erstbeschwerdeführerin durch das BFA statt. Die Niederschrift lautet auszugsweise wie folgt:

„[…]

F: Seit wann halten Sie sich durchgehend in Österreich bzw. im Schengenraum auf?

A: Seit Juli 2015. 2013 war ich auch hier, bin aber dann wieder nach Indien zurückgekehrt.

F: Ihren ersten Aufenthaltstitel erhielten Sie aber im Jahre 2014.

A: Ja, es ist doch 2014. Da habe ich einen Platz für mein Studium bekommen und bin hiergeblieben.

F: Was war der Grund Ihrer Einreise nach Österreich?

A: Ich wollte studieren.

F: Haben Sie Ihr Studium abgeschlossen?

A: Nein, ich habe noch ein Semester.

F: Können Sie dies nachweislich belegen?

A: Ich habe nur meinen Uniausweis mit. Derzeit ist mein Studium eingestellt, weil ich Mutter geworden bin. Im Februar setze ich mein Studium fort.

F: Haben Sie vor, nach Ihrem abgeschlossenen Studium Österreich zu verlassen?

A: Ich warte auf die Entscheidung des Gerichtes. Wenn ich hier keine Arbeit finde, werde ich Österreich verlassen.

F: Ihre letzte Bewilligung als Studierende war bis zum 18.09.2017 gültig. Danach verfügten Sie über ein Aufenthaltsrecht gem. § 31/1/6 FPG. Dieses war vom 23.06.2017 bis zum 22.06.2018 gültig. Machen Sie Angaben zu diesem Aufenthaltsrecht.

A: Ja, das ist ein Bescheid, der mir vom AMS ausgestellt wurde, damit ich ein weiteres Jahr arbeiten darf.

F: Haben Sie Ihre Aufenthaltsbewilligung als Studierende vor Ablauf noch versucht zu verlängern bzw. befinden Sie sich in einem Verlängerungsverfahren?

A: Ja.

F: Im Schreiben Ihrer rechtlichen Vertretung vom 05.10.2020 ist die Rede davon, dass gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien zur Zahl VGW-151/017/1064/2019 eine außerordentliche Revision gem. § 133 Abs. 6 Z. 1 B-VG beim Verwaltungsgerichtshof anhängig ist. Erläutern Sie bitte näher, worum es sich hier genau handelt.

A: Es geht um meinen Verlängerungsantrag bei der MA35. Mein Antrag auf Verlängerung wurde abgewiesen und aufgrund dessen ist jetzt eine außerordentliche Revision gem. § 133 Abs. 6 Z. 1 B-VG beim Verwaltungsgerichtshof anhängig.

F: Haben Sie für Ihr Kind einen Aufenthaltstitel beantragt?

A: Nein, ich bin davon ausgegangen, dass das Kind keinen Aufenthaltstitel erhalten wird, wenn ich auch keinen bekomme.

F: Ist Ihr Kind im Besitz eines Reisepasses?

A: Nein, noch nicht. Es haben einige Dokumente gefehlt, aber ich werde die Tage zur indischen Botschaft gehen und einen Reisepass beantragen.

F: Machen Sie genaue Angaben zu Ihrer Identität.

A: XXXX geb XXXX , StA: Indien.

F: Was ist Ihre Muttersprache? Wo wurden Sie geboren und wo sind Sie aufgewachsen?

A: Punjabi ist meine Muttersprache. Ich wurde in Indien geboren und bin dort aufgewachsen.

F: Wo nehmen Sie in Österreich Unterkunft und wer wohnt dort? An Ihrer Meldeadresse ist ein Herr XXXX gemeldet, in welcher Beziehung stehen Sie zu dieser Person?

A: In der XXXX An dieser Adresse wohnen ebenso mein Kind und mein Cousin. Mein Gatte war kurzzeitig hier wegen der Geburt, ist aber wieder nach Indien zurückgekehrt.

Anmerkung: Er ist weiterhin an genannter Adresse behördlich gemeldet.

A: Ich habe versucht ihn abzumelden, die meinten dort aber, dass es ohne seinen Reisepass nicht möglich ist. Ich werde es erneut versuchen.

F: Wann waren Sie zuletzt in der Heimat und wie oft halten Sie sich dort auf?

A: Ich war 2015 im Dezember zuletzt in Indien. Eine Woche war ich dort.

F: Waren Sie in der Heimat erwerbstätig? Wenn ja, welchen Beruf haben Sie ausgeübt?

A: Ja, ich habe in einem Labor gearbeitet. € 200 habe ich verdient.

F: Sie waren zuletzt im Jahre 2018 erwerbstätig und waren während Ihrer gesamten Aufenthaltsdauer in Österreich insgesamt 1 Jahr lang arbeitstätig. Sie haben auch 5 Monate lang Arbeitslosengeld bezogen. Was wollen Sie dazu sagen bzw. was haben Sie unternommen, um langfristig auf dem österreichischen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen?

A: Ich habe 2 Jahre lang gearbeitet. Ein Jahr davon war ich beim Mc Donald´s beschäftigt. 2018 habe ich zuletzt gearbeitet und weil mein Aufenthalt nicht offiziell verlängert wurde, konnte ich nicht weiterarbeiten.

F: Wodurch finanzieren Sie Ihren Aufenthalt in Österreich?

A: Mein Cousin mit dem ich zusammenlebe unterstützt mich finanziell. Er arbeitet beim BILLA. Ich werde außerdem durch meinen Onkel und meine Tante finanziell unterstützt. XXXX ist mein Onkel und meine Tante heißt XXXX .

F: Haben Sie Vermögenswerte oder Ersparnisse?

A: Nein. Ich habe um die € 400-500 auf meinem Konto.

F: Bestehen andere Finanzquellen?

A: Nein.

F: Haben Sie offene Verbindlichkeiten oder Schulden?

A: Nein.

F: Verfügen Sie bzw. Ihr Kind in Österreich über eine Unfall- bzw. Krankenversicherung?

A: Ja.

F: Verfügen Sie in einem anderen Mitgliedstaat über eine Form von Aufenthaltsrecht?

A: Nein.

F: Wie lautet Ihr derzeitiger Familienstand?

A: Ich bin verheiratet. Wir haben 2009 in Indien geheiratet.

F: Wo lebt Ihr Gatte?

A: In Indien und er arbeitet in Dubai. Er kommt manchmal mit einem C bzw. einem D-Visum nach Österreich.

F: Nennen Sie seine Daten.

A: XXXX , geb: XXXX .

F: Verfügt Ihr Gatte über ein Aufenthaltsrecht in Österreich?

A: Nein.

F: Ist Ihr Gatte erwerbstätig? Wie viel verdient er?

A: Ja, er arbeitet in Dubai. Manchmal schickt er mir Geld.

