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10/07 Verfassungs- und VerwaltungsgerichtsbarkeitNorm
B-VG Art77 Abs3Leitsatz
Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch Entscheidung eines Landesverwaltungsgerichts entgegen der Sperrwirkung eines vom Verwaltungsgerichtshof gefassten Beschlusses nach §38a VwGG betreffend die Verhängung von Geldstrafen nach dem GlücksspielG; Auslösung der Sperrwirkung auf Grund hinreichender Publizität auch durch Kundmachung im Bundesgesetzblatt Teil IRechtssatz
Mit Beschluss vom 27.04.2020, Ra 2020/17/0013-7, hat der VwGH ausgesprochen, es bestehe Grund zur Annahme, dass iSd §38a Abs1 VwGG eine erhebliche Anzahl von Revisionen eingebracht werden würde, in denen gleichartige Rechtsfragen zu lösen seien. Es gehe es um Rechtsfragen, bei denen der VwGH §52 Abs2 dritter Strafsatz GSpG idF BGBl I 13/2014 sowie §16 VStG, BGBl 52/1991, und §64 Abs2 VStG idF BGBl I 33/2013 anzuwenden hat. Der Beschluss wurde von der Bundesministerin für EU und Verfassung am 30.06.2020 im Bundesgesetzblatt I 55/2020 kundgemacht. Für die Beurteilung, ob die Entscheidung des Verwaltungsgerichtes gegen die Sperrwirkung des §38a Abs3 VwGG verstößt, ist jener Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung iSd §38a Abs3 Z1 lita VwGG "getroffen" wurde. Maßgeblich ist das Datum der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes. Das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich (LVwG) traf die Entscheidung vom 08.10.2020 nach Kundmachung des Beschlusses des Verwaltungsgerichtshofes gemäß §38a Abs1 VwGG und hatte dabei eine jener Rechtsvorschriften anzuwenden, die im Beschluss des VwGH angeführt sind.
Die Kundmachung des Beschlusses des VwGH nach §38a VwGG stellt eine besondere Form der Zustellung dar. Die Kundmachung bewirkt eine höhere Publizität des Beschlusses, durch welche die in §38a Abs3 VwGG bestimmten Rechtsfolgen (Sperrwirkungen) ausgelöst werden. Erfolgt die Kundmachung entgegen den gesetzlichen Vorgaben des §38a Abs2 VwGG, treten die in §38a Abs3 VwGG vorgesehenen Sperrwirkungen nicht ein. Aus dem Wort "ansonsten" in §38a Abs2 VwGG folgt, dass die Kundmachung ausschließlich dem Bundeskanzler bzw Landeshauptmann obliegt, wenn sich die Rechtsfragen zumindest auch auf Grund von Gesetzen ergeben. Betrifft der Beschluss des VwGH somit ein Bundesgesetz, ist der Bundeskanzler gemäß §38a Abs2 VwGG zur Kundmachung verpflichtet.
Art77 Abs3 zweiter Satz B-VG erlaubt es, die sachliche Leitung bestimmter, zum Wirkungsbereich des Bundeskanzleramtes gehörender Angelegenheiten "eigenen" - gemeint vom Bundeskanzler verschiedenen - Bundesministern zu übertragen (sogenannte "Kanzleramtsminister"). Mit Entschließung des Bundespräsidenten vom 29.01.2020, BGBl II 17/2020, übertrug der Bundespräsident der im Bundeskanzleramt angesiedelten Bundesministerin für EU und Verfassung unter anderem die sachliche Leitung der Angelegenheiten der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Die Bundesministerin für EU und Verfassung war daher - entgegen der Rechtsauffassung des LVwG - für die Kundmachung zuständig.
Der Beschluss des VwGH verpflichtet wörtlich zu dessen Kundmachung "im Bundesgesetzblatt". §38a Abs2 VwGG verpflichtet zur unverzüglichen Kundmachung eines Beschlusses nach §38a Abs1 VwGG, enthält aber keine Regelung darüber, wo ein solcher Beschluss kundzumachen ist. Eine zwingende Kundmachung eines Beschlusses nach §38a VwGG im Teil II des Bundesgesetzblattes wird - anders als das LVwG meint - auch in §4 Abs2 BGBlG nicht bestimmt.
Die erfolgte Kundmachung im Bundesgesetzblatt I war nach Auffassung des VfGH zweifellos geeignet, alle Adressaten des Beschlusses von dessen Inhalt in Kenntnis zu setzen. Im Sinne der Rsp des VfGH hat der Beschluss des VwGH nach §38a VwGG jedenfalls hinreichend Publizität erlangt, sodass der Beschluss die in §38a Abs2 VwGG vorgesehenen Rechtswirkungen entfaltet. Im Hinblick darauf ist nicht weiter zu untersuchen, in welchem Teil des Bundesgesetzblattes die Kundmachung des Beschlusses des VwGH nach dem Bundesgesetzblattgesetz einzureihen ist.
Anders als das LVwG meint, steht die Sperrwirkung eines Beschlusses nach §38a VwGG dem unionsrechtlichen Gebot der unmittelbaren Anwendbarkeit von Unionsrecht durch die innerstaatlichen Gerichte nicht entgegen. §38a Abs3 VwGG bewirkt, dass vor dem LVwG anhängige Verfahren betreffend die im Beschluss des VwGH nach §38a Abs1 VwGG genannten Rechtsvorschriften und Rechtsfragen grundsätzlich bis zur Kundmachung der Rechtssätze durch den Verwaltungsgerichtshof nach §38a Abs4 VwGG unterbrochen sind. Ein Beschluss nach §38a VwGG bewirkt jedoch nicht, dass das LVwG im Rahmen seiner Zuständigkeit innerstaatliche gesetzliche Vorschriften zugrunde zu legen hat, die offenkundig einer unmittelbar anwendbaren Bestimmung des Unionsrechtes widersprechen.
Soweit das LVwG weiters einen Verstoß des §38a Abs3 VwGG gegen Art6 EMRK und Art47 GRC behauptet, weil die Sperrwirkung des Beschlusses nach §38a VwGG in Verwaltungsstrafsachen mit den "Anforderungen an eine Entscheidung binnen angemessener Frist" nicht vereinbar sei, ist darauf hinzuweisen, dass die Bestimmungen des §38a VwGG - im Interesse des Beschwerdeführers - der Verfahrensökonomie und der Sicherstellung der (Unions-)Rechtskonformität der Entscheidungen der Verwaltungsgerichte dienen. Ein Verstoß des §38a Abs3 VwGG gegen Art6 EMRK oder Art47 GRC liegt insoweit nicht vor.
Entscheidungstexte
Schlagworte
Glücksspiel, Verwaltungsgerichtshof, Kundmachung, Bindung (der Verwaltungsgerichte an VwGH), Verwaltungsstrafrecht, EU-RechtEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2021:E4041.2020Zuletzt aktualisiert am
11.05.2022