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82/02 Gesundheitsrecht allgemeinNorm
B-VG Art83 Abs2Leitsatz
Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch Zurückweisung einer Maßnahmenbeschwerde gegen das polizeiliche "Ersuchen", die Betreuungsstelle Ost nicht zu verlassen; Vorliegen eines Aktes unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehlsgewalt auf Grund der Gesamtbetrachtung und der Evaluierung der konkreten Umstände vor OrtSpruch
I. Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtenen Beschlüsse im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.
Die Beschlüsse werden aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.877,60 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerden und Vorverfahren
1. Die beiden Beschwerdeführer, die in der Bundesbetreuungsstelle für Asylwerber in Traiskirchen in Niederösterreich (im Folgenden: Betreuungsstelle Ost) untergebracht waren, machten in ihren auf Art130 Abs1 Z2 B-VG gestützten Maßnahmenbeschwerden an das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich geltend, dass sie am 26. April 2020 auf Grund einer gesetzwidrigen Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Baden vom 9. April 2020 mit verwaltungsbehördlicher Befehlsgewalt am Verlassen der Betreuungsstelle Ost gehindert worden seien.
Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich verneinte das Vorliegen eines verwaltungsbehördlichen Befehls- oder Zwangsakt und wies die Beschwerden als unzulässig zurück. Seiner Ansicht nach seien die Beschwerdeführer lediglich in einem halbstündigen Gespräch mit drei vor Ort ihren Dienst verrichtenden Polizeibeamten über das damals geltende Verbot, die Betreuungsstelle Ost zu verlassen, aufgeklärt worden. Während des Gespräches hätten die Beschwerdeführer keinerlei ernsthafte Versuche unternommen, das Gelände der Betreuungsstelle Ost gegen den Willen der am Ausgang positionierten "Securities" oder der Polizeibeamten zu verlassen. Die Polizeibeamten hätten weder eine Anordnung gegeben, in die Betreuungsstelle zurückzukehren noch sei gedroht oder auf Konsequenzen bei allfälliger Nichtbefolgung des Ausgangsverbotes hingewiesen worden. Weitere Polizeibeamte, die sich in der Nähe des Eingangsbereiches befunden hätten, hätten sich nicht am Gespräch beteiligt.
Auch bei objektiver Betrachtung aus dem Blickwinkel der Betroffenen habe bei Beurteilung des behördlichen Vorgehens in seiner Gesamtheit nicht der Eindruck eines Befolgungsanspruches entstehen können, weil die Beschwerdeführer unter Berücksichtigung des Gesprächsablaufes, des Gesprächsinhaltes und des Verhaltens sämtlicher am Gespräch beteiligter Personen keinesfalls damit hätten rechnen müssen, dass ihnen bei Nichtbefolgung der behördlichen Anordnung Zwang drohe. Auf Grund des Verhaltens und der Sachlichkeit des Gespräches seien aus objektiver Sicht keine Umstände anzunehmen, die dem Ersuchen der gesprächsführenden Polizeibeamten eine "Aufforderung" hätte unterstellen können. Behördliche Hinweise zu einem bestimmten Verhalten seien keine normative Anordnung, wenn die Asylwerber dem Hinweis nach getaner, erfolgreicher Über-zeugungsarbeit freiwillig Folge geleistet haben.
2. Gegen diese Entscheidungen richten sich die vorliegenden, auf Art144 B-VG gestützten Beschwerden, in denen die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten sowie, der Sache nach, in Rechten wegen Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen beantragt wird. Ausgeführt wird insbesondere, dass den Beschwerdeführern durch die Zurückweisung der Maßnahmenbeschwerden zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert worden sei, weil die Beschwerdeführer in Zusammenschau der in der Betreuungsstelle Ost gegebenen Umstände objektiv davon hätten ausgehen müssen, die Anordnung der Polizeibeamten werde letztlich physisch durchgesetzt werden, weshalb ein Akt unmittelbarer Befehlsgewalt vorgelegen sei.
3. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich hat die Gerichtsakten vorgelegt. Eine Gegenschrift hat es unter Hinweis auf die angefochtenen Entscheidungen nicht erstattet.
II. Erwägungen
1. Die – zulässigen – Beschwerden sind begründet.
2. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch die Entscheidung eines Verwaltungsgerichtes verletzt, wenn das Verwaltungsgericht eine ihm gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB VfSlg 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001 und 16.717/2002) oder wenn es in gesetzwidriger Weise seine Zuständigkeit ablehnt, etwa indem es zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg 15.482/1999, 15.858/2000, 16.079/2001 und 16.737/2002).