F: Wie lautet Ihre Adresse in der Heimat?

A: XXXX .

F: Welche Schulbildung bzw. Ausbildung haben Sie?

A: 12 Jahre habe ich die Schule besucht und 3 Jahre habe ich einen Kurs zur Labortechnikerin abgeschlossen. Danach habe ich meinen Bachelor of Science und meinen Master of Science abgeschlossen.

F: Welche Familienangehörigen leben in Österreich? Nennen Sie deren Daten.

A: Mein Couser, die Tante und der Onkel. Sonst habe ich niemanden.

F: Wer von Ihrer Familie lebt in Indien und inwiefern haben Sie Kontakt zu diesen?

A: Meine Eltern leben in Indien und wir haben Kontakt.

F: Wie stellt sich Ihr Privatleben dar bzw. besteht ein Abhängigkeitsverhältnis zu Österreich?

A: Eben nur durch meine Familie.

F: Sind Sie bzw. Ihr Kind in Österreich Mitglied in einem Verein oder einer Organisation?

A: Ich bin ehrenamtlich bei der Caritas tätig. Einmal pro Woche bin ich dort.

F: Können Integrationsleistungen von Ihnen in Vorlage erbracht werden? Verfügen Sie über zertifizierte Sprachkenntnisse?

A: Ja, ich habe Deutschzeugnisse.

F: Werden Sie bzw. Ihr Kind in Indien strafrechtlich oder politisch verfolgt?

A: Nein.

[…]

F: Möchten Sie dem Ganzen noch etwas hinzufügen bzw. wollen Sie noch etwas vorlegen?

A: Die MA35 meinte, dass sie ein Deutschzeugnis brauchen, um meinen Aufenthalt zu verlängern. Ich mache mein Studium aber hauptsächlich auf Englisch, deswegen verstehe ich nicht, warum ich für die Verlängerung ein Deutschzeugnis brauche.

[…]“

4.       Mit Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 10.11.2020 wurde der Erstbeschwerdeführerin die beabsichtigte Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen sie selbst und den mj. Zweitbeschwerdeführer mitgeteilt und ermöglicht binnen 14 Tagen ab Zustellung eine Stellungnahme abzugeben. Weiters wurde ersucht bekanntzugeben, wem die Obsorge für das Kind zukomme, ob das Kind im Besitz eines Reisepasses sei und warum noch kein Aufenthaltstitel für das Kind beantragt worden sei.

5.       Am 24.11.2020 langte eine Stellungnahme des Rechtsvertreters beim Bundesamt ein, aus der zusammengefasst hervorgeht, dass die Erstbeschwerdeführerin aufgrund einer mündlichen Vereinbarung allein obsorgeberechtigt sei. Das Verfahren zur Ausstellung eines Reisepasses für den Zweitbeschwerdeführer laufe noch. Die Erstbeschwerdeführerin habe für diesen bisher keinen Aufenthaltstitel beantragt, weil sein Aufenthalt von ihrem abhänge. Solange ihr Antrag nicht positiv erledigt sei, könne sein Antrag nicht positiv erledigt werden.

6.       Mit gegenständlichem angefochtenen Bescheiden wurde den Beschwerdeführern ein Aufenthaltstitel „aus berücksichtigungswürdigen Gründen“ gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt I.), gemäß § 10 Abs. 2 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt II.) sowie festgestellt, dass deren Abschiebung nach Indien nach § 46 iVm § 52 Abs. 9 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.) und die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

Begründend wurde im Wesentlichen festgehalten, dass im Fall der Erstbeschwerdeführerin kein schützenswertes Privatleben nach der Judikatur des EGMR vorliege und dem öffentlichen Interesse an einem geordneten Vollzug des Fremdenwesens sowie der öffentlichen Ordnung und Sicherheit mehr Gewicht einzuräumen sei, als deren bloß höchst oberflächlichen privaten Interessen. Die Erstbeschwerdeführerin habe keine Gründe vorgebracht, die eine Abschiebung in deren Herkunftsstaat hindern würden.

Die Bescheide enthalten folgende Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Grundversorgung und Wirtschaft

Letzte Änderung: 30.03.2020

In Indien lebt etwa ein Viertel der Bevölkerung unter dem veranschlagten Existenzminimum der Vereinten Nationen. Sofern es nicht zu außergewöhnlichen Naturkatastrophen kommt, ist jedoch eine das Überleben sichernde Nahrungsversorgung auch der untersten Schichten der Bevölkerung zum Großteil gewährleistet. Es gibt keine staatlichen Aufnahmeeinrichtungen für Rückkehrer, Sozialhilfe gibt es nicht, die Rückkehrer sind auf die Unterstützung der eigenen Familie oder von Bekannten angewiesen (ÖB 8.2019).

Das Wirtschaftswachstum lag im Haushaltsjahr 2016/2017 bei 7,1 Prozent und in 2017/18 bei 6,75 Prozent (BICC 12.2019). 2019 betrug das Wirtschaftswachstum 4.9 Prozent und für 2020 wird ein Wachstum der Gesamtwirtschaft um 6,1 Prozentpunkte erwartet (WKO 1.2020). Indien zählt damit nach wie vor zu den am stärksten expandierenden Volkswirtschaften der Welt (BICC 12.2019).

20167 lag die Erwerbsquote Bundesamtbei 53,8 Prozent (StBA 26.8.2019). Es gibt immer noch starke Unterschiede bei der geschlechtlichen Verteilung des Arbeitsmarktes (FES 9.2019). Indien besitzt mit 520,199 Millionen Menschen die zweitgrößte Arbeitnehmerschaft der Welt (2012). Im Jahr 2017 lag die Arbeitslosenquote bei 3,5 Prozent (StBA 26.8.2019).

Der indische Arbeitsmarkt ist durch die Tätigkeit im „informellen Sektor“ dominiert. Er umfasst Familien- und Kleinbetriebe der Landwirtschaft, des produzierenden Gewerbes sowie des Dienstleistungsbereichs und unterliegt keiner Kontrolle oder Besteuerung des Staates. Infolgedessen bestehen in diesem Bereich keine rechtsverbindlichen Bestimmungen oder formal geregelte Arbeitsverhältnisse. Annähernd 90 Prozent der Beschäftigten werden dem sogenannten „informellen Sektor“ zugerechnet – sie sind weder gegen Krankheit oder Arbeitsunfälle abgesichert, noch haben sie Anspruch auf soziale Leistungen oder Altersversorgung (Wienmann 2019). Die überwiegende Mehrheit der indischen Bevölkerung lebt in ländlich-bäuerlichen Strukturen und bleibt wirtschaftlich benachteiligt. Der Anteil der Landwirtschaft an der indischen Wirtschaftsleistung sinkt seit Jahren kontinuierlich und beträgt nur noch etwa 16,1 Prozent (2017/18) der Gesamtwirtschaft, obgleich fast 5049 Prozent der indischen Arbeitskräfte in diesem Bereich tätig sind (Shah-Paulini 2017).

