Index
82/02 Gesundheitsrecht allgemeinNorm
B-VG Art139 Abs1 Z2Leitsatz
Gesetzwidrigkeit einer Verordnung der BH Baden betreffend die Untersagung des Betretens und Verlassens der Betreuungsstelle Ost; gemäß COVID-19-MaßnahmenG ist es zulässig, das Betreten bestimmter Orte zu untersagen, nicht jedoch das Verlassen eines bestimmten Ortes zu verbieten; Verbot des Verlassens der Betreuungsstelle Ost auch nicht durch die allgemeinen Ausgangsbeschränkungen, die Versorgungspflicht des Bundes aus der Grundversorgung oder das EpidemieG 1950 gedecktSpruch
§1 der Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Baden vom 9. April 2020, BNA5-I-20151/007, kundgemacht durch Anschlag an der Amtstafel vom 9. April 2020 bis 4. Mai 2020, war gesetzwidrig.
Der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruches im Bundesgesetzblatt II verpflichtet.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Anlassverfahren, Prüfungsbeschluss und Vorverfahren
1. Beim Verfassungsgerichtshof sind zu den Zahlen E3811/2020 und E3845/2020 auf Art144 B-VG gestützte Beschwerden anhängig, denen folgender Sachverhalt zugrunde liegt:
Die beiden Beschwerdeführer waren im Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung in der Bundesbetreuungsstelle für Asylwerber in Niederösterreich (im Folgenden: Betreuungsstelle Ost) untergebracht. In ihren Beschwerden an das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich machten sie geltend, dass sie am 26. April 2020 auf Grund einer gesetzwidrigen Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Baden vom 9. April 2020, von Polizeibeamten mit Befehlsgewalt am Verlassen der Betreuungsstelle Ost gehindert worden seien. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich wies die Beschwerden als unzulässig zurück mit der Begründung, die Beschwerdeführer seien nicht durch verwaltungsbehördlichen Befehl oder Zwang am Verlassen der Betreuungsstelle Ost gehindert worden, sondern von den Polizeibeamten lediglich über das damals geltende Verbot, die Betreuungsstelle Ost zu verlassen, aufgeklärt worden, woraufhin die Beschwerdeführer die Betreuungsstelle Ost freiwillig nicht verlassen hätten.
2. Bei der Behandlung der gegen diese Entscheidungen gerichteten Beschwerden sind im Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Wortfolge "und das Verlassen" in §1 der Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Baden vom 9. April 2020, BNA5-I-20151/007, entstanden. Der Verfassungsgerichtshof hat daher am 24. Februar 2021 beschlossen, diese Wortfolge und das mit ihr in einem Regelungszusammenhang stehende Verbot des Betretens der Betreuungsstelle Ost, sohin den gesamten §1 der Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Baden, von Amts wegen auf seine Gesetzmäßigkeit zu prüfen.
3. Der Verfassungsgerichtshof legte seine Bedenken, die ihn zur Einleitung des Verordnungsprüfungsverfahrens bestimmt haben, in seinem Prüfungsbeschluss wie folgt dar:
"Mit der Wortfolge 'und das Verlassen' in §1 der Verordnung der Bezirkshaupt-mannschaft Baden wird den dort untergebrachten bzw betreuten Personen (vgl die für andere Personen geltenden Ausnahmen in §2 der Verordnung) ausnahmslos verboten, das Gelände der Betreuungsstelle Ost für die siebzehntägige Dauer der Geltung der Verordnung zu verlassen. Zu einem derartigen, einer Ausgangssperre für Bewohner der Betreuungsstelle Ost gleichkommenden Verbot scheint §2 COVID-19-Maßnahmengesetz, der im Rahmen grundsätzlich bestehender Freizügigkeit nur Betretungsverbote für bestimmte Orte vorsieht, gerade nicht zu ermächtigen. Es wird dabei auch zu prüfen sein, ob das Verbot, die Betreuungsstelle Ost zu verlassen, letztlich – da ja wegen des Betretungsverbotes eine Rückkehr in die Betreuungsstelle nicht möglich gewesen wäre – dieses unter Bedachtnahme darauf doch unter das Betretungsverbot subsumiert werden könnte. Die Bedenken, die zur Aufhebung der Verordnungsbestimmungen im Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 14. Juli 2020, V363/2020 [nunmehr: VfSlg 20.398/2020], geführt haben, dürften – so die vorläufige Ansicht des Verfassungsgerichtshofes – aber auf das Verbot in §1 der Verordnung, die Betreuungsstelle Ost zu verlassen, zu übertragen sein.
[…]Aber auch eine andere gesetzliche Bestimmung, in der das vorliegende Verbot der Bezirkshauptmannschaft Baden Deckung gefunden hätte, vermag der Verfassungsgerichtshof vorläufig nicht zu erkennen. Zwar erlaubt das Epidemiegesetz Absonderungsmaßnahmen zur Verhütung der Weiterverbreitung des Coronavirus (vgl §7 Epidemiegesetz iVm der Verordnung betreffend die Absonderung Kranker, Krankheitsverdächtiger und Ansteckungsverdächtiger und die Bezeichnung von Häusern und Wohnungen, RGBl 39/1915 idF 21/2020; vgl auch §17 Epidemiegesetz), jedoch müssen dafür besondere Voraussetzungen vorliegen. So dürfen nach §7 Abs1a Epidemiegesetz (lediglich) kranke, krankheitsverdächtige bzw ansteckungsverdächtige Personen abgesondert werden und dies nur, sofern nach der Art der Krankheit und des Verhaltens des Betroffenen eine ernstliche und erhebliche Gefahr für die Gesundheit anderer besteht, die nicht durch gelindere Mittel beseitigt werden kann. Dass diese Voraussetzungen bei Erlassung der Verordnung vorgelegen wären, ist für den Verfassungsgerichtshof vorläufig nicht zu erkennen (vgl VfGH 14.7.2020, V411/2020)."