3. Ein solcher Fehler ist dem Landesverwaltungsgericht Niederösterreich unterlaufen:
3.1. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich hat die von den Beschwerdeführern erhobenen Maßnahmenbeschwerden mit der Begründung zurückgewiesen, dass die in einem Gespräch erfolgte Aufklärung von vor Ort ihren Dienst verrichtenden Polizeibeamten (vgl §2a COVID-19-Maßnahmengesetz, BGBl I 12/2020, idF BGBl I 23/2020), die Betreuungsstelle Ost nicht verlassen zu dürfen, keine Anordnung sei, der ein normativer Gehalt zukomme, bzw dass bei einer Gesamtbeurteilung des Geschehens bei den Beschwerdeführern nicht der Eindruck habe entstehen müssen, dass bei Verlassen des Geländes der Betreuungsstelle Ost mit der zwangsweisen Durchsetzung des Verbotes zu rechnen sei. Die Beschwerdeführer hätten letztlich freiwillig vom Verlassen der Betreuungsstelle Ost Abstand genommen.
3.2. Voraussetzung für die Qualifizierung einer verwaltungsbehördlichen Anordnung als Akt unmittelbarer Befehlsgewalt ist nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ein unmittelbarer Befolgungsanspruch. Das bedeutet, dass dem Befehlsadressaten bei Nichtbefolgung des Befehls unverzüglich eine physische Sanktion droht (vgl zB VfSlg 10.020/1984, 10.420/1985 und 10.662/1985). Liegt ein derartiger Befolgungsanspruch (objektiv) nicht vor, so kommt es darauf an, ob aus Sicht des Betroffenen der Eindruck entstehen musste, dass bei Nichtbefolgung der behördlichen Anordnung mit ihrer unmittelbaren zwangsweisen Durchsetzung zu rechnen ist, wobei das behördliche Vorgehen in seiner Gesamtheit zu beurteilen ist (vgl VfSlg 18.836/2009 und 10.976/1986).
3.3. Zwar ist dem Landesverwaltungsgericht Niederösterreich insoweit zu folgen, dass gegen die Beschwerdeführer objektiv keine unmittelbare verwaltungsbehördliche Befehls- oder Zwangsgewalt ausgeübt wurde. Der Auffassung des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich, die Beschwerdeführer hätten auf Grund des Gesprächsablaufes nicht damit rechnen müssen, dass bei Nichtbefolgung des "Ersuchens", in der Betreuungsstelle Ost zu verbleiben, Zwang ausgeübt worden wäre, und sie freiwillig vom Verlassen des Geländes Abstand genommen hätten, ist jedoch nicht beizutreten.
Denn bei einer Gesamtbetrachtung und Evaluierung der konkreten Umstände vor Ort – mit Schranken und "Securities" gesicherter Ausgangsbereich, Verbots- bzw Stoppschilder mit Hinweisen auf das COVID-19-bedingte Verlassensverbot, mehrere Exekutivbeamte vor Ort – hätte das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich davon ausgehen müssen, dass die Beschwerdeführer den Eindruck haben mussten, dass dem "Ersuchen" der Exekutivorgane ein Befolgungsanspruch innewohnt, der bei Verlassen der Betreuungsstelle Ost unmittelbar und zwangsweise (nicht nur strafweise) durchgesetzt worden wäre (vgl VfSlg 18.836/2009). Dass die Anordnung zur Abstandnahme des Verlassens des Geländes in einem bloßen Gespräch stattgefunden hat, ändert – entgegen der Ansicht des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich – auf Grund der konkreten Umstände vor Ort, die im Übrigen auch die Annahme der Freiwilligkeit ausschließen, nichts am Vorliegen eines Aktes unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehlsgewalt.
3.4. Dadurch, dass das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich das Vorliegen eines Aktes unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehlsgewalt verneint hat, hat es die Beschwerdeführer in ihrem Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt. Bei Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Aktes wird zu berücksichtigen sein, dass der Verfassungsgerichtshof in dem aus Anlass der Beschwerden gegen die Entscheidungen des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich eingeleiteten Verordnungsprüfungsverfahren mit Erkenntnis vom 30. September 2021, V88-89/2021, aussprach, dass das in §1 der Verordnung der Bezirkshauptmannschaft Baden vom 9. April 2020 untersagte Betreten und Verlassen des Geländes der Betreuungsstelle Ost gesetzwidrig war.
III. Ergebnis
1. Die Beschwerdeführer sind somit durch die angefochtenen Beschlüsse im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.
2. Die Beschlüsse sind daher aufzuheben, ohne dass auf die weiteren Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88a Abs1 iVm §88 VfGG. Da die gegen gleichartige Entscheidungen gerichteten Beschwerden im Zuge einer gemeinsamen Rechtsvertretung eingebracht wurden, ist insgesamt nur der einfache Pauschalsatz, erhöht um einen entsprechenden Streitgenossenzuschlag von 10 vH, zuzusprechen (zB VfSlg 17.317/2004, 17.482/2005, 19.404/2011, 19.709/2012). In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 479,60 enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühren ist nicht zuzusprechen, weil die Beschwerdeführer Verfahrenshilfe im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießen.
Schlagworte
Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Verordnung, VfGH / Anlassverfahren, VfGH / AnlassfallEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2021:E3811.2020Zuletzt aktualisiert am
26.11.2021