Die Regierung hat überall im Land rund 1.000 Arbeitsagenturen (Employment Exchanges) eingeführt um die Einstellung geeigneter Kandidaten zu erleichtern. Arbeitssuchende registrieren sich selbständig bei den Arbeitsagenturen und werden informiert sobald eine geeignete Stelle frei ist (BAMF 3.9.2018; vgl. PIB 23.7.2018). Einige Staaten in Indien geben Arbeitssuchenden eine finanzielle Unterstützung für die Dauer von drei Jahren. Für weitere Informationen sollte die jeweilige lokale Vermittlungsagentur kontaktiert werden. Diese bieten auch Beratungen an, bei denen sie Informationen zu Verfügung stellen (BAMF 3.9.2018).

Indien steht vor gewaltigen Herausforderungen bei der Armutsbekämpfung und in der Bildungs- und Infrastrukturentwicklung. Das durchschnittliche jährliche Pro-Kopf-Einkommen liegt bei rund 852 USD. Auf dem Human Development Index der UNDP (Stand: September 2016) steht Indien auf Platz 131 unter 188 erfassten Staaten. Während es weltweit die meisten Millionäre und Milliardäre beheimatet, liegt Indien bei vielen Sozialindikatoren deutlich unter den Durchschnittswerten von Subsahara-Afrika. Gleichzeitig konnten in den letzten beiden Jahrzehnten hunderte Millionen Menschen in Indien der Armut entkommen (BICC 12.2019).

Die Regierung betreibt eine Vielzahl von Programmen zur Finanzierung von Wohnungen. Diese richten sich jedoch zu meist an Personen unterhalb der Armutsgrenze. Weiters bieten die Regierungen eine Vielzahl an Sozialhilfen an, welche sich jedoch an unterprivilegierte Gruppen, wie die Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze richten. Diese Programme werden grundsätzlich durch die lokalen Verwaltungen umgesetzt (Panchayat) (BAMF 3.9.2018).

Die Arbeitnehmerrentenversicherung ist verpflichtend und mit der Arbeit verknüpft. Das staatliche Sozialversicherungsprogramm (National Social Assistance Programme) erfasst nur die Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze oder physisch Benachteiligte. Das staatliche Rentensystem National Pension System (NPS) ist ein freiwilliges, beitragsbasiertes System, welches es den Teilnehmer ermöglicht systematische Rücklagen während ihres Arbeitslebens anzulegen (BAMF 3.9.2018).

55,3 Prozent der Bevölkerung (642,4 Mio.) lebt in multi-dimensionaler Armut (HDI 2016). Sofern es nicht zu außergewöhnlichen Naturkatastrophen kommt, ist jedoch eine für das Überleben ausreichende Nahrungsversorgung auch den schwächsten Teilen der Bevölkerung grundsätzlich sichergestellt. Es gibt keine staatlichen Aufnahmeeinrichtungen für Rückkehrer, Sozialhilfe oder ein anderes soziales Netz. Rückkehrer sind auf die Unterstützung der Familie oder Freunde angewiesen. Vorübergehende Notlagen können durch Armenspeisungen im Tempel, insbesondere der Sikh-Tempel, die auch gegen kleinere Dienstleistungen Unterkunft gewähren, ausgeglichen werden (AA 19.7.2019).

Im September 2018 bestätigte der Oberste Gerichtshof die Verfassungsmäßigkeit des biometrischen Identifikationsprojekts Aadhaar. Im Juli 2019 verabschiedete das Parlament Änderungen zum Aadhaar-Gesetz. Damit wird der Weg für den Einsatz der Daten durch private Nutzer frei. Die geplanten Änderungen gaben Anlass zur Besorgnis hinsichtlich der Privatsphäre und des Datenschutzes und wurden angesichts eines Entscheids des Obersten Gerichtshofs vom September 2018 vorgenommen, welcher eine Nutzung von Aadhaar für andere Zwecke als den Zugang zu staatlichen Leistungen und die Erhebung von Steuern beschränkt (HRW 14.1.2020). Als Teil einer Armutsbekämpfungsinitiative wurde seit 2010 Millionen indischer Bürger eine Aadhaar-ID Nummer ausgestellt. Ursprünglich wurde das System eingeführt, um Steuerbetrug entgegenzuwirken. In den folgenden Jahren wurde der Umfang jedoch stark ausgeweitet: In einigen indischen Bundesstaaten werden mittels Aadhaar Pensionen, Stipendien und die Essensausgabe für arme Menschen abgewickelt (ORF 27.9.2018). Aadhaar stellt für den Großteil der Bevölkerung den einzigen Zugang zu einem staatlich anerkannten Ausweis dar. Diejenigen, die sich bei Aadhaar angemeldet haben, erhielten nach der Übermittlung ihrer Fingerabdrücke und Netzhautscans eine eindeutige zwölfstellige Identifikationsnummer (BBC 26.9.2018).

Menschenrechtsgruppen äußern Bedenken, dass die Bedingungen zur Registrierung für Aadhaar, arme und marginalisierte Menschen daran hindern, wesentliche, verfassungsmäßig garantierte Dienstleistungen wie etwa Nahrung und Gesundheitsversorgung zu erhalten (HRW 13.1.2018).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (19.7.2019): Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien (Stand: Mai 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2014276/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_zur_asyl-_und_abschiebungsrelevanten_Lage_in_der_Republik_Indien_%28Stand_Mai_2019%29%2C_19.07.2019.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (3.9.2018): Länderinformationsblatt Indien, http://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2018_India_DE.pdf, Zugriff 18.3.2020

-        BBC British Broadcasting Corporation (26.9.2018): Aadhaar: India top court upholds world's largest biometric scheme, https://www.bbc.com/news/world-asia-india-44777787, Zugriff 17.1.2019

-        BICC - Bonn International Centre for Conversion (12.2019): Informationsdienst - Sicherheit, Rüstung und Entwicklung in Empfängerländern deutscher Rüstungsexporte: Länderinformation Indien, http://www.ruestungsexport.info/user/pages/04.laenderberichte/indien/2019_Indien.pdf, Zugriff 10.2.2020

-        FES – Friedrich-Ebert-Stiftung (9.2019): Feminist perspectives on the future of work in India, http://library.fes.de/pdf-files/bueros/indien/15719.pdf(Zugriff 18.3.2020

-        HRW – Human Rights Watch (14.1.20120): World Report 2020 - India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022689.html, Zugriff 17.1.2020

-        HRW - Human Rights Watch (13.1.2018): India: Identification Project Threatens Rights, https://www.ecoi.net/de/dokument/1422175.html, Zugriff 17.1.2019

