TE Vfgh Erkenntnis 2021/10/7 E93/2021

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Veröffentlicht am 07.10.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

PersFrSchG Art1
FremdenpolizeiG 2005 §76, §80 Abs2, §80 Abs4
BFA-VG §22a
Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG (Rückführungs-RL) Art15
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Freiheit und Sicherheit durch Fortsetzung der Schubhaft betreffend einen afghanischen Staatsangehörigen; mangelhafte Prüfung der Voraussetzungen für eine über sechs Monate dauernde Anhaltung in Schubhaft; zeitweilige Aussetzung der Charterabschiebeflüge vom Betroffenen nicht zu vertreten insbesondere mangels der Kausalität des Verhaltens während der Haft für die Nichtdurchführung der Abschiebung

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 6. April 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20. März 2018 abgewiesen wurde. Zudem wurde kein Aufenthaltstitel erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen, die Zulässigkeit der Abschiebung nach Afghanistan festgestellt und eine Frist für die freiwillige Ausreise festgesetzt. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 28. Jänner 2020 (mündlich verkündet am 10. Jänner 2020) als unbegründet ab. Mit Bescheid vom 20. Dezember 2018 stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl fest, dass der Beschwerdeführer ab 13. Dezember 2018 sein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet verloren hat.

2. Nach gewährtem Parteiengehör zur geplanten Verhängung der Schubhaft wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29. November 2019 die Schubhaft zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme angeordnet. Im Anschluss an die Strafhaft wurde der Beschwerdeführer am 3. Dezember 2019 in Schubhaft überstellt.

3. Nachdem der erste Antrag auf internationalen Schutz rechtskräftig abgewiesen wurde, stellte der Beschwerdeführer am 30. Jänner 2020 aus dem Stand der Schubhaft einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz. Dieser wurde mit Bescheid vom 17. Februar 2020 wegen entschiedener Sache zurückgewiesen, es wurde kein Aufenthaltstitel erteilt, eine Rückkehrentscheidung und ein Einreiseverbot in der Dauer von acht Jahren erlassen sowie keine Frist für die freiwillige Ausreise festgesetzt. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde vom Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 13. März 2020 als unbegründet abgewiesen.

4. Mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 20. Dezember 2019, 3. April 2020, 30. April 2020, 27. Mai 2020, 24. Juni 2020, 22. Juli 2020, 20. August 2020, 14. September 2020, 9. Oktober 2020 und 6. November 2020 wurde festgestellt, dass zum jeweiligen Entscheidungszeitpunkt die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgebenden Voraussetzungen vorgelegen seien und die Aufrechterhaltung der Schubhaft zum Zeitpunkt der jeweiligen Entscheidung verhältnismäßig gewesen sei.

5. Mit Beschwerde vom 18. November 2020 – beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt am 20. November 2020 – bekämpfte der Beschwerdeführer die fortdauernde Anhaltung in Schubhaft und beantragte die sofortige Entlassung aus der Schubhaft. Das Bundesverwaltungsgericht stellte mit Erkenntnis vom 27. November 2020 fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorliegen würden und wies die Beschwerde gegen die Anhaltung in Schubhaft seit 4. Juni 2020 als unbegründet ab. Zudem habe der Beschwerdeführer dem Bund den Verfahrensaufwand in bestimmter Höhe zu ersetzen.

5.1. Die Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung der Schubhaft würden vorliegen, weil Fluchtgefahr bestehe, die Schubhaft verhältnismäßig sei und ein gelinderes Mittel nicht ausreiche.

5.2. Am 4. und 26. Februar 2020 seien erfolgreich Charterabschiebungen nach Afghanistan durchgeführt worden. Der Beschwerdeführer habe durch die unbegründete missbräuchliche Asylfolgeantragstellung sein Verfahren zur Außerlandesbringung verzögert und eine realistisch mögliche Abschiebung im Februar verhindert. Bis zum Entscheidungszeitpunkt hätten auf Grund der COVID-19 bedingten Flugverkehrsbeschränkungen seit 26. Februar 2020 keine weiteren Charterabschiebeflüge nach Afghanistan durchgeführt werden können.

5.3. Die Ausstellung eines Heimreisezertifikates sei vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl bei der afghanischen Botschaft am 16. März 2020 angefordert und von dieser am 17. April 2020 zugesichert worden, dass auf Grund der vorhandenen Tazkira die Ausstellung eines EU Laissez Passer jederzeit möglich sei. Die Abschiebung des Beschwerdeführers innerhalb der höchstzulässigen Schubhaftdauer sei möglich. Für einen Termin im Dezember 2020 sei eine Frontex-Charterrückführung nach Afghanistan geplant; der Termin sei für den Beschwerdeführer gebucht worden.