4. Die Bezirkshauptmannschaft Baden hat als verordnungserlassende Behörde die Akten betreffend das Zustandekommen der in Prüfung gezogenen Verordnung vorgelegt und eine Äußerung erstattet.
4.1. In ihrer Äußerung beschreibt sie zunächst das Areal der Betreuungsstelle Ost und gibt das Geschehen in der Betreuungsstelle Ost seit Auftreten des Coronavirus wie folgt wieder:
Am Abend des 23. März 2020 seien zwei Asylwerber in der Betreuungsstelle Ost positiv auf das Coronavirus getestet worden. Da sich die beiden Personen bereits über einen längeren Zeitraum in der Betreuungsstelle aufgehalten hätten, sei davon auszugehen gewesen, dass sich das Virus bereits in der Betreuungsstelle verbreitet habe. Als Gesundheitsbehörde sei die Bezirkshauptmannschaft Baden verpflichtet gewesen, die Anzahl der Infizierten festzustellen und die Quelle der Ansteckung zu ermitteln. Eine Rückverfolgung der einzelnen Kontakte sei schwierig gewesen, weil die Bewohner unterschiedliche Sprachen gesprochen und sich nicht namentlich gekannt hätten. Eine "Clusterbildung" sei zu befürchten gewesen.
Am 24. März 2020 habe die Bezirkshauptmannschaft Baden unter Bezugnahme auf §2 Abs3 COVID-19-Maßnahmengesetz zum Schutz vor der Weiterverbreitung des Coronavirus mit Verordnung ein Betretungs- und Verlassensverbot für die Betreuungsstelle Ost erlassen, das drei Wochen lang (bis 13. April 2020) gegolten habe. Am 8. April 2020 seien sieben Personen in der Betreuungsstelle positiv auf das Coronavirus getestet worden. Die Rückverfolgung der Kontakte sei wegen der bereits bestehenden Sperre "abschätzbar und begrenzt" gewesen, was bei einer Öffnung der Betreuungsstelle nicht der Fall gewesen wäre. Da zum damaligen Zeitpunkt mit weiteren positiven Fällen zu rechnen gewesen sei und eine Immunisierung der infizierten Personen erst nach einigen Wochen eingetreten wäre, sei eine weitere Sperre der Betreuungsstelle Ost notwendig gewesen, um vor allem die Bewohner vor neuankommenden Personen, die das Virus weiter einschleppen könnten, zu schützen. Am 9. April 2020 sei deshalb die vorliegende Verordnung erlassen worden, die das Betretungs- und Verlassensverbot um weitere siebzehn Tage (von 14. bis 30. April 2020) verlängert habe. Danach sei die Betreuungsstelle Ost wieder geöffnet worden.
Während der Sperre seien sämtliche Asylwerber und Asylwerberinnen in der Betreuungsstelle Ost wie auch sonst in sämtlichen Lebensbelangen, wie Versorgung mit Nahrung und Getränken, medizinischer Versorgung sowie in sozialen und rechtlichen Bedürfnissen, im Rahmen der Grundversorgung des Bundes unterstützt und begleitet worden.
4.2. Den im Prüfungsbeschluss dargelegten Bedenken tritt die Bezirkshauptmannschaft Baden wie folgt entgegen (ohne Hervorhebungen im Original):
"Mit dem Bundesgesetz betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 (COVID-19-Maßnahmengesetz), BGBl I 12/2020 in der Fassung BGBl I 23/2020, wurde in Österreich die rechtliche Grundlage für die Erlassung von vorläufigen Maßnahmen geschaffen.
Die Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, BGBl II 98/2020 in der Fassung BGBl II 108/2020, definierte in der Folge für das Bundesgebiet ein Betretungsverbot für öffentliche Orte und deren Ausnahmen, um die Verbreitung von COVID-19 zu verhindern.
Gemäß §2 Z3 COVID-19-Maßnahmengesetz kann bei Auftreten von COVID-19 auch von der Bezirksverwaltungsbehörde durch Verordnung das Betreten von bestimmten Orten untersagt werden, soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich ist, wenn sich die Verordnung auf den politischen Bezirk oder Teile desselben erstreckt. Von dieser Verordnungsermächtigung hat die Bezirkshauptmannschaft Baden mit der in Prüfung gezogenen Verordnung Gebrauch gemacht.
[…]
Ziel der in Prüfung gezogenen Verordnung war es, das Ansteckungsrisiko, sowohl hinsichtlich der Asylwerber*innen, die neu in die Betreuungsstelle verlegt wurden, als auch der Asylwerber*innen, die schon länger dort aufhältig waren, soweit zu minimieren, dass sich das Virus nicht diffus und exponentiell innerhalb der Einrichtung ausbreiten kann.
Die sachliche Rechtfertigung der Erlassung dieser Verordnung, die das Betreten sowie Verlassen der Betreuungsstelle Ost umfasste, lag in der Beurteilung der Gesamtsituation in der Einrichtung an sich, aber auch in Relation zur epidemiologischen Lage außerhalb der Einrichtung. Eine allgemeine Verkehrsbeschränkung sämtlicher Bewohner*innen der Betreuungsstelle Ost war das geeignete/gelindeste Mittel, die Ansteckungsquellen zu minimieren.