-        ORF - Österreichischer Rundfunk (27.9.2018): Indiens Form der digitalen Überwachung, https://orf.at/stories/3035121/, Zugriff 17.1.2019

-        ÖB - Österreichische Botschaft New Delhi (8.2019): Asylländerbericht Indien

-        PIB - Press Information Bureau Government of India Ministry of Labour & Employment (23.7.2018): Modernisation of Employment Exchanges, http://pib.nic.in/newsite/PrintRelease.aspx?relid=180854, Zugriff 13.3.2020

-        Shah-Paulini, Purvi (2017): Chefsache Integrales Business mit Indien. Den Subkontinent aus verschiedenen Perspektiven verstehen. Springer Gabler Verlag. Seite 40

-        StBA – Stadistisches Bundesamt (26.8.2019): Indien: Statistisches Länderprofil, https://www.destatis.de/DE/Themen/Laender-Regionen/Internationales/Laenderprofile/indien.pdf?__blob=publicationFile, Zugriff 15.3.2020

-        Wiemann, Kristina N. (2019): Qualifizierungspraxis deutscher Produktionsunternehmen in China, Indien und Mexiko: Eine Analyse der Übertragbarkeit dualer Ausbildungsansätze. Springer Verlag. Seite 201

-        WKO - Aussenwirtschaft Austria (1.2020): Aussen Wirtschaft Wirtschaftsbereich Indien, https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/indien-wirtschaftsbericht.pdf, Zugriff 11.2.2020

20.      Medizinische Versorgung

Letzte Änderung: 22.7.2020

Eine gesundheitliche Mindestversorgung wird vom Staat im Prinzip kostenfrei gewährt. Sie ist aber durchwegs unzureichend. Von den Patienten wird viel Geduld abverlangt, da der Andrang auf Leistungen des staatlichen Gesundheitssektors sehr groß ist. Die privaten Gesundheitsträger genießen wegen fortschrittlicher Infrastruktur und qualifizierterem Personal einen besseren Ruf, ein Großteil der Bevölkerung kann sich diesen aber nicht leisten. In allen größeren Städten gibt es Einrichtungen, in denen überlebensnotwendige Maßnahmen durchgeführt werden können. Dies gilt mit den genannten Einschränkungen auch für den öffentlichen Bereich. Fast alle gängigen Medikamente sind in Indien (meist als Generika westlicher Produkte) auf dem Markt erhältlich. Für den (relativ geringen) Teil der Bevölkerung, welcher sich in einem formellen Arbeitsverhältnis befindet, besteht das Konzept der sozialen Absicherung aus Beitragszahlungen in staatliche Kassen sowie einer Anzahl von – vom Arbeitgeber zu entrichtenden – diversen Pauschalbeträgen. Abgedeckt werden dadurch Zahlungen für Renten, Krankenversicherung, Mutterkarenz sowie Abfindungen für Arbeitslosigkeit bzw. Arbeitsunfähigkeit (ÖB 8.2019).

Staatliche Krankenhäuser bieten Gesundheitsversorgung kostenfrei oder zu sehr geringen Kosten an (BAMF 3.9.2018), stellt sich jedoch durchweg unzureichend dar (AA 19.7.2019). Zudem gibt es viele weitere Institutionen, die bezahlbare Behandlungen anbieten (BAMF 3.9.2018). Für 10.000 Inder stehen 0,8 praktizierende Ärzte (StBA 26.8.2019) und 0,5 Klinikbetten je tausend Einwohnern zur Verfügung (GTAI 23.4.2020).

Die staatliche Krankenversicherung erfasst nur indische StaatsbürgerInnen unterhalb der Armutsgrenze. Staatliche Gesundheitszentren bilden die Basis des öffentlichen Gesundheitswesens. Dies sind meist Ein-Personen-Kliniken, die auch kleine Operationen anbieten. Diese Zentren sind grundsätzlich in der Nähe aller Dörfer zu finden. Insgesamt gibt es mehr als 25.500 solcher Kliniken in Indien, von denen 15.700 von nur einem Arzt betrieben werden. Einige Zentren besitzen spezielle Schwerpunkte, darunter Programme zu Kinder-Schutzimpfungen, Seuchenbekämpfung, Verhütung, Schwangerschaft und bestimmte Notfälle (BAMF 3.9.2018).

Ebenfalls gibt es Gemeindegesundheitszentren und spezialisierte Kliniken. Diese sind für alle möglichen generellen Gesundheitsfragen ausgestattet und bilden die Basis des Gesundheitswesens in städtischen Gegenden. Sie werden von der Regierung betrieben und nehmen auf Empfehlung der Ersteinrichtungen Patienten auf. Jede dieser Einrichtungen ist für 120.000 Menschen aus städtischen bzw. 80.000 Patienten aus abgeschiedenen Orten zuständig. Für weitere Behandlungen können Patienten von den Gemeindegesundheitszentren zu Allgemeinkrankenhäusern transferiert werden. Die Zentren besitzen daher auch die Funktion einer Erstüberweisungseinrichtung. Sie sind dazu verpflichtet, durchgängig Neugeborenen- bzw. Kinderfürsorge zu leisten sowie Blutkonservenvorräte zu besitzen. Für den Rest der Bevölkerung ist eine beitragspflichtige Krankenversicherung durch verschiedene private und staatliche Firmen zu unterschiedlichen Konditionen gegeben (BAMF 3.9.2018).

Einige wenige private Krankenhäuser in den größten Städten gewährleisten einen Standard, der mit jenem westlicher Industriestaaten vergleichbar ist. Im wirtschaftlich starken Punjab und in New Delhi ist die Gesundheitsversorgung im Verhältnis zu anderen Landesteilen gut (AA 19.7.2019).

Die staatliche Krankenversicherung erfasst nur indische Staatsbürger unterhalb der Armutsgrenze. Für den Rest der Bevölkerung ist eine beitragspflichtige Krankenversicherung durch verschiedene private und staatliche Firmen zu unterschiedlichen Konditionen gegeben. Bekannte Versicherer sind General Insurance, Bharti AAA, HDFC ERGO, Bajaj, Religare, Apollo Munich, New India Assurance, Max Bupa etc. (BAMF 3.9.2018).

Eine private Gesundheitsversorgung ist vergleichbar teuer und die Patienten müssen einen Großteil der Kosten selber zahlen. Für den Zugang zu den Leistungen ist grundsätzlich ein gültiger Personalausweis nötig (Adhaar card, Voter ID, PAN) (BAMF 3.9.2018).

