RS Vfgh 2021/9/30 V88/2021 ua (V88-89/2021-17)

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Veröffentlicht am 30.09.2021
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Index

82/02 Gesundheitsrecht allgemein

Norm

B-VG Art139 Abs1 Z2
COVID-19-MaßnahmenG §2, §2a
EpidemieG 1950 §1, §7, §17, §24
V der Bezirkshauptmannschaft Baden vom 09.04.2020 betr die Untersagung des Betretens und des Verlassens der Betreuungsstelle Ost §1
AbsonderungsV §1
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Gesetzwidrigkeit einer Verordnung der BH Baden betreffend die Untersagung des Betretens und Verlassens der Betreuungsstelle Ost; gemäß COVID-19-MaßnahmenG ist es zulässig, das Betreten bestimmter Orte zu untersagen, nicht jedoch das Verlassen eines bestimmten Ortes zu verbieten; Verbot des Verlassens der Betreuungsstelle Ost auch nicht durch die allgemeinen Ausgangsbeschränkungen, die Versorgungspflicht des Bundes aus der Grundversorgung oder das EpidemieG 1950 gedeckt

Rechtssatz

Gesetzwidrigkeit des §1 der Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Baden vom 09.04.2020, BNA5-I-20151/007. Die Präjudizialität ist gegeben, weil die Wortfolge "und das Verlassen" in §1 der Verordnung der BH Baden für die in den Anlassfällen zu klärende Frage, ob verwaltungsbehördlicher Befehl oder Zwang zulässigerweise ausgeübt wurde, anzuwenden ist. Auch steht das Betretungsverbot in §1 der Verordnung in einem so konkreten Regelungszusammenhang mit der präjudiziellen Wortfolge, dass die Prüfung der Gesetzmäßigkeit auf beide Verbote zu beziehen ist. Es ist dann bei der Frage des Aufhebungsumfanges darüber zu befinden, auf welche Weise die Gesetzwidrigkeit - sollten sich die Bedenken als begründet erweisen - beseitigt werden kann.

Durch das Verbot in §1 der Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Baden wird den in der Betreuungsstelle Ost untergebrachten Personen untersagt, das Gelände der Betreuungsstelle Ost zu verlassen. Dieses Verbot stützt sich auf §2 Z3 COVID-19-Maßnahmengesetz, das in der in den Anlassfällen maßgeblichen Fassung BGBl I 23/2020 die Bezirksverwaltungsbehörde in ihrem politischen Bezirk oder in Teilen desselben ermächtigt, durch Verordnung das Betreten von bestimmten Orten zu untersagen, soweit dies zur Verhinderung der Ausbreitung von COVID-19 erforderlich ist.

§2 Z3 COVID-19-Maßnahmengesetz erlaubt somit lediglich, das Betreten von bestimmten Orten zu untersagen, nicht jedoch, das Verlassen eines bestimmten Ortes zu verbieten, wie in §1 der Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Baden festgelegt. Das Verbot des Verlassens in §1 der Verordnung kann auch nicht - wie die BH Baden in ihrer Äußerung vermeint - in ein Betretungsverbot in dem Sinne umgedeutet werden, dass es den in der Betreuungsstelle Ost untergebrachten Personen untersagt war, das Gebiet außerhalb der Einrichtung zu betreten, weil es damit gerade ein allgemeines Betretungsverbot des öffentlichen Raumes bliebe, das von §2 COVID-19-Maßnahmengesetz nicht gedeckt ist. Eine Ermächtigung zur Beschränkung der Freizügigkeit durch ein Verbot, bestimmte Orte zu betreten, ermächtigt nicht dazu, Anordnungen zum Verbleib an einen bestimmten Ort zu treffen, die als Eingriff in die persönliche Freiheit zu qualifizieren wären.