Der vom Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz zu §2 des COVID-19-Maßnahmengesetzes ergangene Erlass vom 18. März 2020, GZ 2020-0.187.183, welcher zum Zeitpunkt der Erlassung der in Prüfung gezogenen Verordnung weiterhin aufrecht war, lautet […]:
'Das Epidemiegesetz 1950, BGBl Nr 186/1950, zuletzt geändert durch das Bundesgesetzblatt BGBL. I Nr 37/2018, sieht in §24 vor, dass die Bewohner bestimmter Ortschaften, sofern dies im Hinblick auf Art und Umfang des Auftretens einer meldepflichtigen Erkrankung Schutz vor deren Weiterentwicklung unbedingt erforderlich ist, durch die Bezirksverwaltungsbehörde Verkehrsbeschränkungen unterworfen werden sowie ebenso durch die Bezirksverwaltungsbehörde Beschränkungen für den Verkehr von außen angeordnet werden können. Nunmehr sieht das Bundesgesetz betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 (COVID-19 Maßnahmengesetz); BGBL. I Nr 12/2020 in §2 vor, dass beim Auftreten von COVID-19 durch Verordnung das Betreten von bestimmten Orten untersagt werden kann, soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich ist. Diese Verordnung ist nach Z3 von der Bezirksverwaltungsbehörde zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf den politischen Bezirk oder Teile desselben erstreckt.
Nach dem das COVID-19 Maßnahmengesetz im Hinblick auf COVID-19 die lex specialis darstellt und es sich hiebei – im Vergleich zum Epidemiegesetz 1950 – um die jüngere Bestimmung handelt, ist das Verbot der Betretung und des Verlassens (im Sinne eines Verbotes, das Gebiet außerhalb der abgesperrten Orte zu betreten) bestimmter Ortschaften nunmehr auf diese Bestimmung zu stützen.
Dieser Erlass ist den mit der Vollziehung des Epidemiegesetzes 1950 befassten Bezirksverwaltungsbehörden zur Kenntnis zu bringen und seine Einhaltung zu überwachen.'
Durch die Verordnung wurde ein Verbot für das Betreten der Einrichtung von außen und ein Betretungsverbot für die Umgebung der Einrichtung für Personen, die sich zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung innerhalb der Einrichtung befunden haben, erlassen. Von diesen Betretungsverboten waren Beamte des Exekutivdienstes, Einsatzfahrten der Blaulichtorganisationen, allgemeine Versorgungsfahrten durch Zulieferer (zB Lebensmitteltransporte), Fahrten zur Erbringung von Dienstleistungen im Bereich der Daseinsvorsorge (zB Müllabfuhr[…]) sowie Fahrten im Bereich der versorgungskritischen öffentlichen Infrastruktur (zB Strom- und Wasserversorgung) sowie das Betreuungspersonal und sonstiges Personal, welches zur Aufrechterhaltung des Betriebes unbedingt erforderlich war – sofern diese Personen mit entsprechender Schutzausrüstung ausgestattet wurden, die eine Ansteckung hintanhielt – ausgenommen. Auf dem Areal der Betreuungsstelle Ost stand in weiterer Folge für die Absonderung von COVID-19-Erkrankten sowie für Hoch-Risiko-Kontakte ein eigenes Gebäude zur Verfügung, in dem die betroffenen Personen getrennt voneinander untergebracht werden konnten.
Zu den Bedenken des Gerichtshofes, dass das Verbot des Verlassens des Areals mit der 'Gefahr' verbunden ist, dieses nicht wieder betreten zu dürfen, ist festzuhalten, dass gemäß §7 Epidemiegesetz 1950 zur Verhütung der Weiterverbreitung von COVID-19 kranke, krankheitsverdächtige oder ansteckungsverdächtige Personen angehalten oder im Verkehr mit der Außenwelt beschränkt werden können.
Asylwerber*innen haben beim Verlassen der Betreuungsstelle Ost Kontakt zu einer Vielzahl an Personen in der Umgebung (zB beim Einkaufen, Zeitvertreib in Parks und in Sportstätten oder auch bei Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Wien oder in andere Städte der Umgebung), wobei sie mangels anderweitiger Beschäftigungsmöglichkeiten in der Regel eine hohe Mobilität aufweisen. Sie können einerseits beim Betreten der Betreuungsstelle Ost, andererseits aber auch außerhalb der Betreuungsstelle Ost zu einer Erhöhung der positiven Fälle und damit zur Gefahr eines unkontrollierbaren Ausbruchs mit weiteren positiven Fällen führen. Dies insbesondere deshalb, da aufgrund der im Geltungszeitraum der prüfungsgegenständlichen Verordnung kaum vorhandenen Testmöglichkeiten die Dunkelziffer an erkrankten Asylwerber*innen innerhalb der Betreuungsstelle nicht abschätzbar war. Eine Immunisierung der bereits erkrankten Personen wäre erst in wenigen Wochen eingetreten.
Aufgrund der üblicherweise hohen Mobilität der Bewohner*innen der Betreuungsstelle Ost hätte selbst ein[…] effektives Contact Tracing zu keinem Erfolg geführt, da die Asylwerber*innen in einem wahllosen Kontakt mit Menschen ihrer Umgebungen zusammenkommen. Es musste im Rahmen der Contact Tracings in der Betreuungsstelle Ost gegenüber dem Contact Tracing außerhalb der Betreuungsstelle Ost vermehrt mit fehlenden Namen oder Erinnerungslücken gearbeitet werden. Die sprachlichen Barrieren waren ebenso hinderlich, da die Asylwerber*innen ihren sprachlichen Hintergrund unter anderem auch änderten und erneut ein Dolmetscher angefordert werden musste.