In Indien sind fast alle gängigen Medikamente auf dem Markt erhältlich (AA 19.7.2019). Apotheken sind in Indien zahlreich und auch in entlegenen Städten vorhanden. (BAMF 3.9.2018). Die Einfuhr von Medikamenten aus dem Ausland ist möglich. Indien ist der weltweit größte Hersteller von Generika und Medikamente kosten einen Bruchteil der Preise in Europa (AA 19.7.2019). Die Kosten für die notwendigsten Medikamente sind staatlich kontrolliert, sodass diese weitreichend erhältlich sind (BAMF 3.9.2018).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (19.7.2019): Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien (Stand: Mai 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2014276/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_zur_asyl-_und_abschiebungsrelevanten_Lage_in_der_Republik_Indien_%28Stand_Mai_2019%29%2C_19.07.2019.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (3.9.2018): Länderinformationsblatt Indien, http://files.returningfromgermany.de/files/CFS_2018_India_DE.pdf, Zugriff 18.3.2020

-        GTAI – German Trade and Invest (23.4.2020): Covid-19: Gesundheitswesen in Indien, https://www.gtai.de/gtai-de/trade/specials/special/indien/covid-19-gesundheitswesen-in-indien-234420, Zugriff 15.5.2020

-        StBA – Stadistisches Bundesamt (26.8.2019): Indien: Statistisches Länderprofil, https://www.destatis.de/DE/Themen/Laender-Regionen/Internationales/Laenderprofile/indien.pdf?__blob=publicationFile, Zugriff 19.3.2020

-        ÖB – Österreichische Botschaft New Delhi (8.2019): Asylländerbericht Indien


22.         Rückkehr

Letzte Änderung: 30.03.2020

Allein die Tatsache, dass eine Person einen Asylantrag gestellt hat, führt nicht zu nachteiligen Konsequenzen nach der Abschiebung (AA 19.7.2019). Abgeschobene erfahren bei der Rückkehr nach Indien von den indischen Behörden grundsätzlich keine nachteiligen Konsequenzen, abgesehen von einer Prüfung der Papiere und gelegentlichen Befragung durch die Sicherheitsbehörden. Gesuchte Personen müssen allerdings bei Einreise mit Verhaftung und Übergabe an die Sicherheitsbehörden rechnen (ÖB 8.2019; vgl. AA 19.7.2019). Aktivisten, die im Ausland eine in Indien verbotene terroristische Vereinigung unterstützen, werden hierfür nach ihrer Rückkehr strafrechtlich verfolgt, sofern ihre Aktivitäten den indischen Behörden bekannt geworden sind. Menschenrechtsorganisationen berichten über Schikanen der indischen Polizei gegen Personen, die wegen terroristischer Aktivitäten verurteilt wurden, selbst wenn diese ihre Strafe bereits verbüßt haben (ÖB 8.2019).

Quellen:

-        AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (19.7.2019): Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien (Stand: Mai 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2014276/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_zur_asyl-_und_abschiebungsrelevanten_Lage_in_der_Republik_Indien_%28Stand_Mai_2019%29%2C_19.07.2019.pdf, Zugriff 19.3.2020

-        ÖB – Österreichische Botschaft New Delhi (8.2019): Asylländerbericht Indien

7.       Mit Schreiben vom 15.02.2021 wurde dagegen fristgerecht vollumfänglich Beschwerde erhoben und zusammengefasst vorgebracht, dass die Behörde zwar einräume, dass die Beschwerdeführerin, die sich für eine verhältnismäßig kurze Dauer in Österreich aufhalte, sich habe integrieren können. Jedoch nehme sie mit der Argumentation, dass ein Student ohnehin über Deutschkenntnisse verfügen sollte, Abstriche daran vor. Dem könne nicht gefolgt werden, da letztlich das Ergebnis der Integrationsbemühungen zu beurteilen sei und nicht deren Grund. Die belangte Behörde habe die ehrenamtliche Tätigkeit bei der Caritas mit der Begründung „verworfen“, dass kein Nachweis dafür erbracht worden sei, obwohl deren Angaben in anderen Punkten ohne Darlegung von Beweismitteln habe gefolgt werden können. Außerdem werde aus dem Umstand, dass die Beschwerdeführerin das Land nicht verlassen habe, abgeleitet, dass sie nicht den österreichischen Werten verbunden sei. Die Erstbehörde hätte weitere Ermittlungsschritte zur Frage, ob die Beschwerdeführer ein in Hinblick auf Tante und Onkel in Zusammenhalt mit dem mj. Sohn ein hinreichend geschütztes Familienleben aufweise. Diesfalls hätte sie unweigerlich zu dem Ergebnis gelangen müssen, dass die Beschwerdeführerin mit den genannten Familienmitgliedern ein Familienleben aufweise. Außerdem legte die Erstbeschwerdeführerin eine „Vereinbarung über freiwilliges Engagement“ mit der Caritas vom 29.09.2020 vor.

II.      Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

Die Erstbeschwerdeführerin, eine indische Staatsangehörige, führt den im Spruch angeführten Namen und das Geburtsdatum. Ihre Identität steht aufgrund des indischen Reisepasses fest.

Die Erstbeschwerdeführer stammt aus Indien. Ihre Muttersprache ist Punjabi. In ihrer Heimat besuchte sie 12 Jahre die Schule und 3 Jahre einen Kurs zur Labortechnikerin. Danach schloss sie ihren Bachelor of Science und Master of Science ab. Durch ihre Arbeit in einem indischen Labor verdiente sie EUR 200,- im Monat.

Die Erstbeschwerdeführerin reiste mit einem von 10.07.2014 bis 09.11.2014 gültigen D-Visum in das Bundesgebiet ein. Ab dem Jahr 2014 bis zum 18.09.2017 verfügte die Erstbeschwerdeführerin über gültige Aufenthaltsbewilligungen als Studierende. Ihr fristgerechter Verlängerungsantrag wurde mit Bescheid der MA 35 vom 19.11.2018 nicht bewilligt und die dagegen erhobene Beschwerde mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 13.03.2019 abgewiesen. Der gegen dieses Erkenntnis erhobenen außerordentlichen Revision wurde keine aufschiebende Wirkung zuerkannt. Der Aufenthalt der Erstbeschwerdeführerin ist seitdem unrechtmäßig.

Am 01.08.2020 wurde in Österreich der Zweitbeschwerdeführer als Sohn der Erstbeschwerdeführerin geboren. Der Zweitbeschwerdeführer lebt seitdem bei seiner allein obsorgeberechtigten Mutter im Bundesgebiet. Diese beantragte nie einen Aufenthaltstitel für den Zweitbeschwerdeführer. Sein Aufenthalt ist somit ebenfalls illegal.

Die Eltern des Zweitbeschwerdeführers sind seit 2009 nach indischem Recht verheiratet. Der Vater des Zweitbeschwerdeführers bzw. Ehemann der Erstbeschwerdeführerin lebt in Indien und arbeitet in Dubai. Er kommt manchmal mit einem C bzw. D-Visum nach Österreich und schickt der Erstbeschwerdeführerin Geld.