5.4. Zur Fortsetzung der Schubhaft gemäß §80 Abs3 [gemeint wohl: Abs4] FPG führt das Bundesverwaltungsgericht auszugsweise wie folgt aus:

"Zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführer noch vor dem Hintergrund der zulässigen Dauer einer Anhaltung in Schubhaft in Schubhaft angehalten werden darf und allenfalls in weiterer Folge, ob eine Abschiebung des Beschwerdeführers noch innerhalb der noch zur Verfügung stehenden, zulässigen Dauer der Schubhaft bewerkstelligt werden kann.

[…]

4.1.4. Aus den erläuternden Bemerkungen zu §80 FPG (RV 1523 BIgNR XXV. GP 2, Fremdenrechtsänderungsgesetz 2017 – FrÄG 2017) ergibt sich:

'Schließlich wird durch die Änderung des §80 FPG einerseits die Regelung der höchstzulässigen Dauer der Schubhaft den Vorgaben des Unionsrechts auf Grund der Richtlinie 2008/115/EG über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. Nr L 348 vom 24.12.2008 S. 98 (im Folgenden: 'Rückführungs-RL') angepasst.'

Mit §80 FPG wird die Bestimmung des Art15 Rückführungs-RL umgesetzt. Ist eine Anhaltung des Fremden in Schubhaft über die übliche Dauer gemäß §80 Abs2 FPG vorgesehen und fällt daher die Überprüfung einer Anhaltung in Schubhaft in den Anwendungsbereich der Rückführungs-RL, ist die innerstaatliche Bestimmung des §80 FPG richtlinienkonform auszulegen. Beim Beschwerdeführer handelt es sich gemäß Art2 Abs1 Rückführungs-RL um einen Drittstaatsangehörigen handelt, der sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaates aufhält. Die Rückführungs-RL ist im gegenständlichen Fall daher anwendbar und die Bestimmung des §80 FPG daher im Sinne der Rückführungs-RL auszulegen.

4.1.5. Die Anhaltung in Schubhaft darf gemäß §80 Abs2 FPG grundsätzlich die Dauer von sechs Monaten nicht übersteigen. Dies steht im Einklang mit Art15 Abs5 der Rückführungs-RL.

Zu prüfen ist daher, ob in der vorliegenden Konstellation aufgrund der Bestimmungen des §80 Abs4 FPG iVm Art15 Rückführungs-RL von einer Schubhaftdauer von bis zu 18 Monaten auszugehen ist.

4.1.6. Gemäß §80 Abs4 Z4 FPG kann somit ein Drittstaatsangehöriger bis zu 18 Monate in Schubhaft angehalten werden, wenn er bisher deshalb nicht abgeschoben werden konnte, weil die Abschiebung dadurch, dass der Fremde sich bereits einmal dem Verfahren entzogen oder ein Abschiebungshindernis auf sonstige Weise zu vertreten hat, gefährdet erscheint. Mit dieser Bestimmung wird Art15 Abs6 lita der Rückführungs-RL umgesetzt, wonach sich in den Fällen, in denen Abschiebungsmaßnahmen trotz ihrer angemessenen Bemühungen aufgrund der mangelnde Kooperationsbereitschaft seitens der betroffenen Drittstaatsangehörigen wahrscheinlich länger dauern werden, die höchstmögliche Schubhaftdauer um weitere 12 Monate verlängert.

§80 Abs4 Z4 FPG stellt auf eine Gefährdung der Abschiebung ab, die sich daraus ergeben kann, dass sich der Fremde bereits einmal dem Verfahren entzogen hat oder er ein Abschiebehindernis auf sonstige Weise zu vertreten hat. Art15 Abs6 lita der Rückführungs-RL stellt darauf ab, dass sich eine Abschiebung aufgrund der mangelnden Kooperationsbereitschaft des Beschwerdeführers verzögert. Nach der Rückführungs-RL muss die mangelnde Kooperationsbereitschaft des Drittstaatsangehörigen daher kausal für die Verzögerung von Abschiebungsmaßnahmen sein, sodass auch §80 Abs4 Z4 FPG diesbezüglich im Sinn von Art15 Rückführungs-RL auszulegen ist.

Wie festgestellt wurden am 04.02.2020 und am 26.02.2020 noch erfolgreich Charterabschiebungen nach Afghanistan durchgeführt. Der BF hat aufgrund seines –wie beweiswürdigend ausgeführt - unbegründeten und offenkundig in Missbrauchsabsicht zur Verzögerung seiner Abschiebung gestellten Asylfolgeantrages vom 30.01.2020 selbst ein Abschiebehindernis zu vertreten. Die Verzögerung des Verfahrens zur Abschiebung ist eindeutig dem BF zuzurechnen und steht in adäquaten Kausalzusammenhang mit der immer noch andauernden Schubhaft. Dass im Anschluss durch die Covid-19 Pandemie und der Aussetzung der Charterflüge durch die afghanische Regierung keine Abschiebungen erfolgten kann weder dem Bundesamt noch dem BF zugerechnet werden.

