TE Vfgh Erkenntnis 2021/9/22 E1109/2021

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Veröffentlicht am 22.09.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §3, §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Abweisung eines Antrags auf internationalen Schutz betreffend eine nigerianische Staatsangehörige; mangelhafte Auseinandersetzung mit einer Stellungnahme der LEFÖ-IBF hinsichtlich der Gefahr, ein Opfer von Menschenhandel zu werden sowie mit den Länderberichten

Spruch

I. Die Beschwerdeführerin ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführerin – eine nigerianische Staatsangehörige – stellte am 23. November 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend gab sie an, den Herkunftsstaat wegen einer Zwangsverheiratung verlassen zu haben und in Libyen zur Prostitution gezwungen worden zu sein.

1.1. Am 25. November 2016 brachte die Beschwerdeführerin ein Kind zur Welt, das sie zur Adoption freigab.

1.2. Mit Bescheid vom 7. April 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag der Beschwerdeführerin gemäß §5 Abs1 AsylG 2005 als unzulässig zurück und sprach aus, dass Italien gemäß Art13 Abs1 iVm Art22 Abs7 VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO) für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig sei. Gleichzeitig wurde gegen die Beschwerdeführerin gemäß §61 Abs1 FPG 2005 die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass eine Abschiebung nach Italien gemäß §61 Abs2 FPG 2005 zulässig sei. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 19. April 2018 als unbegründet abgewiesen.

1.3. Es erfolgte keine Überstellung nach Italien. Die Beschwerdeführerin verließ das Bundesgebiet nicht.

2. Am 10. Jänner 2020 stellte die Beschwerdeführerin einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz und gab an, dass die Überstellungsfrist abgelaufen und Österreich für die inhaltliche Behandlung des Antrages zuständig sei. Sie verwies auf die im ersten Verfahren genannten Fluchtgründe und brachte ergänzend vor, von der Frau, die sie nach Libyen gebracht und dort zur Prostitution gezwungen habe, in Nigeria gesucht worden zu sein. Zudem legte sie eine Stellungnahme von LEFÖ-IBF Interventionsstelle für Betroffene des Frauenhandels vom 28. August 2020 vor, in der die Beschwerdeführerin als Opfer von Menschenhandel bezeichnet wird.

2.1. Mit Bescheid vom 30. September 2020 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten und hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Nigeria ab, erteilte der Beschwerdeführerin keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung nach Nigeria zulässig sei, und setzte eine Frist von zwei Wochen für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

2.2. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22. Februar 2021 wurde die dagegen erhobene Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgewiesen. Das Bundesverwaltungsgericht kommt darin zu dem Ergebnis, dass die Beschwerdeführerin in Libyen Opfer sexueller Gewalt geworden sei. Es verweist begründend auf die in Libyen herrschenden Verhältnisse und die dramatische Situation für alleinstehende Frauen sowie auf den Umstand, dass die Beschwerdeführerin nach ihrer Ankunft in Österreich ihre Tochter zur Adoption freigegeben habe. Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes sei es jedoch nicht glaubhaft, dass der Beschwerdeführerin in ihrem Herkunftsstaat Verfolgung drohe. Die Beschwerdeführerin sei nach ihrer Ausreise aus Libyen weder von Menschenhändlern bedroht noch von der Frau ("Madame"), die die Beschwerdeführerin nach Libyen gebracht habe, in ihrem Elternhaus in Nigeria (Edo State) aufgesucht worden. Es sei sohin mit keinen Vergeltungsmaßnahmen im Herkunftsstaat zu rechnen. Auch wenn in der Stellungnahme von LEFÖ-IBF darauf verwiesen werde, dass es immer wieder vorkomme, dass Angehörige von Opfern, die sich aus der Menschenhandelssituation befreit hätten, bedroht würden, so treffe dies im Fall der Beschwerdeführerin nicht zu.

3. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 BVG zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung BGBl 390/1973) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird. Begründend wird im Wesentlichen ausgeführt, dass das Bundesverwaltungsgericht das Vorbringen der – zum Zeitpunkt der entscheidungsrelevanten Geschehnisse in Nigeria minderjährigen – Beschwerdeführerin als nicht glaubhaft eingestuft habe, ohne sich mit der Stellungnahme der LEFÖ-IBF Interventionsstelle für Betroffene des Frauenhandels vom 28. August 2020 auseinanderzusetzen.

4. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch Abstand genommen.

II. Erwägungen

Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Ein derartiger in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1. Das Bundesverwaltungsgericht erachtet es im Rahmen der rechtlichen Beurteilung hinsichtlich der Abweisung des Asylantrages – unter Verweis auf seine Beweiswürdigung – zunächst als glaubhaft, dass die Beschwerdeführerin in Libyen Opfer sexueller Gewalt wurde. Auf Grund von Widersprüchen im Vorbringen betreffend die Frau ("Madame"), die die Beschwerdeführerin nach Libyen gebracht habe, verneint das Bundesverwaltungsgericht in der Folge eine asylrelevante Verfolgung der Beschwerdeführerin im Herkunftsstaat. Begründend verweist es auf die Stellungnahme von LEFÖ-IBF Interventionsstelle für Betroffene des Frauenhandels vom 28. August 2020, nach der die Beschwerdeführerin Gefahr laufe, "durch die allgemein gute Vernetzung der Ausbeuter und Ausbeuterinnen wieder ausfindig gemacht zu werden". Damit werde nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes von der Opferschutzeinrichtung "nicht nachvollziehbar dargelegt, wie es der 'Madame' gelungen sein sollte, das Elternhaus der Beschwerdeführerin ausfindig zu machen". In Bezug auf den von LEFÖ-IBF aufgezeigten Schutz- und Betreuungsbedarf der Beschwerdeführerin auf Grund ihrer erlittenen Traumatisierung verweist das Bundesverwaltungsgericht darauf, dass "zu keinem Zeitpunkt im Verfahren eine psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung der Beschwerdeführerin vorgebracht wurde und diese keinerlei Gesundheitsbeeinträchtigungen behauptet hatte".

2.2. Aus den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderberichten geht hervor, dass Opfer von Menschenhandel, die nach Nigeria zurückkehren, nicht automatisch einer neuerlichen Verfolgung unterliegen, unter bestimmten Umständen aber die Gefahr eines "Re-Trafficking" besteht. Das Risiko ist abhängig von der individuellen Situation der Betroffenen. Zu berücksichtigen ist dabei insbesondere die Höhe der noch offenen "Schulden", ob das Opfer gegen die Täter ausgesagt habe, die Kenntnisse der Täter über die Familie des Opfers, das Alter, der Familienstand, die finanziellen Mittel, das soziale Netzwerk sowie die Involvierung der Familie in den Menschenhandel.

2.3. Indem das Bundesverwaltungsgericht bei seiner rechtlichen Beurteilung davon ausgeht, dass die Beschwerdeführerin (in Libyen) Opfer von Menschenhandel wurde, die Asylrelevanz dieser Opfereigenschaft (in Bezug auf den Herkunftsstaat Nigeria) hingegen verneint, ohne die individuelle Rückkehrsituation der Beschwerdeführerin anhand der vorstehend genannten (Pkt. 2.2.) Kriterien zu berücksichtigen, ist es ohne nachvollziehbare Begründung vom Inhalt der herangezogenen Länderberichte abgegangen und hat sein Erkenntnis mit Willkür belastet.

2.4. Zudem hat der Verfassungsgerichtshof bereits auf die Bedeutung der Stellungnahme der Interventionsstelle für Betroffene des Frauenhandels in Verfahren betreffend Opfer von Menschenhandel hingewiesen (vgl VfGH 25.2.2020, E2875/2019). Das Bundesverwaltungsgericht verkennt, dass die Darlegung der Fluchtgründe nicht Aufgabe der Opferschutzeinrichtung ist. Da sich das Bundesverwaltungsgericht sohin nicht nachvollziehbar mit der aktenkundigen Stellungnahme von LEFÖ-IBF auseinandergesetzt hat, hat es sein Erkenntnis auch insoweit mit Willkür belastet.

III. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführerin ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten. Die als Erhöhungsbetrag (ERV) geltend gemachten Kosten in der Höhe von € 4,10 sind schon deshalb nicht zuzusprechen, weil diese bereits mit dem Pauschalsatz abgegolten sind (vgl zB VfGH 13.12.2017, E3939/2017).

Schlagworte

Asylrecht, Entscheidungsbegründung, Ermittlungsverfahren, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E1109.2021

Zuletzt aktualisiert am

25.11.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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