TE Vfgh Erkenntnis 2021/9/22 E1357/2021

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Veröffentlicht am 22.09.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §3, §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Abweisung eines Antrags auf internationalen Schutz betreffend einen Staatsangehörigen von Afghanistan mangels Auseinandersetzung mit dem vorgebrachten Fluchtvorbringen (Dolmetscher für die US-Behörden) vor dem Hintergrund der Länderinformationen

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.420,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1.1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte zunächst in Bulgarien am 18. November 2014 einen Antrag auf internationalen Schutz und reiste in der Folge weiter nach Österreich, wo er erstmals am 3. Dezember 2014 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Mit Bescheid vom 23. März 2015 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag mit der Begründung als unzulässig zurück, dass Bulgarien für die Prüfung des Antrages zuständig sei. Weiters wurde die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Bulgarien zulässig ist. Nach der Rücküberstellung des Beschwerdeführers reiste dieser erneut nach Österreich ein und stellte am 23. April 2018 einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz. Diesen zweiten Antrag auf internationalen Schutz wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, nachdem das Bundesverwaltungsgericht die zuvor ergangenen zurückweisenden Entscheidungen aufgehoben hatte, mit Bescheid vom 22. Februar 2019 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten als unbegründet ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist, und setzte eine Frist für die freiwillige Ausreise von zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 25. Februar 2021 als unbegründet ab.

1.2. Der Beschwerdeführer begründete seinen Antrag auf internationalen Schutz damit, auf Grund seiner Tätigkeit als Dolmetscher von den Taliban verfolgt zu werden. Vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl und im Zuge der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht führte der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt zusammengefasst aus, er sei zunächst in der Provinz Helmand als Dolmetscher für die US-Streitkräfte tätig gewesen, habe dabei immer für sechs Monate in einem Camp gewohnt und bei Operationen gegen die Taliban in den Dörfern geholfen. In Helmand sei es seine Aufgabe gewesen, zwischen den Leuten im Dorf und dem Militär zu vermitteln und Informationen über die Taliban abzuhören. Es habe lediglich zwei Dolmetscher im Camp gegeben. Abwechselnd sei immer einer mit den Streitkräften auf Patrouille ins Dorf mitgefahren, während der andere über ein Funkgerät im Camp die Gespräche mitgehört habe. Der Beschwerdeführer gab an, dass er 2012 im Zuge eines abgehörten Gespräches mitbekommen habe, wie die Taliban ihn namentlich genannt und ihn sowie seine Familie mit dem Tode bedroht hätten. Weiters habe ihn ein Dorfbewohner auf der Patrouille als Ungläubigen beschimpft. Er sei dennoch im Camp geblieben, weil ihm sein Kommandeur versichert habe, für seine Sicherheit zu garantieren. Ende 2012 sei der Beschwerdeführer sodann nach Kabul zurückgekehrt, weil sein Vater krank gewesen und schließlich verstorben sei. Sein Team, mit dem er zusammengearbeitet habe, sei in die USA zurückgekehrt. Er sei später mit einem anderen Team nach Herat gereist und habe dann dort seinen Dienst verrichtet. Er sei dann erneut von der Arbeit nach Kabul zurückgekehrt und habe sich dort in Bereitschaft gehalten. Drei Monate später, im Juni 2013, habe man ihm jedoch mitgeteilt, dass es keine Arbeit mehr für ihn gebe. Im August 2013 sei er schließlich am Weg nach Hause von einem schwarz gekleideten, unbekannten Mann mit einem Messer attackiert worden. Der Mann habe ihn mit einem 30cm langen Messer zwischen Zeigefinger und Daumen verletzt. Der Beschwerdeführer habe sich aber auf Grund seiner Kampfausbildung verteidigen können. Zuhause hätten er, seine Brüder und seine Mutter beschlossen, das Elternhaus zu verlassen, und seien zu seiner Schwester bzw zu seiner Tante gefahren. Der Beschwerdeführer sei dann weiter nach Pakistan zu einer weiteren Schwester geflüchtet. Für den Verkauf des Elternhauses und die erforderliche Unterschriftsleistung sei der Beschwerdeführer nochmals nach Afghanistan zurückgekehrt; allerdings nicht in das Elternhaus, sondern er sei für drei Monate bei seiner Schwester untergekommen. Danach habe er das Land endgültig verlassen.

1.3. Das Bundesverwaltungsgericht erachtet zwar die Tätigkeit des Beschwerdeführers als Dolmetscher für die amerikanischen Truppen für glaubwürdig, hält aber die dargelegte individuelle Bedrohungssituation für unglaubwürdig und verneint eine asylrelevante Verfolgung. Alternativ führt das Bundesverwaltungsgericht aus, dass sich die beschriebenen Ereignisse vor siebeneinhalb Jahren ereignet hätten, der Beschwerdeführer seine Tätigkeit als Dolmetscher aufgegeben habe und er auch seither nicht mehr von den Taliban bedroht worden sei. Dem Vorbringen fehle es sohin an der hinreichenden Aktualität, sodass es höchst unwahrscheinlich sei, dass dem Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr noch eine Gefahr drohen würde, insbesondere auch deswegen, weil es sich bei dem Beschwerdeführer um einen "einfachen Dolmetscher und nicht um eine hochrangige Persönlichkeit" handle.