Das Bundesamt hat durch die zügige Verfahrensführung des zweiten Asylverfahrens binnen zweieinhalb Wochen auf eine möglichst kurze Anhaltung iSd §80 Abs1 FPG hingewirkt. Aus dem Vorbringen der Stellungnahme, dass die Behörde 'ohne weiteres den faktischen Abschiebeschutz aufheben hätte können', kann nichts gewonnen werden. Der BF hat – in Anhaltung in Schubhaft nach rechtskräftiger Rückkehrentscheidung, die am 10.01.2020 durch das BVwG mündlich verkündet und am 28.01.2020 dem BF und dem Bundesamt zugestellt wurde, am 30.01.2020 einen Folgeantrag gestellt. Ein Verfahren zur Aberkennung des faktischen Abschiebeschutzes samt der gesetzlich vorgesehenen gerichtlichen Überprüfung war bis zum erstmöglichen Abschiebetermin am 04.02.2020 somit faktisch nicht möglich. Das Bundesamt hat bis zum 17.02.2020 das zweite Asylverfahren erstbehördlich abgeschlossen.

Nach Ansicht des Gerichts kann dem Bundesamt in Zusammenschau mit der zügigen Verfahrensführung innerhalb von zweieinhalb Wochen nicht vorgeworfen werden, dass es durch eine Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes auf eine schnellere Abschiebung des BF hinwirken hätte müssen. Der zur Verzögerung der Vollstreckung gestellte Antrag auf internationalen Schutz ist eindeutig dem BF zuzurechnen. Während eines laufenden Asylverfahrens kann dem Bundesamt keinesfalls Untätigkeit im Rahmen des HRZ Verfahrens vorgeworfen werden. Nach Ansicht des Gerichts stellt auch der Zeitraum zwischen mündlich verkündeter Entscheidung des BVwG von 10.01.2020 und der Zustellung der gekürzten Ausfertigung am 28.01.2020 bis zur Folgeantragstellung 30.01.2020 kein unverhältnismäßiges Zuwarten des Bundesamts dar. Den Ausführungen der Stellungnahme der HRZ Abteilung vom 23.11.2020, dass der BF aufgrund der vorliegenden Taskira jederzeit mit einem EU Laissez Passer abgeschoben werden hätte können, wurde in der Stellungnahme des BF vom 26.11.2020 nicht entgegengetreten.

Das Verhalten des BF ist unter mangelnde Kooperationsbereitschaft von Drittstaatsangehörigen im Sinne des Art15 Abs5 lita der Rückführungs-RL zu subsumieren.

Es liegen daher die Voraussetzungen für eine Verlängerung der sechsmonatigen Schubhaftdauer auf 18 Monate vor.

Dass Gericht gelangt im gegenständlichen Verfahren zur Überzeugung, dass der BF durch einen offenkundig in Missbrauchsabsicht - zur Verzögerung seiner Abschiebung gestellten Asylfolgeantrages, ein Abschiebehindernis gemäß §80 Abs4 ZZ4 FPG auf sonstige Weise zu vertreten hat und daher die Voraussetzungen für eine Verlängerung der sechsmonatigen Schubhaftdauer auf 18 Monate vorliegt."

6. Gegen diese Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander und auf persönliche Freiheit, behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Begründend wird im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:

6.1. Das Bundesverwaltungsgericht gehe davon aus, dass der Beschwerdeführer auf Grund der Stellung eines Folgeantrages auf internationalen Schutz am 30. Jänner 2020 ein Abschiebehindernis gemäß §80 Abs4 Z4 FPG auf sonstige Weise zu vertreten habe und daher die Voraussetzungen für eine Verlängerung der zulässigen Höchstdauer der Schubhaft von sechs Monaten auf 18 Monate vorliegen würden. Eine Stellung eines Folgeantrages sei eine gesetzlich vorgesehene, zulässige Vorgehensweise. Zudem habe der Gesetzgeber mit der Aberkennung des faktischen Abschiebeschutzes – dass das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den faktischen Abschiebeschutz nicht aberkannt habe, könne dem Beschwerdeführer aber auch nicht vorgeworfen werden – eine Möglichkeit geschaffen, um (vermeintlich) missbräuchliche Anträge hintanzuhalten.