Weiters wohnen im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer die Eltern der Erstbeschwerdeführerin, zu denen ebenfalls Kontakt besteht. Die Erstbeschwerdeführerin war zuletzt im Jahr 2015 in Indien.

In Österreich leben eine Tante, ein Onkel und ein Cousin der Erstbeschwerdeführerin. Die Beschwerdeführer wohnen gemeinsam mit diesem Cousin und werden durch die genannten Verwandten finanziell unterstützt.

Die Erstbeschwerdeführerin war von 04.03.2016 bis 31.03.2017 bei verschiedenen Dienstgebern als „Arbeiterin“ sowie von 01.07.2017 bis 04.08.2018 als „geringfügig beschäftigte Angestellte“ erwerbstätig. Von 01.04.2017 bis 18.08.2018 bezog sie Arbeitslosengeld (vgl. AS 27 ff.). Seitdem arbeitete sie nicht mehr gegen Entgelt.

Ein Studium schloss die Erstbeschwerdeführerin in Österreich nicht ab. Sie wurde am 17.09.2018 für den postgraduellen Universitätslehrgang „Master of Science in Clinical Research“ an der Medizinischen Universität Wien mit einer Dauer von 4 Semestern zugelassen und schloss Lehrveranstaltungen im Ausmaß von insgesamt 50,90 ECTS ab.

Die Erstbeschwerdeführerin ist seit 29.09.2020 ehrenamtlich für die Caritas als „Lernhelferin“ im Ausmaß von 8 Stunden im Monat tätig (vgl. AS 103 ff.).

Die Erstbeschwerdeführerin hat Kenntnisse der deutschen Sprache, verfügt jedoch über kein Sprachzertifikat. Die Einvernahme durch die belangte Behörde konnte teilweise auf Deutsch und teilweise auf Punjabi durchgeführt werden (vgl. AS 33). Aus einem „Feedback-Bogen zur Information“ der Österreichischen Orient-Gesellschaft geht hervor, dass ihre Kenntnisse auf B2-Niveau in den Kategorien Lesen als „mangelhaft“, Schreiben als „gut“ und Sprechen als „bestanden“ eingestuft wurden und der Erstbeschwerdeführerin ein Kurs „B2 C1“ empfohlen wurde (vgl. AS 43).

Es kann nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer im Falle einer Abschiebung nach Indien in ihrem Recht auf Leben gefährdet würden, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen oder von der Todesstrafe bedroht würden oder eine Rückkehr nach Indien für die Beschwerdeführer als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung ihres Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts mit sich bringen würde.

Zur aktuell vorliegenden Pandemie aufgrund des Corona-Virus ist notorisch: COVID-19 ist eine durch das Corona-Virus SARS-CoV-2 verursachte Viruserkrankung, die erstmals im Jahr 2019 in Wuhan/China festgestellt wurde und sich seither weltweit verbreitet. Nach dem aktuellen Stand verläuft die Viruserkrankung bei ca. 80% der Betroffenen leicht und bei ca. 15% der Betroffenen schwerer, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Bei ca. 5% der Betroffenen verläuft die Viruserkrankung derart schwer, dass Lebensgefahr gegeben ist und intensivmedizinische Behandlungsmaßnahmen notwendig sind. Diese sehr schweren Krankheitsverläufe treten am häufigsten in den Risikogruppen der älteren Personen und der Personen mit Vorerkrankungen (wie z.B. Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck) auf.

Die Beschwerdeführer gehören als gesunde, junge Menschen keiner Risikogruppe an, es besteht daher kein Anhaltspunkt für eine maßgebliche Gefährdung im Falle einer Rückkehr, etwa durch ein erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf. Zudem besteht aktuell in Österreich auch für nicht sozialversicherte Personen die Möglichkeit einer Impfung gegen SARS-CoV-2.

1.10. Zur Lage in Indien werden die von der Behörde getroffenen Feststellungen (s. oben I.6.) zugrundgelegt.

2.       Beweiswürdigung:

Die Feststellungen basieren auf dem vorliegenden Akteninhalt iZm dem Beschwerdevorbingen. Sofern in gegenständlichem Erkenntnis auf Aktenseiten verwiesen wird, beziehen sich die entsprechenden Angaben auf den zur Erstbeschwerdeführerin geführten Akt.

Der Verfahrensgang ergab sich aus den von der Behörde vorgelegten unstrittigen verwaltungsbehördlichen Akten.

Die Feststellungen zum Privat- und Familienleben der Beschwerdeführer konnten aus den Angaben der Erstbeschwerdeführerin gegenüber dem BFA, von denen auch die Behörde im angefochtenen Bescheid ausging, sowie den im Verfahren vorgelegten Unterlagen getroffen werden.

Die Heirat der Erstbeschwerdeführerin ist zudem durch die vorgelegte Heiratsurkunde (vgl. AS 35) belegt. Die Geburt des Zweitbeschwerdeführers ergab sich aus der vorgelegten Geburtsurkunde (vgl. AS 36).

Die festgestellten Beschäftigungszeiten sowie der Bezug von Arbeitslosengeld konnten dem Auszug des AJ-WEB Auskunftsverfahrens (vgl. AS 27 ff.) entnommen werden und stimmen mit den Angaben der Erstbeschwerdeführerin überein. Die Feststellungen zum postgraduellen Studium ergaben sich aus den diesbezüglichen vorgelegten Unterlagen (vgl. AS 37 ff.). Die ehrenamtliche Tätigkeit ergab sich aus den Angaben der Erstbeschwerdeführerin vor dem BFA sowie den mit der Beschwerde vorgelegten Nachweisen (vgl. AS 103 ff.).

Die Feststellungen zu den Deutschkenntnissen der Erstbeschwerdeführerin basieren auf den Anmerkungen in der Niederschrift ihrer Einvernahme (vgl. AS 30, 33) sowie dem vorgelegten „Feedback-Bogen“ (AS 43). Die Erstbeschwerdeführerin bejahte zwar ein „Deutschzeugnis“ zu haben (vgl. AS 32). Vor dem Hintergrund, ihrer Ausführungen, wonach sie für die Verlängerung ihres Aufenthalts nach Auskunft der MA 35 ein Deutschzeugnis benötige (vgl. AS 33), sowie dem Umstand, dass im gegenständlichen Verfahren trotz anwaltlicher Vertretung kein Deutschnachweis vorgelegt wurde, konnte nicht davon ausgegangen werden, dass die Erstbeschwerdeführerin ein Sprachzertifikat erlangte.