2. Gegen die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Begründend führt die Beschwerde im Hinblick auf die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten im Wesentlichen aus, dass es nicht ausreiche, die Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers lediglich auf Grund der vom Beschwerdeführer getätigten divergierenden Angaben zu seinem Geburtsdatum in Zweifel zu ziehen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Beschwerdeführer durchgehend gleichbleibende und detaillierte Angaben zu seinem Arbeitsplatz und den Bedrohungssituationen gemacht habe. Auch das vom Bundesverwaltungsgericht eingeholte Gutachten habe ergeben, dass die Narbe an der Hand des Beschwerdeführers von einem Messer stamme, und stütze sohin die Aussage des Beschwerdeführers. Darüber hinaus habe das Bundesverwaltungsgericht seiner Entscheidung keine Länderberichte betreffend die Rückkehrsituation von Dolmetschern, die vormals für ausländische Streitkräfte tätig waren, zugrunde gelegt und folglich verkannt, dass sich die Sicherheitslage für diese Personengruppe aktuell nicht verbessert habe.

3. Das Bundesverwaltungsgericht und das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl haben die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber abgesehen.

II. Erwägungen

Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1. Das Bundesverwaltungsgericht erachtet die individuelle Bedrohungssituation des Beschwerdeführers für unglaubwürdig und führt dafür zunächst dessen divergierende Angaben betreffend sein Geburtsdatum, den Aufenthaltsort in seinem Urlaub sowie die von den amerikanischen Behörden unbeantwortet gebliebenen E-Mails ins Treffen. Sodann schildert das Gericht einzelne Situationen des Fluchtvorbringens und hält dem Beschwerdeführer vor, dass sein Verhalten in diesen Situationen nicht nachvollziehbar, lebensfremd bzw wenig plausibel gewesen sei.

Für den Verfassungsgerichtshof ist mit Blick auf die vom Beschwerdeführer detailliert und im Wesentlichen gleichbleibend geschilderten Bedrohungsszenarien nicht nachvollziehbar, wie das Bundesverwaltungsgericht zu dem Schluss kommt, dass das Vorbringen insgesamt unglaubwürdig ist, ohne dabei das Fluchtvorbringen bzw die einzelnen Bedrohungsszenarien in der Gesamtheit darzulegen und sich in einer Weise damit auseinanderzusetzen, die dem umfassenden Vorbringen gerecht wird (vgl dazu, dass bloß Nuancen betreffende Abweichungen in den Aussagen nicht den Schluss der Unglaubwürdigkeit des Vorbringens zulassen, VfGH 25.2.2019, E3632/2018 mwN).

Das Bundesverwaltungsgericht hat damit das Parteivorbringen in einem entscheidungswesentlichen Punkt gänzlich außer Acht gelassen, sodass seine Beweiswürdigung mit Blick auf die als glaubwürdig erachtete Dolmetschertätigkeit und das umfassende, detailliert und im Wesentlichen stets gleichbleibend geschilderte Fluchtvorbringen den Schluss der Unglaubwürdigkeit nicht nachvollziehbar zu tragen vermag.

2.2. Dieser Umstand wiegt umso schwerer, als es das Bundesverwaltungsgericht auch unterlassen hat, sich mit aktuellen Länderberichten auseinanderzusetzen, wenn es (alternativ) davon ausgeht, dass die geschilderten Bedrohungen nicht mehr aktuell seien und es sich beim Beschwerdeführer lediglich um eine "low profile" Person handle.

Der EASO-Bericht zu regierungsfeindlichen Elementen in Afghanistan aus August 2020 (29 f.) führt zu "Personen, die für ausländische Streitkräfte tätig sind oder verdächtigt werden, ausländische Streitkräfte zu unterstützen (einschließlich Dolmetschern)", nämlich aus:

"Im August 2018 hieß es in einer auf ihrer Website Voice of Jihad in den Sprachen Paschtu und Dari veröffentlichten Erklärung der Taliban, dass die Tötung ausländischer Streitkräfte in Afghanistan weiterhin eines der wichtigsten Ziele der Gruppe sei. Die Gruppe betrachtete Kommandos des Verteidigungsministeriums, der NDS-Spezialkräfte und der Khost Protection Forces sowie Dolmetscher, Auftragnehmer und Spione als die wichtigsten Unterstützer ausländischer Streitkräfte und machte sie verantwortlich für die Tötung der afghanischen Bevölkerung bei nächtlichen Einsätzen.

In der Erklärung riefen die Taliban-Kämpfer auf, die genannten Personengruppen als vorrangige Ziele zu betrachten und sie zu töten. In Artikel 11 der Layeha der Taliban wird die Hinrichtung von Personen angeordnet, die für Kuffar (ausländische Ungläubige) arbeiten. Als solche werden u. a. Dolmetscher (Turdschuman) betrachtet. Außerdem wird auf Provinzebene tätigen Schattenrichtern der Taliban bzw in deren Abwesenheit dem Provinzgouverneur mit Artikel 11 die Befugnis übertragen, diese Hinrichtungen vornehmen zu lassen. Im August 2018 veröffentlichten die Taliban eine Erklärung, in der sie ihre Kämpfer aufriefen, spezifische Personengruppen (beispielsweise Dolmetscher) ausfindig zu machen und die betreffenden Personen zu töten. In der Erklärung wurden Dolmetscher als Kriminelle beschrieben, die an nächtlichen Einsätzen an der Seite amerikanischer Streitkräfte teilnähmen, die Afghanen töteten. Darüber hinaus heißt es in der Erklärung, Dolmetscher sollten als Ungläubige und Barbaren aus der afghanischen Gesellschaft ausgeschlossen werden."

Auch die Country Guidance des EASO aus Dezember 2020 (S 61) führt aus: "Interpreters are regarded as a top priority target and in general, well-founded fear of persecution would be substantiated."

2.3. Das Bundesverwaltungsgericht hat daher sein Erkenntnis mit Willkür belastet.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den entsprechend dem Kostenverzeichnis zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 403,33 enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Entscheidungsbegründung, Ermittlungsverfahren, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E1357.2021

Zuletzt aktualisiert am

25.11.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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