TE Vfgh Erkenntnis 2021/9/22 E2739/2021

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Veröffentlicht am 22.09.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten betreffend einen Staatsangehörigen von Afghanistan; keine Auseinandersetzung mit aktuellen Länderberichten des EASO zu Personen, die lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben

Spruch

I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und gegen die Festsetzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, welcher der Volksgruppe der Paschtunen angehört und sich zum sunnitischen Glauben bekennt. Er wurde in der Provinz Nangarhar, im Distrikt Dschalalabad, im Jahr 1997 geboren und wuchs dort bis zu seiner Ausreise nach Pakistan im Alter von circa zwölf Jahren gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern auf.

2. Der Beschwerdeführer stellte in Österreich am 2. Juli 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend führte er im Wesentlichen aus, dass er aus Afghanistan auf Grund von Grundstücksstreitigkeiten innerhalb der Familie geflüchtet sei. Zudem herrsche in Afghanistan Krieg und die Lage sei dort unsicher.

3. Mit Bescheid vom 31. August 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab. Einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Beschwerdeführer nicht, sondern erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Zudem legte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt IV.).

4. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 28. Jänner 2019 wurde das Verfahren über den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß §24 Abs2 AsylG 2005 wegen unbekannten Aufenthaltes des Beschwerdeführers, der seit 28. Mai 2018 über keine aufrechte Wohnsitzmeldung in Österreich mehr verfügte, eingestellt.

5. Mit Schreiben vom 17. August 2020 beantragte der Beschwerdeführer die Fortsetzung des Verfahrens über seinen Antrag auf internationalen Schutz.

6. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 14. Oktober 2020 wurde das Verfahren über den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß §24 Abs2 AsylG 2005 fortgesetzt.

7. Die gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 31. August 2017 erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis vom 4. Juni 2021 als unbegründet ab. Da das Fluchtvorbringen nicht glaubhaft sei, schließt das Bundesverwaltungsgericht eine asylrelevante Verfolgung aus. Ebenso wenig habe eine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu prognostizierende, individuelle und konkret gegen den Beschwerdeführer gerichtete Verfolgung abgeleitet werden können.

Das Bundesverwaltungsgericht erachtet auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten für nicht gegeben. Das Bundesverwaltungsgericht begründet die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten damit, dass dem Beschwerdeführer zwar eine Rückkehr in seine Herkunftsregion, in die Provinz Nangarhar, nicht zugemutet werden könne, ihm jedoch eine innerstaatliche Fluchtalternative in der Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung stehe. Zu den persönlichen Umständen des Beschwerdeführers führt das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung Folgendes aus:

"Der Beschwerdeführer verfügt zwar über keine Berufserfahrung, ist aber jung, in Afghanistan aufgewachsen, beherrscht neben Paschtu und Dari zudem Urdu, ist arbeitsfähig und weist eine mehrjährige Schulbildung auf; es ist daher davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer in der Lage sein wird, durch eigene Erwerbstätigkeit – zunächst etwa im Rahmen von einfachen Hilfstätigkeiten – seinen notwendigen Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Schwierigkeiten bei der Arbeitsplatzfindung bedeuten überdies noch nicht, dass es für den Beschwerdeführer unter vollständiger Bedachtnahme auf seine persönlichen Umstände nicht möglich wäre, Arbeit zu finden.

[…]

Es gibt somit keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer in Ansehung existentieller Grundbedürfnisse (etwa Nahrung, Unterkunft) einer ausweglosen beziehungsweise existenzbedrohenden Situation ausgesetzt wäre. Es ist überdies davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer durch seine in Österreich lebenden Familienangehörigen – insbesondere durch seine Eltern, in deren Haushalt er auch derzeit wohnt, sowie seine Geschwister – zumindest vorübergehend finanzielle Unterstützung erhalten kann."

In der rechtlichen Begründung in Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten führt das Bundesverwaltungsgericht Folgendes aus:

"Gründe, die die Annahme rechtfertigen würden, der Beschwerdeführer liefe allein durch seine Anwesenheit in Mazar-e Sharif tatsächlich Gefahr, einen ernsthaften Schaden, der nach §8 Abs1 AsylG 2005 die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würde, zu erleiden, sind nicht erkennbar. Auch die Grundversorgung der afghanischen Bevölkerung in der Stadt Mazar-e Sharif ist, wie beweiswürdigend dargelegt, zumindest grundlegend gesichert; es ist im Fall des Beschwerdeführers davon auszugehen, dass dieser durch eigene Erwerbstätigkeit in der Lage sein wird, seinen notwendigen Lebensunterhalt in Mazar-e Sharif zu sichern und insbesondere Zugang zu Nahrungs- und Wasserversorgung, Wohnung und Erwerbsmöglichkeiten hat. Durch eine Rückführung des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat besteht zwar, wie aus obigen Erwägungen ersichtlich ist, die Möglichkeit, dass der Beschwerdeführer mit einer schwierigen Lebenssituation, insbesondere bezüglich der Arbeitsplatzsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, konfrontiert wäre. Der Beschwerdeführer läuft jedoch im Fall seiner Abschiebung nach Afghanistan und einer Ansiedelung in der Stadt Mazar-e Sharif nicht Gefahr, in eine ausweglose Lebenssituation geraten und eine Verletzung seiner durch Art2 EMRK, Art3 EMRK oder der durch die Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur Konvention geschützten Rechte zu erleiden.

[…]

Dabei wird nicht außer Acht gelassen, dass der Beschwerdeführer im Hinblick auf seine psychischen Probleme zu einer vulnerablen Personengruppe gehört. Der Beschwerdeführer ist jedoch jung und insbesondere arbeitsfähig, verfügt über mehrjährige Schulbildung, ist aufgrund seines Aufwachsens in Afghanistan und im afghanischen Familienverband mit den in seinem Herkunftsland herrschenden Gegebenheiten gut vertraut, verfügt nach wie vor über familiäre Anknüpfungspunkte in Afghanistan, zu denen er regelmäßig Kontakt hat, lebte bereits in der Vergangenheit auf sich allein gestellt außerhalb seines Familienverbandes und kann überdies bei Bedarf zumindest vorübergehend finanzielle Unterstützung durch seine in Österreich lebenden Familienangehörigen erhalten. Es ist daher davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer bei einer Ansiedlung in Mazar-e Sharif in der Lage sein wird, durch eigene Erwerbstätigkeit und mit Unterstützung durch seine Familienangehörigen für einen angemessenen Lebensstandard zu sorgen. Aufgrund der den Beschwerdeführer erwartenden Lebenssituation, in der es ihm möglich ist, als Mann mit den oben beschriebenen individuellen Merkmalen in einem hinreichend sicheren afghanischen urbanen Gebiet durch eigene Erwerbstätigkeit und mit Unterstützung durch seine Familienangehörigen für seine Grundbedürfnisse aufzukommen und für sein Fortkommen sowie einen angemessenen Lebensstandard zu sorgen, ist ihm die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Mazar-e Sharif daher auch zumutbar. Die Prüfung der maßgeblichen Kriterien führt im konkreten Fall zu dem Ergebnis, dass dem Beschwerdeführer eine Rückkehr nach Afghanistan, konkret in die Stadt Mazar-e Sharif, möglich und auch zumutbar ist."

8. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 BVG zur Durchführung des internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung), behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof beantragt wird.

9. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber Abstand genommen und die Abweisung der Beschwerde beantragt.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die Abweisung der Beschwerde durch das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, der Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung, der Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und der Festsetzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise richtet, begründet:

2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

3. Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht bei seiner Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten unterlaufen:

3.1. Das Bundesverwaltungsgericht verweist im Rahmen seiner Feststellungen zunächst allgemein auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 1. April 2021, auf die "EASO Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020" sowie auf die "UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Schutzsuchender vom 30.8.2018".

3.2. Aus der "Country Guidance: Afghanistan – Guidance note and common analysis" des EASO mit dem Stand Dezember 2020 (Vergleichbares ergibt sich bereits aus den im Juni 2018 und Juni 2019 veröffentlichten Fassungen), auf die sich das Bundesverwaltungsgericht bezieht, geht hervor, dass für jene Gruppe von Rückkehrern nach Afghanistan, die entweder außerhalb Afghanistans geboren wurden oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben, eine innerstaatliche Fluchtalternative dann nicht in Betracht komme, wenn am Zielort der aufenthaltsbeendenden Maßnahme kein Unterstützungsnetzwerk für die konkrete Person vorhanden sei, das sie bei der Befriedigung grundlegender existenzieller Bedürfnisse unterstützen könne, und dass es einer Beurteilung im Einzelfall unter Heranziehung der folgenden Kriterien bedürfe: Unterstützungsnetzwerk, Ortskenntnis der betroffenen Person bzw Verbindungen zu Afghanistan sowie sozialer und wirtschaftlicher Hintergrund, insbesondere Bildungs- und Berufserfahrung einschließlich Selbsterhaltungsfähigkeit außerhalb Afghanistans (vgl zB VfGH 12.12.2019, E3369/2019).

Derartigen Länderberichten, wie insbesondere auch den Richtlinien des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (United Nations High Commissioner for Refugees – UNHCR) und der “EASO Country Guidance“, ist bei der Beurteilung der Situation im Rückkehrstaat bei der Prüfung, ob dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen ist, besondere Beachtung zu schenken (vgl VfGH 12.12.2019, E3369/2019; 12.12.2019, E2692/2019; 4.3.2020, E4399/2019 jeweils mwN; vgl auch VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0533; 17.12.2019, Ra 2019/18/0278 ua). Das bedeutet insbesondere, dass sich das Bundesverwaltungsgericht mit den aus diesen Länderberichten hervorgehenden Problemstellungen im Hinblick auf eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan, und zwar in Bezug auf die konkrete Situation des Beschwerdeführers, auseinanderzusetzen hat.

Das Bundesverwaltungsgericht lässt im Rahmen der rechtlichen Beurteilung, ob eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan zulässig ist, sowohl die in der EASO-Country Guidance enthaltene spezifische Berichtslage als auch den Umstand gänzlich unberücksichtigt, dass der Beschwerdeführer nur bis zu seinem circa zwölften Lebensjahr in Afghanistan gelebt hat. Das Bundesverwaltungsgericht stellt in diesem Zusammenhang fälschlicherweise fest, dass der Beschwerdeführer ab dem Jahr 2009 abwechselnd in Pakistan und Afghanistan gelebt habe. Diese Feststellungen decken sich jedoch nicht mit den Aussagen des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung, in der er angab, seit seinem zwölften Lebensjahr nicht mehr in Afghanistan gelebt zu haben. Er sei ausschließlich kurz vor seiner Ausreise in Afghanistan gewesen, um einen Schlepper zu organisieren. Den Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Geburtsort und seinen bisherigen Aufenthaltsorten schenkte das Bundesverwaltungsgericht in seiner Beweiswürdigung vollen Glauben. Auf Grund der Verwaltungsakten und der Niederschrift der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht ist daher davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer seit seinem zwölften Lebensjahr nicht mehr in Afghanistan, sondern bis zu seiner Asylantragstellung im Bundesgebiet ausschließlich in Pakistan gelebt hat.

Nach der maßgeblichen Berichtslage müssen zu den vom Bundesverwaltungsgericht festgestellten Umständen (wie sie für alleinstehende, gesunde Männer im erwerbsfähigen Alter, die in Afghanistan aufgewachsen sind oder längere Zeit dort gelebt haben, eine innerstaatliche Fluchtalternative unter anderem in Mazar-e Sharif zumutbar erscheinen lassen) für Rückkehrer wie den Beschwerdeführer, der seit seinem zwölften Lebensjahr außerhalb Afghanistans gelebt hat, qualifizierte Umstände, insbesondere im Hinblick auf Unterstützungsnetzwerk, Ortskenntnis der betroffenen Person sowie Bildungs- und Berufserfahrung einschließlich Selbsterhaltungsfähigkeit außerhalb Afghanistans, hinzutreten, um von einer im Hinblick auf Art2 und 3 EMRK zumutbaren Rückkehrsituation ausgehen zu können (siehe nur VfGH 12.12.2019, E3369/2019; 12.12.2019, E2692/2019; 4.3.2020, E4399/2019; weiters etwa VfGH 26.2.2020, E188/2020; 9.6.2020, E3835/2019; 14.7.2020, E4666/2019; vgl in diesem Sinn etwa auch VwGH 28.8.2019, Ra 2018/14/0308; 17.12.2019, Ra 2019/18/0405 sowie VwGH 28.1.2020, Ra 2019/18/0204). Rückkehrer, die nie, nur im Kleinkindalter oder nur sehr kurze Zeit selbst in Afghanistan gelebt haben, stehen nämlich gegenüber solchen, die in Afghanistan aufgewachsen sind, bei der Sicherung ihrer grundlegenden existenziellen Bedürfnisse vor besonders kritischen Herausforderungen, mit denen sich die Behörde und das Bundesverwaltungsgericht auseinanderzusetzen haben (der Verfassungsgerichtshof sieht sich daher auch angesichts anderer Einzelfallentscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes – siehe etwa VwGH 12.12.2019, Ra 2019/01/0243; 12.3.2020, Ra 2019/01/0347 – nicht dazu veranlasst, von seiner bisherigen Rechtsprechung abzugehen; vgl bereits VfGH  6.10.2020, E2795/2019; 6.10.2020, E1887/2020; 7.10.2020, E2273/2020; 24.11.2020, E4141/2019; 24.11.2020, E2304/2020).

3.3. Das Bundesverwaltungsgericht geht in seinem Erkenntnis offenkundig von einem Personenprofil des Beschwerdeführers aus, das sich auf alleinstehende, gesunde Männer im erwerbsfähigen Alter bezieht, die in Afghanistan aufgewachsen sind, und lässt dieses auch für die maßgebliche Situation des Beschwerdeführers, der Afghanistan im Alter von circa zwölf Jahren verlassen hat, ausreichen. Indem das Bundesverwaltungsgericht von einer zumutbaren Rückkehrsituation ausgeht, dabei die aktuellen Länderberichte in Bezug auf das spezifische Personenprofil des Beschwerdeführers nicht berücksichtigt und sich damit mit dessen konkreter Situation nicht auseinandersetzt, hat es in einem entscheidenden Punkt jegliche Ermittlungstätigkeit unterlassen und damit sein Erkenntnis – soweit es sich auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und daran anknüpfend auf die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, auf die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise bezieht – mit Willkür belastet.

4. Im Übrigen, soweit sich die Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet, wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und gegen die Festsetzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese gemäß Art144 Abs3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG; zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 vgl VfSlg 19.867/2014).

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Entscheidungsbegründung, Ermittlungsverfahren, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E2739.2021

Zuletzt aktualisiert am

25.11.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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