Die Feststellungen im Zusammenhang mit der Abschiebung nach Indien beruhen auf den vom BFA angeführten und von diesem herangezogenen, Quellen. Es bestehen im Entscheidungszeitpunkt keine Anhaltspunkte, aufgrund derer anzunehmen wäre, dass die allgemeine Lage in Indien entscheidungswesentlich und in einer Weise verändert hätte, die von Gerichts wegen wahrzunehmen wäre. Die Beschwerdeführer behaupteten im gegenständlichen Verfahren auch nicht, dass eine Rückkehr aufgrund der derzeitigen Lage in deren Herkunftsstaat nicht möglich sei. Es ist davon auszugehen, dass die Erstbeschwerdeführerin als gesunde Frau mit Bildung in der Lage ist, für sich und ihren Sohn eine Existenzgrundlage im Herkunftsstaat zu sichern, insbesondere da in ihrem Herkunftsstaat ihr Ehemann und ihre Eltern leben. Anhaltspunkte für eine allfällige Gefährdung im Falle der Rückkehr sind weder den aktuellen Länderberichten, noch konkret dem Vorbringen zu entnehmen.

Dass die Beschwerdeführer gesund sind und keinen medizinischen Behandlungsbedarf haben, ergibt sich daraus, dass die Erstbeschwerdeführerin auf Frage des BFA anführte, dass sie und ihr Kind gesund seien. Vor diesem Hintergrund gelangte das BVwG auch zu der Feststellung, dass die Beschwerdeführer im Hinblick auf COVID-19 keiner Risikogruppe angehören. Grundsätze zur Pandemie sowie die Feststellung, dass aktuell gesunde Personen (ohne die oben angeführten Vorerkrankungen) nicht zur COVID-19 - Risikogruppe zählen, sind als notorisch anzusehen.

Betreffend der in der Beschwerde beantragten mündlichen Verhandlung ist darauf hinzuweisen, dass gegenständlicher Entscheidung ohnedies das Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin zugrunde gelegt wurde. In der Beschwerde wird ferner pauschal darauf Bezug genommen, dass weitere Ermittlungen hinsichtlich der Tante und des Onkels der Erstbeschwerdeführerin erforderlich gewesen wären, welche unweigerlich zu dem Ergebnis geführt hätten, dass die Erstbeschwerdeführerin mit diesen ein Familienleben aufweise, dass geeignet gewesen wäre, die Interessenabwägung zu ihren Gunsten ausfallen zu lassen. Nähere Ausführungen zur Ausgestaltung bzw. Intensität der Beziehung mit den genannten Verwandten können dem Schriftsatz jedoch nicht entnommen werden. Es kann daher nicht erkannt werden, aufgrund welcher Überlegungen in der Beschwerde angenommen wird, dass ein Familienleben zwischen der Erstbeschwerdeführerin und ihrer Tante sowie ihrem Onkel bestünde, zumal keinerlei Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein gemeinsamer Haushalt mit diesen besteht. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung bzw. weitere Ermittlungen waren somit auch in dieser Hinsicht nicht erforderlich (s. dazu unten die rechtliche Beurteilung).

3.       Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1. Zu Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide (Nichterteilung eines Aufenthaltstitels „aus berücksichtigungswürdigen Gründen“):

Die Prüfung zur Erteilung eines Aufenthaltstitels wurde vom BFA in einem amtswegigen Verfahren durchgeführt.

§ 57 AsylG lautet:

„Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz

§ 57. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen:

1. wenn der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Bundesgebiet gemäß § 46a Abs. 1 Z 1 oder Z 3 FPG seit mindestens einem Jahr geduldet ist und die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen, es sei denn, der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die Allgemeinheit oder Sicherheit der Republik Österreich dar oder wurde von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt. Einer Verurteilung durch ein inländisches Gericht ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht,

2. zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen, insbesondere an Zeugen oder Opfer von Menschenhandel oder grenzüberschreitendem Prostitutionshandel oder

3. wenn der Drittstaatsangehörige, der im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhältig oder nicht niedergelassen ist, Opfer von Gewalt wurde, eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO, RGBl. Nr. 79/1896, erlassen wurde oder erlassen hätte werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.

(2) Hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen nach Abs. 1 Z 2 und 3 hat das Bundesamt vor der Erteilung der „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ eine begründete Stellungnahme der zuständigen Landespolizeidirektion einzuholen. Bis zum Einlangen dieser Stellungnahme bei der Behörde ist der Ablauf der Fristen gemäß Abs. 3 und § 73 AVG gehemmt.

(3) Ein Antrag gemäß Abs. 1 Z 2 ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein Strafverfahren nicht begonnen wurde oder zivilrechtliche Ansprüche nicht geltend gemacht wurden. Die Behörde hat binnen sechs Wochen über den Antrag zu entscheiden.

(4) Ein Antrag gemäß Abs. 1 Z 3 ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn eine einstweilige Verfügung nach §§ 382b oder 382e EO nicht vorliegt oder nicht erlassen hätte werden können.

Der das Verfahren zur Erteilung von Aufenthaltstiteln regelnde § 58 AsylG normiert auszugsweise Folgendes:

„Antragstellung und amtswegiges Verfahren

§ 58. (1) Das Bundesamt hat die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 von Amts wegen zu prüfen, wenn

….

5. ein Fremder sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt.
(2) Die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 ist von Amts wegen zu prüfen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt wird.

….“

Der Aufenthalt der Beschwerdeführer ist nicht geduldet. Sie sind nicht Zeuge oder Opfer von strafbaren Handlungen und auch keine Opfer von Gewalt. Die Voraussetzungen für die amtswegige Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 liegen daher nicht vor, wobei dies weder im Verfahren noch in der Beschwerde auch nur behauptet wurde.

Im Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide sprach das BFA jeweils aus, dass den Beschwerdeführern ein Aufenthaltstitel „aus berücksichtigungswürdigen Gründen“ „gemäß §°57 AsylG“ nicht erteilt werde. Aus der Begründung der angefochtenen Bescheide geht hervor, dass mit dem Abspruch offensichtlich das in § 57 AsylG 2005 normierte Rechtsinstitut „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“, welcher Aufenthaltstitel von Amts wegen zu prüfen ist, gemeint ist. Dem war durch die Richtigstellung des Spruchs Rechnung zu tragen.

3.2. Zu Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide (Rückkehrentscheidung):

3.2.1. Gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält.

Die Beschwerdeführer sind Drittstaatsangehörige und halten sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet auf.

§ 55 AsylG lautet: 

"Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK

§ 55. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, wenn

1. dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und

2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955) erreicht wird.

(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist eine "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen."

Gemäß § 9 Abs. 2 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) i.d.F BGBl. I Nr. 70/2015 sind bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK insbesondere zu berücksichtigen:

"1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.“

Gemäß § 60 Abs. 1 AsylG 2005 dürfen Aufenthaltstitel einem Drittstaatsangehörigen nicht erteilt werden, wenn gegen ihn eine aufrechte Rückkehrentscheidung gemäß §§ 52 iVm 53 Abs. 2 oder 3 FPG besteht (Z 1), oder gegen ihn eine Rückführungsentscheidung eines anderen EWR-Staates oder der Schweiz besteht (Z 2).