Ebenso geht die Berufung der BH Baden auf die zum damaligen Zeitpunkt geltenden "allgemeinen Ausgangsbeschränkungen" fehl, weil diese bundesweiten Ausgangsbeschränkungen auch ohne Verordnung der BH Baden für die Personen der Betreuungsstelle Ost gegolten haben und überdies wegen Überschreitung ihrer gesetzlichen Ermächtigung in §2 COVID-19-Maßnahmengesetz mit VfSlg 20398/2020 für gesetzwidrig erklärt wurden.

Letztlich können auch etwaige Versorgungspflichten aus der Grundversorgung das Verbot des Verlassens in §1 der Verordnung der BH Baden nicht rechtfertigen, weil (Versorgungs-)Pflichten, die dem Bund aus der Grundversorgung erwachsen, keinesfalls die BH Baden dazu ermächtigen, die Bewegungsfreiheit von Personen aus diesem Grund einzuschränken.

Das Verbot, die Betreuungsstelle Ost zu verlassen, findet auch im Epidemiegesetz 1950 keine Deckung. In ihrer Äußerung erachtet die BH Baden die "Sperre" der Betreuungsstelle Ost als eine erforderliche und wirksame Maßnahme zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19, die wegen des großzügigen Geländes als bloß geringe Einschränkung für die Bewohner auch verhältnismäßig gewesen sei. Nach §7 EpiG dürfen zwar - sofern diese Bestimmung überhaupt Grundlage einer generellen Norm sein kann - Absonderungsmaßnahmen, die die Bewegungsfreiheit der Betroffenen einschränken, getroffen werden, jedoch nur in Bezug auf "kranke, krankheitsverdächtige oder ansteckungsverdächtige Personen" und dies nur, sofern nach der Art der Krankheit und des Verhaltens des Betroffenen eine ernstliche und erhebliche Gefahr für die Gesundheit anderer Personen besteht, die nicht durch gelindere Maßnahmen beseitigt werden kann. Demnach muss - bevor es überhaupt zu einer Erforderlichkeitsprüfung nach der Art der Krankheit und dem Verhalten des Betroffenen kommt - eine Person zumindest "ansteckungsverdächtig" sein, um Absonderungsmaßnahmen nach §7 EpiG gegen sie zu verfügen.

Dass sämtliche in der Betreuungsstelle Ost untergebrachten (rund 600) Personen zumindest "ansteckungsverdächtig" waren, bei ihnen somit - nach der Definition in §1 Absonderungs-VO - zumindest "erfahrungsgemäß anzunehmen ist, daß sie der Ansteckung ausgesetzt waren und die Weiterverbreitung vermitteln können", kann der VfGH auf Grund der beschriebenen Situation in der Betreuungsstelle Ost nicht finden. Die geschilderten Schwierigkeiten bei der Nachverfolgung von Kontakten vermögen eine Ausgangsperre für sämtliche Bewohner der Betreuungsstelle Ost jedenfalls nicht zu rechtfertigen. Da das vorliegende Verbot keine Deckung in §7 EpiG (und ebenso wenig in §17 EpiG und §24 EpiG idF BGBl I 114/2006) findet, kann es insofern dahinstehen, ob Absonderungsmaßnahmen nach §7 EpiG überhaupt durch Verordnung verfügt werden können.

Zum Aufhebungsumfang ist festzuhalten, dass in dieser spezifischen Situation, die eine Betreuungsstelle für Asylwerber betrifft, das Verbot des Verlassens für die Bewohner der Betreuungsstelle Ost so eng mit dem Recht, die Betreuungsstelle (wieder) betreten zu dürfen, verknüpft ist, dass auszusprechen ist, dass der gesamte §1 der Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Baden gesetzwidrig war.

(Aufhebung der Anlassfälle mit E v 30.09.2021, E3811/2020 ua, wegen Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter).

Entscheidungstexte

Schlagworte

COVID (Corona), Asylrecht, Verordnung, VfGH / Präjudizialität, VfGH / Prüfungsumfang, VfGH / Verwerfungsumfang, Recht auf Freizügigkeit, Verhältnismäßigkeit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:V88.2021

Zuletzt aktualisiert am

26.11.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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