Die vom Verbot betroffenen Personen waren aufgrund der immer noch diffusen Situation zum Zeitpunkt der Erlassung der prüfungsgegenständlichen Verordnung [Verweis auf die Ausführungen zur Situation] daher als ansteckungsverdächtig einzustufen. Die Verkehrsbeschränkung dieser Personen war deshalb erforderlich, da nach Art der Erkrankung, der großen Anzahl der Personen und des üblicherweise hohen mobilen Verhaltens der Betroffenen und der daraus resultierenden hohen Anzahl an Kontaktpersonen eine ernstliche und erhebliche Gefahr für die Gesundheit anderer Personen bestand. Bei dieser Verkehrsbeschränkung durch die prüfungsgegenständliche Verordnung handelte es sich schon aufgrund der Tatsache, dass sich alle Asylwerber*innen, welche nicht durch einen Bescheid der Behörde abgesondert werden mussten, innerhalb des großen Areals der Betreuungsstelle Ost frei bewegen konnten gegenüber einer Verkehrsbeschränkung, bei welcher die Wohnung nur unter bestimmten Voraussetzungen verlassen werden darf, um eine gelindere Maßnahme im Sinne des Epidemiegesetzes 1950.
Weiters ist anzumerken, dass der Bund eine gesetzliche Verpflichtung zur Versorgung von Asylwerber*innen nach den Vorschriften der Grundversorgung hat.
Hätte die Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Baden nur das Betreten der Betreuungsstelle Ost untersagt, so wäre im Falle des Verlassens des Areals eine Rückkehr nicht mehr möglich gewesen. Die Asylwerber*innen, die in der Betreuungsstelle versorgt werden, wären daher faktisch nicht mehr versorgt gewesen. Testmöglichkeiten, wie rasch auswertbare Antigentests oder Gurgeltests, waren im April 2020 nicht verfügbar, das Verfahren über PCR-Testungen nicht Routine genug.
Eine gänzliche Schließung der Einrichtung im Sinne des §22 Epidemiegesetz hätte dazu geführt, dass an COVID-19 erkrankte, krankheitsverdächtige oder zumindest ansteckungsverdächtige Personen (insgesamt knapp 600 Personen) auf ganz Österreich zu verteilen gewesen wären, die sich am neuen Unterbringungsort etwa analog zu den Reiserückkehrern aus den Skigebieten in Quarantäne begeben hätten müssen. Darüber hinaus hätten die mit einer Verlegung verbundenen organisatorischen Maßnahmen samt den dafür zusätzlich erforderlichen Reisetätigkeiten wiederum die Ansteckungsgefahr für zusätzliche Personenkreise erhöht.
Aufgrund dieser besonderen Situation stand der Bezirkshauptmannschaft Baden zu diesem Zeitpunkt keine andere Alternative zur Verfügung, als das Verbot des Betretens der Betreuungsstelle Ost mit einem Verbot des Verlassens derselben zu verbinden.
Insofern unterscheidet sich auch der diesem Prüfungsverfahren zu Grunde liegende Sachverhalt von jenem Sachverhalt, der dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 14. Juli 2020, V363/2020, zu Grunde lag. Im gegenständlichen Prüfungsverfahren musste das Betretungsverbot die Unterkunft der Asylwerber*innen (Betreuungsstelle Ost) umfassen.
Die rasche Erlassung der Verordnungen durch die Bezirkshauptmannschaft Baden als Gesundheitsbehörde und das konsequente Umsetzen organisatorischer Maßnahmen innerhalb der Betreuungsstelle Ost haben wesentlich dazu beigetragen, dass jeweils die Infektionsketten unterbrochen, die Verbreitung von COVID-19 in der Betreuungsstelle Ost rasch eingedämmt und die Verbreitung von COVID-19 außerhalb der Betreuungsstelle Ost in Traiskirchen sowie in weiteren Betreuungseinrichtungen in ganz Österreich unterbunden werden konnte."
Abschließend weist die Bezirksverwaltungsbehörde Baden darauf hin, dass Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie getroffen werden, um insbesondere alte, schwache und kranke Menschen zu schützen. Die Verhältnismäßigkeit einer behördlich angeordneten Einschränkung für Menschen sei in Bezug auf den Schutz des Lebens und der Gesundheit vulnerabler Personengruppen zu prüfen. Die von der Gesundheitsbehörde angeordneten Verbote des Betretens und Verlassens der Betreuungsstelle Ost seien für die Bewohner und Bewohnerinnen mit einer 17-tägigen Quarantäne auf dem großzügigen Gelände der Betreuungsstelle Ost gleichzusetzen. Diese Maßnahmen seien auch bei nachträglicher Beurteilung zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich und wirksam gewesen und mit geringen Einschränkungen für die Betroffenen als verhältnismäßig zu beurteilen. Alternativen seien der Bezirkshauptmannschaft Baden damals aus epidemiologischer Sicht nicht zur Verfügung gestanden. Auch seien auf dem Areal der Betreuungsstelle Ost vulnerable Gruppen, wie zum Beispiel schwer erkrankte Menschen, betreut worden. Eine Person sei an COVID-19 verstorben. Da bei einem bloßen Betretungsverbot die Rückkehr in die einmal verlassene Betreuungsstelle nicht möglich gewesen wäre, habe aus Sicht der Grundversorgung und aus epidemiologischer Sicht auch das Verlassen der Betreuungsstelle verboten werden müssen.
5. Die Erläuterungen zur Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Baden vom 9. April 2020 lauten wie folgt:
"Mittlerweile sind in der BS [Betreuungsstelle] Ost 7 positive Fälle, der letzte vom 3.4.2020. Die Dunkelziffer ist jedoch nicht beurteilbar, jedoch ist die Kontakterhebung bei positiven Fällen aufgrund der Sperre abschätzbar und begrenzt. Dies wäre bei einer Öffnung zum jetzigen Zeitpunkt nicht der Fall.
Mit weiteren positiven Fällen ist noch zu rechnen und eine Immunisierung der derzeit positiven Personen wird erst in ein paar Wochen eintreten.
Eine weitere Sperre bis 30.4. ist daher notwendig, vor allem um auch die Bewohner der BS [Betreuungsstelle] Ost davor zu schützen, dass der Virus durch Neuankünfte in die BS [Betreuungsstelle] Ost weiter eingeschleppt wird und die Zahl der positiven Personen dann unkontrollierbar steigt.
Im Vergleich ist auch bei Pflege- und Betreuungseinrichtungen vorgesehen, dass soziale Kontakte außerhalb dieser Einrichtung auf das notwendigste Minimum reduziert werden sollen, um die weitere Einschleppung von COVID 19 in diese Einrichtung zu verhindern.
Zudem […] werden auch die allgemeinen Ausgangsbeschränkungen bis Ende April aufrecht erhalten, weswegen diese auch in der BS [Betreuungsstelle] Ost getroffen werden müssen.
Es dürfen keine neuen Asylwerber aufgenommen werden.
Notwendiges Personal sowie die Einsatzorganisationen dürfen weiterhin die Betreuungsstelle betreten und verlassen."
6. Der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz hat keine Äußerung erstattet.
Die im Anlassfall zu E3845/2020 protokollierte beschwerdeführende Partei hat als beteiligte Partei eine Äußerung erstattet, in der sie vorbringt, dass das verordnete Verbot die Bewegungsfreiheit der betroffenen Personen im Sinne eines Freiheitsentzuges gänzlich unterbinde und deshalb weit über ein bloßes Betretungsverbot hinausginge. Es bestehe für die Betroffenen ausnahmslos und unabhängig von ihrem Gesundheitszustand und sei für die Erfüllung des vom COVID-19-Maßnahmengesetzgeber verfolgten Zwecks, das Zusammentreffen vieler Menschen an bestimmten Orten zu verhindern, als überschießende Regelung nicht erforderlich. Auch fehlten dem §7 Epidemiegesetz entsprechende Kontrollmaßnahmen zur regelmäßigen Überprüfung der mit dem Verbot bewirkten Anhaltung.
II. Rechtslage
Die maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar:
1. Die in Prüfung gezogene Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Baden vom 9. April 2020, BNA5-I-20151/007, (im Folgenden: Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Baden) lautete (ohne Hervorhebungen im Original; die in Prüfung gezogene Bestimmung ist hervorgehoben):
"Die Bezirkshauptmannschaft Baden verordnet aufgrund des §2 Z3 COVID-19-Maßnahmengesetzes, BGBl I Nr 12/2020 idF BGBl I Nr 23/2020 zum Schutz vor der Weiterverbreitung des Corona-Virus (SARS-CoV-2) für die Betreuungsstelle Ost, Otto Glöckel Straße 24, 2514 Traiskirchen, folgende Maßnahmen:
Verordnung über die Untersagung des Betretens und des Verlassens der
Betreuungsstelle Ost, Otto Glöckel Straße 24, 2514 Traiskirchen
§1
Das Betreten und das Verlassen des gesamten Geländes der Betreuungsstelle Ost, Otto Glöckel Straße 24, 2514 Traiskirchen, ist untersagt.
§2
Dieses Verbot gilt nicht für:
(1) Beamte des Exekutivdienstes
(2) Einsatzfahrten der Blaulichtorganisationen
(3) allgemeine Versorgungsfahrten durch Zulieferer (zB Lebensmitteltransporte), Fahrten zur Erbringung von Dienstleistungen im Bereich der Daseinsvorsorge (zB Müllabfuhr) sowie Fahrten im Bereich der versorgungskritischen öffentlichen Infrastruktur (zB Strom- und Wasserversorgung)
(4) Betreuungspersonal und sonstiges Personal, welches zur Aufrechterhaltung des Betriebes unbedingt erforderlich ist.
§3
Übertretungen dieser Verordnung gelten als Verwaltungsübertretung und werden gemäß §3 COVID-19-Maßnahmengesetz, BGBl I Nr 12/2020 idF BGBl I Nr 23/2020, mit einer Geldstrafe von bis zu € 3.600.- bestraft.
§4
Diese Verordnung tritt am 14. April 2020 in Kraft und mit Ablauf des 30. April 2020 außer Kraft."
2. §2 und §2a COVID-19-Maßnahmengesetz, BGBl I 12/2020, idF BGBl I 23/2020 und §3 COVID-19-Maßnahmengesetz, BGBl I 12/2020, lauteten:
"Betreten von bestimmten Orten
§2. Beim Auftreten von COVID-19 kann durch Verordnung das Betreten von bestimmten Orten untersagt werden, soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich ist. Die Verordnung ist
1. vom Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf das gesamte Bundesgebiet erstreckt,
2. vom Landeshauptmann zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf das gesamte Landesgebiet erstreckt, oder
3. von der Bezirksverwaltungsbehörde zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf den politischen Bezirk oder Teile desselben erstreckt.
Das Betretungsverbot kann sich auf bestimmte Zeiten beschränken. Darüber hinaus kann geregelt werden, unter welchen bestimmten Voraussetzungen oder Auflagen jene bestimmten Orte betreten werden dürfen.
Mitwirkung von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes
§2a. (1) Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes haben die nach diesem Bundesgesetz zuständigen Behörden und Organe über deren Ersuchen bei der Ausübung ihrer beschriebenen Aufgaben bzw zur Durchsetzung der vorgesehenen Maßnahmen erforderlichenfalls unter Anwendung von Zwangsmitteln zu unterstützen.
(1a) Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes haben an der Vollziehung dieses Bundesgesetzes und der auf Grund dieses Bundesgesetzes erlassenen Verordnungen mitzuwirken durch
1. Maßnahmen zur Vorbeugung gegen drohende Verwaltungsübertretungen,
2. Maßnahmen zur Einleitung und Sicherung eines Verwaltungsstrafverfahrens und
3. die Ahndung von Verwaltungsübertretungen durch Organstrafverfügungen (§50 VStG).
(2) Sofern nach der fachlichen Beurteilung der jeweiligen Gesundheitsbehörde im Rahmen der nach Abs1 vorgesehenen Mitwirkung für die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes nach der Art der übertragbaren Krankheit und deren Übertragungsmöglichkeiten eine Gefährdung verbunden ist, der nur durch besondere Schutzmaßnahmen begegnet werden kann, so sind die Gesundheitsbehörden verpflichtet, adäquate Schutzmaßnahmen zu treffen.
Strafbestimmungen
§3. […]
(3) Wer einen Ort betritt, dessen Betreten gemäß §2 untersagt ist, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe von bis zu 3 600 Euro zu bestrafen."
3. Zum Epidemiegesetz:
3.1. Nach der auf Grund des §1 Abs2 Epidemiegesetz 1950, BGBl 186 (WV), (im Folgenden: EpiG) ergangenen Verordnung betreffend anzeigepflichtige übertragbare Krankheiten 2020, BGBl II 15, unterliegen Verdachts-, Erkrankungs- und Todesfälle an "2019-nCoV ('2019 neuartiges Coronavirus')" der Anzeigepflicht nach dem EpiG.
Die hier maßgeblichen Bestimmungen über die Vorkehrungen zur Verhütung und Bekämpfung anzeigepflichtiger Krankheiten lauteten (zu §7 EpiG, BGBl 186/1950, idF BGBl I 63/2016) bzw lauten (zu §17 EpiG, BGBl 186/1950, idF BGBl I 114/2006):
"Absonderung Kranker.
§7. (1) Durch Verordnung werden jene anzeigepflichtigen Krankheiten bezeichnet, bei denen für kranke, krankheitsverdächtige oder ansteckungsverdächtige Personen Absonderungsmaßnahmen verfügt werden können.
(1a) Zur Verhütung der Weiterverbreitung einer in einer Verordnung nach Abs1 angeführten anzeigepflichtigen Krankheit können kranke, krankheitsverdächtige oder ansteckungsverdächtige Personen angehalten oder im Verkehr mit der Außenwelt beschränkt werden, sofern nach der Art der Krankheit und des Verhaltens des Betroffenen eine ernstliche und erhebliche Gefahr für die Gesundheit anderer Personen besteht, die nicht durch gelindere Maßnahmen beseitigt werden kann. Die angehaltene Person kann bei dem Bezirksgericht, in dessen Sprengel der Anhaltungsort liegt, die Überprüfung der Zulässigkeit und Aufhebung der Freiheitsbeschränkung nach Maßgabe des 2. Abschnitts des Tuberkulosegesetzes beantragen. Jede Anhaltung ist dem Bezirksgericht von der Bezirksverwaltungsbehörde anzuzeigen, die sie verfügt hat. Das Bezirksgericht hat von Amts wegen in längstens dreimonatigen Abständen ab der Anhaltung oder der letzten Überprüfung die Zulässigkeit der Anhaltung in sinngemäßer Anwendung des §17 des Tuberkulosegesetzes zu überprüfen, sofern die Anhaltung nicht vorher aufgehoben wurde.
(2) Kann eine zweckentsprechende Absonderung im Sinne der getroffenen Anordnungen in der Wohnung des Kranken nicht erfolgen oder wird die Absonderung unterlassen, so ist die Unterbringung des Kranken in einer Krankenanstalt oder einem anderen geeigneten Raume durchzuführen, falls die Überführung ohne Gefährdung des Kranken erfolgen kann.
(3) Zum Zwecke der Absonderung sind, wo es mit Rücksicht auf die örtlichen Verhältnisse geboten erscheint, geeignete Räume und zulässig erkannte Transportmittel rechtzeitig bereitzustellen, beziehungsweise transportable, mit den nötigen Einrichtungen und Personal ausgestattete Barackenspitäler einzurichten.
(4) Abgesehen von den Fällen der Absonderung eines Kranken im Sinne des Abs2 kann die Überführung aus der Wohnung, in der er sich befindet, nur mit behördlicher Genehmigung und unter genauer Beobachtung der hiebei von der Behörde anzuordnenden Vorsichtsmaßregeln erfolgen.
(5) Diese Genehmigung ist nur dann zu erteilen, wenn eine Gefährdung öffentlicher Rücksichten hiedurch nicht zu besorgen steht und der Kranke entweder in eine zur Aufnahme solcher Kranker bestimmte Anstalt gebracht werden soll oder die Überführung nach der Sachlage unbedingt geboten erscheint."
"Überwachung bestimmter Personen.
§17. (1) Personen, die als Träger von Krankheitskeimen einer anzeigepflichtigen Krankheit anzusehen sind, können einer besonderen sanitätspolizeilichen Beobachtung oder Überwachung unterworfen werden. Sie dürfen nach näherer Anordnung der Bezirksverwaltungsbehörde (Gesundheitsamt) nicht bei der Gewinnung oder Behandlung von Lebensmitteln in einer Weise tätig sein, welche die Gefahr mit sich bringt, daß Krankheitskeime auf andere Personen oder auf Lebensmittel übertragen werden. Für diese Personen kann eine besondere Meldepflicht, die periodische ärztliche Untersuchung sowie erforderlichenfalls die Desinfektion und Absonderung in ihrer Wohnung angeordnet werden; ist die Absonderung in der Wohnung in zweckmäßiger Weise nicht durchführbar, so kann die Absonderung und Verpflegung in eigenen Räumen verfügt werden. (BGBl Nr 151/1947, Artikel II Z5 litf.)
(2) bis (4) […]"
Die Mitwirkung von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes ist in §28a EpiG geregelt.
3.2. Jene anzeigepflichtigen Krankheiten, bei denen für kranke, krankheitsverdächtige oder ansteckungsverdächtige Personen nach §7 EpiG Absonderungsmaßnahmen verfügt werden dürfen, werden in der Verordnung betreffend die Absonderung Kranker, Krankheitsverdächtiger und Ansteckungsverdächtiger und die Bezeichnung von Häusern und Wohnungen, RGBl 39/1915, idF BGBl II 21/2020) (im Folgenden: Absonderungs-VO) bezeichnet. Die "Infektion mit 2019-nCoV ('2019 neuartiges Coronavirus')" wird in §4 der Verordnung genannt.
III. Erwägungen
1. Zur Zulässigkeit des Verfahrens
1.1. Wie das Verordnungsprüfungsverfahren gezeigt hat, wurde die Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Baden durch Anschlag an der Amtstafel der Bezirkshauptmannschaft Baden vom 9. April 2020 bis 5. Mai 2020 und (im Hinblick auf das Epidemiegesetz) auf der Internetseite der Bezirkshauptmannschaft Baden kundgemacht. Ein Kundmachungsmangel liegt daher nicht vor.
1.2. Die Präjudizialität ist gegeben, weil die Wortfolge "und das Verlassen" in §1 der Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Baden für die in den Anlassfällen zu klärende Frage, ob verwaltungsbehördlicher Befehl oder Zwang zulässigerweise ausgeübt wurde, anzuwenden ist.
Auch steht das Betretungsverbot in §1 der Verordnung in einem so konkreten Regelungszusammenhang mit der präjudiziellen Wortfolge, dass die Prüfung der Gesetzmäßigkeit auf beide Verbote zu beziehen ist. Es ist dann bei der Frage des Aufhebungsumfanges darüber zu befinden, auf welche Weise die Gesetzwidrigkeit – sollten sich die Bedenken als begründet erweisen – beseitigt werden kann (vgl VfSlg 16.756/2002, 19.496/2011, 19.684/2012, 19.903/2014; VfGH 10.3.2015, G201/2014).
1.3. Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich das Verordnungsprüfungsverfahren im Umfang des §1 der Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Baden als zulässig.
2. In der Sache
2.1. Die im Prüfungsbeschluss dargelegten Bedenken des Verfassungsgerichtshofes konnten im Verordnungsprüfungsverfahren nicht zerstreut werden:
2.1.1. Durch das Verbot in §1 der Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Baden wird den in der Betreuungsstelle Ost untergebrachten Personen untersagt, das Gelände der Betreuungsstelle Ost zu verlassen. Dieses Verbot stützt sich auf §2 Z3 COVID-19-Maßnahmengesetz, das in der in den Anlassfällen maßgeblichen Fassung BGBl I 23/2020 die Bezirksverwaltungsbehörde in ihrem politischen Bezirk oder in Teilen desselben ermächtigt, durch Verordnung das Betreten von bestimmten Orten zu untersagen, soweit dies zur Verhinderung der Ausbreitung von COVID-19 erforderlich ist.
§2 Z3 COVID-19-Maßnahmengesetz erlaubt somit lediglich, das Betreten von bestimmten Orten zu untersagen, nicht jedoch, das Verlassen eines bestimmten Ortes zu verbieten (siehe VfSlg 20.398/2020 und VfGH 10.12.2020, V512/2020), wie in §1 der Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Baden festgelegt. Das Verbot des Verlassens in §1 der Verordnung kann auch nicht – wie die Bezirkshauptmannschaft Baden in ihrer Äußerung vermeint – in ein Betretungsverbot in dem Sinne umgedeutet werden, dass es den in der Betreuungsstelle Ost untergebrachten Personen untersagt war, das Gebiet außerhalb der Einrichtung zu betreten, weil es damit gerade ein allgemeines Betretungsverbot des öffentlichen Raumes bliebe, das von §2 COVID-19-Maßnahmengesetz nicht gedeckt ist (VfSlg 20.398/2020). Eine Ermächtigung zur Beschränkung der Freizügigkeit durch ein Verbot, bestimmte Orte zu betreten, ermächtigt nicht dazu, Anordnungen zum Verbleib an einen bestimmten Ort zu treffen, die als Eingriff in die persönliche Freiheit zu qualifizieren wären (VfSlg 20.398/2020).
Ebenso geht die Berufung der Bezirkshauptmannschaft Baden auf die zum damaligen Zeitpunkt geltenden "allgemeinen Ausgangsbeschränkungen" fehl, weil diese bundesweiten Ausgangsbeschränkungen auch ohne Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Baden für die Personen der Betreuungsstelle Ost gegolten haben und überdies wegen Überschreitung ihrer gesetzlichen Ermächtigung in §2 COVID-19-Maßnahmengesetz mit Erkenntnis des Verfassungsgerichthofes VfSlg 20.398/2020 für gesetzwidrig erklärt wurden.
Letztlich können auch etwaige Versorgungspflichten aus der Grundversorgung das Verbot des Verlassens in §1 der Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Baden nicht rechtfertigen, weil (Versorgungs-)Pflichten, die dem Bund aus der Grundversorgung erwachsen, keinesfalls die Bezirkshauptmannschaft Baden dazu ermächtigen, die Bewegungsfreiheit von Personen aus diesem Grund einzuschränken.
2.1.2. Auch hat sich die Annahme des Verfassungsgerichtshofes, dass das Verbot, die Betreuungsstelle Ost zu verlassen, in §1 der Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Baden im Epidemiegesetz 1950 keine Deckung finde, als zutreffend erwiesen.
In ihrer Äußerung erachtet die Bezirkshauptmannschaft Baden die "Sperre" der Betreuungsstelle Ost als eine erforderliche und wirksame Maßnahme zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19, die wegen des großzügigen Geländes als bloß geringe Einschränkung für die Bewohner auch verhältnismäßig gewesen sei.
Nach §7 EpiG dürfen zwar – sofern diese Bestimmung überhaupt Grundlage einer generellen Norm sein kann – Absonderungsmaßnahmen, die die Bewegungsfreiheit der Betroffenen einschränken, getroffen werden, jedoch nur in Bezug auf "kranke, krankheitsverdächtige oder ansteckungsverdächtige Personen" und dies nur, sofern nach der Art der Krankheit und des Verhaltens des Betroffenen eine ernstliche und erhebliche Gefahr für die Gesundheit anderer Personen besteht, die nicht durch gelindere Maßnahmen beseitigt werden kann (Abs1a). Demnach muss – bevor es überhaupt zu einer Erforderlichkeitsprüfung nach der Art der Krankheit und dem Verhalten des Betroffenen kommt – eine Person zumindest "ansteckungsverdächtig" sein, um Absonderungsmaßnahmen nach §7 EpiG gegen sie zu verfügen.
Dass sämtliche in der Betreuungsstelle Ost untergebrachten (rund 600) Personen zumindest "ansteckungsverdächtig" waren, bei ihnen somit – nach der Definition in §1 Absonderungs-VO – zumindest "erfahrungsgemäß anzunehmen ist, daß sie der Ansteckung ausgesetzt waren und die Weiterverbreitung vermitteln können", kann der Verfassungsgerichtshof auf Grund der beschriebenen Situation in der Betreuungsstelle Ost nicht finden. Die geschilderten Schwierigkeiten bei der Nachverfolgung von Kontakten vermögen eine Ausgangsperre für sämtliche Bewohner der Betreuungsstelle Ost jedenfalls nicht zu rechtfertigen.
Da das vorliegende Verbot keine Deckung in §7 EpiG (und im Übrigen ebenso wenig in §17 EpiG und §24 EpiG idF BGBl I 114/2006, vgl VfGH 10.12.2020, V512/2020 und V535/2020, sowie den in der Äußerung der Bezirkshauptmannschaft Baden [s. Pkt. I.4.2.] zitierten Erlass des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz vom 18.3.2020) findet, kann es insofern dahinstehen, ob Absonderungsmaßnahmen nach §7 EpiG überhaupt durch Verordnung verfügt werden können (vgl ErlRV 1187 BlgNR 25. GP, 16, zur Nov. des §7 EpiG BGBl I 63/2016).
Zum Aufhebungsumfang ist festzuhalten, dass in dieser spezifischen Situation, die eine Betreuungsstelle für Asylwerber betrifft, das Verbot des Verlassens für die Bewohner der Betreuungsstelle Ost so eng mit dem Recht, die Betreuungsstelle (wieder) betreten zu dürfen, verknüpft ist, dass auszusprechen ist, dass der gesamte §1 der Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Baden gesetzwidrig war.
IV. Ergebnis
1. §1 der Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Baden vom 9. April 2020, BNA5-I-20151/007, entbehrt einer gesetzlichen Grundlage und war daher gesetzwidrig.
2. Die Verpflichtung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz zur unverzüglichen Kundmachung der Feststellung der Gesetzwidrigkeit des §1 der Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Baden erfließt aus Art139 Abs5 erster Satz B-VG und §59 Abs2 VfGG iVm §4 Abs1 Z4 BGBlG.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
Schlagworte
COVID (Corona), Asylrecht, Verordnung, VfGH / Präjudizialität, VfGH / Prüfungsumfang, VfGH / Verwerfungsumfang, Recht auf Freizügigkeit, VerhältnismäßigkeitEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2021:V88.2021Zuletzt aktualisiert am
26.11.2021