Der mit „Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme“ übertitelte § 10 AsylG lautet in seinem Absatz 2 wie folgt:

㤠10.

(2) Wird einem Fremden, der sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG fällt, von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt, ist diese Entscheidung mit einer Rückkehrentscheidung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden.“

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Art. 8 Abs. 2 EMRK erfordert eine Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes; letztere verlangt eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen. Die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung ist dann gegeben, wenn der Konventionsstaat bei seiner aufenthaltsbeendenden Maßnahme einen gerechten Ausgleich zwischen dem Interesse des Fremden auf Fortsetzung seines Privat- und Familienlebens einerseits und dem staatlichen Interesse auf Verteidigung der öffentlichen Ordnung andererseits, also dem Interesse des Einzelnen und jenem der Gemeinschaft als Ganzes gefunden hat. Dabei variiert der Ermessensspielraum des Staates je nach den Umständen des Einzelfalles und muss in einer nachvollziehbaren Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form einer Interessenabwägung erfolgen. In diesem Sinne wird eine Ausweisung nicht erlassen werden dürfen, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wögen als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.

3.2.2. Bei dieser Interessenabwägung sind – wie in § 9 Abs. 2 BFA-VG unter Berücksichtigung der Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ausdrücklich normiert wird – insbesondere die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens, die Schutzwürdigkeit des Privatlebens, der Grad der Integration des Fremden, die Bindungen zum Heimatstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts, die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren sowie die Frage zu berücksichtigen, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (vgl. VfGH 29.09.2007, B 1150/07-9; VwGH 26.06.2007, 2007/01/0479; VwGH 26.01.2006, 2002/20/0423).

Zu den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 8 EMRK entwickelten Grundsätzen zählt unter anderem auch, dass das durch Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Familienlebens, das Vorhandensein einer „Familie“ voraussetzt.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) ist das nach Art. 8 EMRK geschützte Familienleben nicht auf durch Heirat rechtlich formalisierte Bindungen (‚marriage-based relationships‘) beschränkt, sondern erfasst auch andere faktische Familienbindungen (‚de facto family ties‘), bei denen die Partner außerhalb des Ehestandes zusammenleben (vgl. VwGH 23.2.2011, 2011/23/0097, und 8.9.2010, 2008/01/0551, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des EGMR). Zur Frage, ob eine nichteheliche Lebensgemeinschaft ein Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK begründet, stellt der EGMR auf das Bestehen enger persönlicher Bindungen ab, die sich in einer Reihe von Umständen - etwa dem Zusammenleben, der Länge der Beziehung oder der Geburt gemeinsamer Kinder - äußern können (vgl. VwGH 24.6.2019, Ra 2019/20/0101 mit Verweis auf das Urteil des EGMR 2.11.2010, Serife Yigit gegen die Türkei, Große Kammer, Beschwerde Nr. 3976/05, Rn. 93 und 96).

Unter dem "Privatleben" sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. Sisojeva ua gg Lettland, EuGRZ 2006, 554). In diesem Zusammenhang kommt dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu. Für den Aspekt des Privatlebens spielt auch die zeitliche Komponente im Aufenthaltsstaat eine Rolle, wobei die bisherige Rechtsprechung grundsätzlich keine Jahresgrenze festlegt, sondern eine Interessenabwägung im speziellen Einzelfall vornimmt (vgl. dazu Peter Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 MRK, in ÖJZ 2007, 852ff.).

Nach ständiger Rechtsprechung der Gerichtshöfe öffentlichen Rechts kommt dem öffentlichen Interesse aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung iSd Art 8 Abs 2 EMRK ein hoher Stellenwert zu. Der Verfassungsgerichtshof und der Verwaltungsgerichtshof haben in ihrer Judikatur ein öffentliches Interesse in dem Sinne bejaht, als eine über die Dauer des Asylverfahrens hinausgehende Aufenthaltsverfestigung von Personen, die sich bisher bloß auf Grund ihrer Asylantragsstellung im Inland aufhalten durften, verhindert werden soll (VfSlg. 17.516 und VwGH vom 26.06.2007, Zl. 2007/01/0479).

3.2.3. Bei der vorzunehmenden Interessensabwägung gemäß § 9 BFA-VG ist (bei Kindern) eine Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Kindeswohl erforderlich. Dabei dienen die in § 138 ABGB genannten Kriterien als Orientierungsmaßstab (VwGH vom 14.12.2020, Ra 2020/20/0408; VwGH vom 23.09.2020, Ra 2020/14/0175).

Fallbezogen ist insbesondere auf die Frage der angemessenen Versorgung und sorgfältigen Erziehung der Kinder (Z 1), der Förderung ihrer Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Entwicklungsmöglichkeiten (Z 4) sowie allgemein auf die Frage ihrer Lebensverhältnisse (Z 12) einzugehen. Aus der genannten Bestimmung ergibt sich überdies, dass auch die Meinung der Kinder zu berücksichtigen ist (Z 5) und, dass Beeinträchtigungen zu vermeiden sind, die Kinder durch die Um- und Durchsetzung einer Maßnahme gegen ihren Willen erleiden könnten (Z 6). Ein weiteres Kriterium ist die Aufrechterhaltung von verlässlichen Kontakten zu wichtigen Bezugspersonen und von sicheren Bindungen zu diesen Personen (Z 9) (VwGH vom 30.04.2020, Ra 2019/21/0362).

Um von einem - für die Abwägungsentscheidung relevanten - Grad an Integration (§ 9 Abs. 2 Z 4 BFA-VG) ausgehen zu können, müssen sich die betroffenen Minderjährigen während ihrer Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet bereits soweit integriert haben, dass aus dem Blickwinkel des Kindeswohles mehr für den Verbleib im Bundesgebiet als für die Rückkehr in den Herkunftsstaat spricht, und dieses private Interesse mit dem öffentlichen Interesse eines friedlichen Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Herkunft und damit des Zusammenhalts der Gesellschaft in Österreich korreliert. Aus der Sicht der Minderjährigen bedeutet dies vor allem, dass sie sich gute Kenntnisse der deutschen Sprache aneignen, ihre Aus- und/oder Weiterbildung entsprechend dem vorhandenen Bildungsangebot wahrnehmen und sich mit dem sozialen und kulturellen Leben in Österreich vertraut machen, um - je nach Alter fortschreitend - am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben in Österreich teilnehmen zu können (VwGH vom 25.04.2019, Ra 2018/22/0251).

Führt die Überprüfung des Kriteriums nach § 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG zu dem Ergebnis, dass ein Minderjähriger zum Heimatland keine oder nur mehr äußerst geringe Bindungen aufweist, wird das - vorausge

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten