TE Vfgh Erkenntnis 2021/9/22 E2640/2021

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Veröffentlicht am 22.09.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten betreffend einen Staatsangehörigen von Afghanistan; keine ausreichende Auseinandersetzung mit aktuellen Länderberichten des EASO zu Personen, die lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben

Spruch

I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 BVG zur Durchführung des internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

II. Dem Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe wird stattgegeben.

III. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer, geboren am 4. April 1980 in Maidan Wardak, ist Staatsangehöriger Afghanistans und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Er reiste im Alter von zwei Jahren mit seiner Familie in den Iran, wo er bis zu seiner Ausreise nach Österreich im Jahr 2015 lebte.

2. Der Beschwerdeführer stellte am 15. Juli 2015 erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz. Er begründete diesen Antrag im Wesentlichen damit, dass er von iranischen Behörden unter Vorschlag einer freiwilligen Rekrutierung für den Krieg in Syrien im Gegenzug zum Erhalt eines Aufenthaltstitels festgenommen worden und auf Grund dessen aus dem Iran ausgereist sei, um sowohl einer Zwangsrekrutierung als auch einer Abschiebung nach Afghanistan zu entgehen. Zudem seien sein Vater und sein Onkel von "Kuchi" Nomaden ermordet worden. Er habe im Iran Morddrohungen von seinen Nachbarn erhalten. Außerdem sei er gegenüber anderen in Afghanistan aufhältigen Personen in einem höheren Maße gefährdet, weil er sich mit dem Christentum verbunden fühle, regelmäßig Gottesdienste besuche, an einem Taufkurs teilnehme und die Scharia nicht mehr praktiziere. Wenn er in Afghanistan nicht nach den Grundsätzen der Scharia lebe, werde er von seinem Stamm getötet. Er habe zudem keine familiären Anknüpfungspunkte in Afghanistan, seine gesamte Familie lebe im Iran. Mit Erkenntnis vom 20. Februar 2019 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde gegen den abweisenden Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl ab. Das Vorbringen des Beschwerdeführers sei nicht glaubhaft und es herrsche in Afghanistan auch keine Situation, welche die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertige.

3. Am 17. Juni 2019 stellte der Beschwerdeführer neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz. Dabei gab er im Wesentlichen an, dass er in Österreich zum Christentum konvertiert sei. Er sei etwa seit eineinhalb Jahren von Herzen Christ und wolle belegen, dass er nun integriert sei. In seinem Heimatdorf habe es sich herumgesprochen, dass er Christ geworden sei, weshalb er in Gefahr sei, wenn er dorthin abgeschoben werden würde. In Österreich praktiziere er seinen neuen Glauben und werde dies auch im Herkunftsstaat tun. Mit Erkenntnis vom 29. Juli 2019 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde gegen den zurückweisenden Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gemäß §68 Abs1 AVG ab. Der Beschwerdeführer habe seinen zweiten Asylantrag auf Tatsachen gestützt, die bereits im ersten Asylverfahren vorgebracht worden seien. Aus diesem Grund liege schon nach dem Vorbringen des Beschwerdeführers im Hinblick auf seine Konversion keine relevante Sachverhaltsänderung vor, die eine neue Sachentscheidung ermögliche. Der vorgebrachten Bedrohung durch Dorfbewohner seines Heimatdorfes sei ein "glaubhafter Kern" abzusprechen.

4. Am 27. Dezember 2019 stellte der Beschwerdeführer seinen dritten und im Beschwerdefall maßgeblichen Antrag auf internationalen Schutz. Dabei gab er zusammenfassend an, dass er während seiner Schubhaft von einem Vertreter der afghanischen Botschaft bedroht worden sei. Zudem seien seine bereits in den ersten beiden Asylverfahren vorgebrachten Fluchtgründe weiterhin aufrecht. Auf Grund seiner Konversion zum Christentum sei er in Afghanistan gefährdet. Die afghanische Regierung wisse nun von seiner Konversion.

5. Mit Bescheid vom 14. Jänner 2021 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab. Einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilte das Bundesamt für Fremdenwesen dem Beschwerdeführer nicht (Spruchpunkt III.). Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl legte die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt IV.) und wies den Antrag des Beschwerdeführers auf Aussetzung des Verfahrens gemäß §38 AVG ab (Spruchpunkt V.).

6. Mit Erkenntnis vom 19. Mai 2021 wies das Bundesverwaltungsgericht die vom Beschwerdeführer gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl erhobene Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Im Wesentlichen schließt das Bundesverwaltungsgericht zunächst eine asylrelevante Verfolgung mangels glaubhaften Fluchtvorbringens aus. Das Fluchtvorbringen sei nicht glaubhaft, weil sich der Beschwerdeführer in Widersprüche verstrickt habe und seine Angaben nicht schlüssig gewesen seien.

Bezüglich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten begründete das Bundesverwaltungsgericht seine Entscheidung im Wesentlichen damit, dass eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des Beschwerdeführers in seiner Heimatprovinz Maidan Wardak auf Grund der instabilen Sicherheitslage sowie der schlechten Erreichbarkeit nicht ausgeschlossen werden könne. Der Beschwerdeführer könne sich jedoch in den Städten Mazar-e Sharif und Herat niederlassen und dort seine Existenz aufbauen. Es sei anzunehmen, dass sich der Beschwerdeführer in seinem Heimatstaat auch ohne familiäre Anknüpfungspunkte in Mazar-e Sharif oder Herat ein ausreichendes Einkommen, notfalls mit Hilfstätigkeiten, sichern könne.

Zu den persönlichen Umständen des Beschwerdeführers führt das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung Folgendes aus:

"Beim Beschwerdeführer handelt es sich um einen arbeitsfähigen[,] jungen[] Mann, der bereits Berufserfahrung als Tischler und Händler vorweist und bei dem die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden kann. Dieser wurde nach seinen eigenen Angaben im Iran von einer afghanischen Familie aufgezogen und ist daher mit den wesentlichen Gegebenheiten, Bräuchen als auch mit mehreren Sprachen Afghanistans, der Beschwerdeführer spricht nach eigenen Angaben Dari und Farsi, jedenfalls vertraut. Der BF kann zudem auch die Hilfe von vor Ort tätigen NGOs, sowie Leistungen aus der Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.

[…]

Vor dem Hintergrund der Sicherheits- und Versorgunglage in Mazar-e Sharif und Herat war auf Basis dieser persönlichen Merkmale des Beschwerdeführers in einer Gesamtschau festzustellen, dass in diesen Städten weder ein solcher Grad an willkürlicher Gewalt herrscht, dass er allein durch seine Anwesenheit tatsächlich einer ernsthaften, individuellen Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit ausgesetzt ist, noch dass er Gefahr läuft, dort grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw existenzbedrohende Situation zu geraten."

In der rechtlichen Beurteilung zur Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten führt das Bundesverwaltungsgericht Folgendes aus:

"Wie festgestellt wurde, ist der Beschwerdeführer volljährig, arbeitsfähig sowie im erwerbsfähigen Alter. Er hat sieben Jahre lang im Iran die Schule besucht. Der Beschwerdeführer gehört auch keinem Personenkreis an, von dem anzunehmen ist, dass er sich in Bezug auf die individuelle Versorgungslage qualifiziert schutzbedürftiger darstellt als die übrige Bevölkerung, die ebenfalls für ihre Existenzsicherung aufkommen kann. Der Beschwerdeführer hat sich zwar noch nie in Mazar-e Sharif oder Herat aufgehalten und verfügt dort auch über kein familiäres bzw soziales Netzwerk, es ist aber davon auszugehen, dass sich der Beschwerdeführer in Mazar-e Sharif oder Herat innerhalb kurzer Zeit Ortskenntnisse aneignen kann. Der Beschwerdeführer kann auch Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen. Es ist deshalb auch nicht zu befürchten, dass er bereits unmittelbar nach seiner Rückkehr und noch bevor er in der Lage wäre, selbst für seinen Unterhalt zu sorgen, in eine existenzbedrohende bzw wirtschaftlich ausweglose Lage geraten würde.

[…]

In Zusammenschau ergibt sich, dass für den Beschwerdeführer die Möglichkeit für eine den durchschnittlichen afghanischen Verhältnissen entsprechende einfache Lebensführung realistisch ist und keine konkreten Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr einem realen Risiko einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wäre. Unter diesen Gesichtspunkten kann davon ausgegangen werden, dass er auch nach seiner Rückkehr in seine Heimat in der Lage sein wird, sich seinen Lebensunterhalt zu sichern."

7. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI BVG zur Durchführung des internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung) sowie im Recht gemäß Art3 EMRK, nicht der Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden, behauptet und mit näherer Begründung die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof sowie die Gewährung von Verfahrenshilfe im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita bis d ZPO beantragt wird.

8. Das Bundesverwaltungsgericht legte die Gerichts- und Verwaltungsakten vor, sah jedoch unter Verweis auf die Begründung der angefochtenen Entscheidung von der Erstattung einer Gegenschrift ab und beantragte, die Beschwerde abzuweisen.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise richtet, begründet:

2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht bei seiner Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten unterlaufen:

3.1. Das Bundesverwaltungsgericht verweist im Rahmen seiner Beweiswürdigung zunächst allgemein auf das "Länderinformationsblatt der Staatendokumentation über Afghanistan vom 1. April 2021", auf die "UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018" und auch auf die "EASO, Country Guidance Afghanistan Dezember 2020", ferner auf zwei Anfragebeantwortungen vom 21. August 2020 hinsichtlich der medizinischen Versorgung in Afghanistan.

3.2. Aus der "Country Guidance: Afghanistan – Guidance note and common analysis" des EASO mit dem Stand Dezember 2020 (Vergleichbares ergibt sich bereits aus den im Juni 2018 und Juni 2019 veröffentlichten Fassungen), auf die sich das Bundesverwaltungsgericht bezieht, geht hervor, dass für jene Gruppe von Rückkehrern nach Afghanistan, die entweder außerhalb Afghanistans geboren wurden oder lange Zeit außerhalb Afghanistans gelebt haben, eine innerstaatliche Fluchtalternative dann nicht in Betracht komme, wenn am Zielort der aufenthaltsbeendenden Maßnahme kein Unterstützungsnetzwerk für die konkrete Person vorhanden sei, das sie bei der Befriedigung grundlegender existenzieller Bedürfnisse unterstützen könne, und dass es einer Beurteilung im Einzelfall unter Heranziehung der folgenden Kriterien bedürfe: Unterstützungsnetzwerk, Ortskenntnis der betroffenen Person bzw Verbindungen zu Afghanistan sowie sozialer und wirtschaftlicher Hintergrund, insbesondere Bildungs- und Berufserfahrung einschließlich Selbsterhaltungsfähigkeit außerhalb Afghanistans (vgl zB VfGH 12.12.2019, E3369/2019).

Derartigen Länderberichten, wie insbesondere auch den Richtlinien des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (United Nations High Commissioner for Refugees – UNHCR) und der "EASO Country Guidance", ist bei der Beurteilung der Situation im Rückkehrstaat bei der Prüfung, ob dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen ist, besondere Beachtung zu schenken (vgl VfGH 12.12.2019, E3369/2019; 12.12.2019, E2692/2019; 4.3.2020, E4399/2019 jeweils mwN; vgl auch VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0533; 17.12.2019, Ra 2019/18/0278 ua). Das bedeutet insbesondere, dass sich das Bundesverwaltungsgericht mit den aus diesen Länderberichten hervorgehenden Problemstellungen im Hinblick auf eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan, und zwar in Bezug auf die konkrete Situation des Beschwerdeführers, auseinanderzusetzen hat.

3.3. Das Bundesverwaltungsgericht nimmt zunächst darauf Bezug, dass der Beschwerdeführer über Berufserfahrung als Tischler und Händler verfüge. Es unterlässt diesbezüglich jedoch jegliche näheren Ausführungen, insbesondere in welchen Alter, wie lange und wo der Beschwerdeführer diese Tätigkeiten ausübte. Das Bundesverwaltungsgericht unterließ jegliche Prüfung, inwieweit der Beschwerdeführer damit über eine solche Berufserfahrung verfügt, die begründet vermuten lässt, dass er sich auch in seiner konkreten Rückkehrsituation selbst erhalten kann. Darüber hinaus bezieht sich das Bundesverwaltungsgericht auf die Sozialisierung des Beschwerdeführers in seiner afghanischen Familie im Iran und auf die Tatsache, dass es sich bei dem Beschwerdeführer um einen jungen und arbeitsfähigen Mann handle, welcher der Landessprache mächtig sei und im Iran sieben Jahre lang die Grundschule besucht habe. Er habe zwar nie in den Städten Mazar-e Sharif und Herat gelebt und verfüge dort über keine familiären Anknüpfungspunkte, dennoch sei es ihm auf Grund seiner individuellen Situation (konkret: seiner Arbeitserfahrung sowie seiner Sprachkenntnisse) möglich, seine Existenz in diesen Städten aufzubauen.

3.4. Wenn das Bundesverwaltungsgericht auf dieser Grundlage den Schluss zieht, dass dem Beschwerdeführer eine innerstaatliche Fluchtalternative in Mazar-e Sharif oder Herat Stadt in zumutbarer Weise zur Verfügung stehe und daran die Herausforderungen bei einer Rückkehr von Menschen, die nie in Afghanistan gelebt haben, insbesondere im Zusammenhang mit fehlenden sozialen Netzwerken, nichts änderten, nimmt es eine so qualifiziert fehlerhafte Beurteilung des dargestellten Sachverhaltes, insbesondere der EASO Country-Guidance vom Dezember 2020 vor, dass der Fehler in die Verfassungssphäre reicht:

Nach der maßgeblichen Berichtslage müssen nämlich zu den vom Bundesverwaltungsgericht festgestellten Umständen (wie sie für alleinstehende, gesunde Männer im erwerbsfähigen Alter, die in Afghanistan aufgewachsen sind oder längere Zeit dort gelebt haben, eine innerstaatliche Fluchtalternative unter anderem in Mazar-e Sharif oder Herat zumutbar erscheinen lassen) für Rückkehrer wie den Beschwerdeführer, der seit dem zweiten Lebensjahr außerhalb Afghanistans gelebt hat, qualifizierte Umstände, insbesondere im Hinblick auf Unterstützungsnetzwerk, Ortskenntnis der betroffenen Person sowie Bildungs- und Berufserfahrung einschließlich Selbsterhaltungsfähigkeit außerhalb Afghanistans, hinzutreten, um von einer im Hinblick auf Art2 und 3 EMRK zumutbaren Rückkehrsituation ausgehen zu können (siehe nur VfGH 12.12.2019, E3369/2019; 12.12.2019, E2692/2019; 4.3.2020, E4399/2019; weiters etwa VfGH 26.2.2020, E188/2020; 9.6.2020, E3835/2019; 14.7.2020, E4666/2019; vgl in diesem Sinn etwa auch VwGH 28.8.2019, Ra 2018/14/0308; 17.12.2019, Ra 2019/18/0405 sowie VwGH 28.1.2020, Ra 2019/18/0204). Rückkehrer, die nie, nur im Kleinkindalter oder nur sehr kurze Zeit selbst in Afghanistan gelebt haben, stehen nämlich gegenüber solchen, die in Afghanistan aufgewachsen sind, bei der Sicherung ihrer grundlegenden existenziellen Bedürfnisse vor besonders kritischen Herausforderungen, mit denen sich die Behörde und das Bundesverwaltungsgericht auseinanderzusetzen haben (der Verfassungsgerichtshof sieht sich daher auch angesichts anderer Einzelfallentscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes – siehe etwa VwGH 12.12.2019, Ra 2019/01/0243; 12.3.2020, Ra 2019/01/0347 – nicht dazu veranlasst, von seiner bisherigen Rechtsprechung abzugehen; vgl bereits VfGH  6.10.2020, E2795/2019; 6.10.2020, E1887/2020; 7.10.2020, E2273/2020; 24.11.2020, E4141/2019; 24.11.2020, E2304/2020).

3.5. Solche Umstände liegen jedoch im Hinblick auf den Beschwerdeführer nach den Feststellungen und Ausführungen im angefochtenen Erkenntnis nicht vor:

Der Beschwerdeführer verfügt weder über ein Unterstützungsnetzwerk in Afghanistan noch über Ortskenntnisse in Mazar-e Sharif und Herat oder eine besondere Ausbildung, die seine Selbsterhaltungsfähigkeit in Afghanistan nahelegen. Das Bundesverwaltungsgericht geht vielmehr von einem Personenprofil des Beschwerdeführers aus, das sich auf alleinstehende, gesunde Männer im erwerbsfähigen Alter bezieht, die in Afghanistan aufgewachsen sind, und lässt dieses auch für die maßgebliche Situation des Beschwerdeführers, der im Iran aufgewachsen ist, ausreichen. Damit verkennt es aber die spezifische Situation, wie sie sich für den Beschwerdeführer als Rückkehrer nach Afghanistan in den Neuansiedlungsgebieten Mazar-e Sharif und Herat ergibt, in qualifizierter Weise.

3.6. Aus diesem Grund ist die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes, soweit sie sich auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und – daran knüpfend – die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise bezieht, mit Willkür behaftet, und insoweit aufzuheben.

4. Die Behandlung der Beschwerde wird im Übrigen, soweit damit die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten und die Abweisung des Antrages auf Aussetzung des Verfahrens gemäß §38 AVG bekämpft wird, aus folgenden Gründen abgelehnt:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Die vorliegende Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Nach den Beschwerdebehauptungen wären diese Rechtsverletzungen aber zum erheblichen Teil nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen insoweit nicht anzustellen.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wurde, in dem durch ArtI Abs1 BVG zur Durchführung des internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese gemäß Art144 Abs3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG; zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 vgl VfSlg 19.867/2014).

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.

Schlagworte

Asylrecht, Entscheidungsbegründung, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E2640.2021

Zuletzt aktualisiert am

25.11.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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