6.2. Die Auffassung des Bundesverwaltungsgerichtes stehe auch mit der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH 5.6.2014, Rs C-146/14, Mahdi) und des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 15.12.2020, Ra 2020/21/0404) in Widerspruch. Nicht die Asylfolgeantragstellung habe die Abschiebung verzögert. Die anderen, die Verzögerung bewirkenden Ursachen habe das Bundesverwaltungsgericht nicht festgestellt; es habe auch nicht festgestellt, ob diese dem Beschwerdeführer zuzurechnen seien. Vermutlich habe die Einschränkung des Flugverkehrs ab März 2020 die massive Verzögerung der Abschiebung verursacht, was aber dem Beschwerdeführer nicht zugerechnet werden könne und somit die weitere Anhaltung über sechs Monate hinaus nicht rechtfertige. Das Bundesverwaltungsgericht habe §80 Abs4 Z4 FPG einen verfassungswidrigen Inhalt unterstellt.

7. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber Abstand genommen.

II. Rechtslage

1. §80 des Bundesgesetzes über die Ausübung der Fremdenpolizei, die Ausstellung von Dokumenten für Fremde und die Erteilung von Einreisetitel (Fremdenpolizeigesetz 2005 – FPG), BGBl I 100/2005, idF BGBl I 56/2018 lautet:

"Dauer der Schubhaft

§80. (1) Das Bundesamt ist verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass die Schubhaft so kurz wie möglich dauert. Die Schubhaft darf so lange aufrechterhalten werden, bis der Grund für ihre Anordnung weggefallen ist oder ihr Ziel nicht mehr erreicht werden kann.

(2) Die Schubhaftdauer darf, vorbehaltlich des Abs5 und der Dublin-Verordnung, grundsätzlich

       1. drei Monate nicht überschreiten, wenn die Schubhaft gegen einen mündigen Minderjährigen angeordnet wird;

       2. sechs Monate nicht überschreiten, wenn die Schubhaft gegen einen Fremden, der das 18. Lebensjahr vollendet hat, angeordnet wird und kein Fall der Abs3 und 4 vorliegt.

(3) Darf ein Fremder deshalb nicht abgeschoben werden, weil über einen Antrag gemäß §51 noch nicht rechtskräftig entschieden ist, kann die Schubhaft bis zum Ablauf der vierten Woche nach rechtskräftiger Entscheidung, insgesamt jedoch nicht länger als sechs Monate aufrecht erhalten werden.

(4) Kann ein Fremder deshalb nicht abgeschoben werden, weil

       1. die Feststellung seiner Identität und der Staatsangehörigkeit, insbesondere zum Zweck der Erlangung eines Ersatzreisedokumentes, nicht möglich ist,

       2. eine für die Ein- oder Durchreise erforderliche Bewilligung eines anderen Staates nicht vorliegt,

       3. der Fremde die Abschiebung dadurch vereitelt, dass er sich der Zwangsgewalt (§13) widersetzt, oder

       4. die Abschiebung dadurch, dass der Fremde sich bereits einmal dem Verfahren entzogen oder ein Abschiebungshindernis auf sonstige Weise zu vertreten hat, gefährdet erscheint,

kann die Schubhaft wegen desselben Sachverhalts abweichend von Abs2 Z2 und Abs3 höchstens 18 Monate aufrechterhalten werden.

(5) Abweichend von Abs2 und vorbehaltlich der Dublin-Verordnung darf die Schubhaft, sofern sie gegen einen Asylwerber oder einen Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, angeordnet wurde, bis zum Zeitpunkt des Eintritts der Durchsetzbarkeit der aufenthaltsbeendenden Maßnahme die Dauer von 10 Monaten nicht überschreiten. Wird die Schubhaft über diesen Zeitpunkt hinaus aufrechterhalten oder nach diesem Zeitpunkt neuerlich angeordnet, ist die Dauer der bis dahin vollzogenen Schubhaft auf die Dauer gemäß Abs2 oder 4 anzurechnen.

(5a) In den Fällen des §76 Abs2 letzter Satz ist auf die Schubhaftdauer gemäß Abs5 auch die Dauer der auf den Festnahmeauftrag gestützten Anhaltung anzurechnen, soweit sie nach Stellung des Antrags auf internationalen Schutz gemäß §40 Abs5 BFA-VG aufrechterhalten wurde. Die Anrechnung gemäß Abs5 letzter Satz bleibt davon unberührt.

(6) Das Bundesamt hat von Amts wegen die Verhältnismäßigkeit der Anhaltung in Schubhaft längstens alle vier Wochen zu überprüfen. Ist eine Beschwerde gemäß §22a Abs1 Z3 BFA-VG anhängig, hat diesfalls die amtswegige Überprüfung zu entfallen.

(7) Das Bundesamt hat einen Fremden, der ausschließlich aus den Gründen des Abs3 oder 4 in Schubhaft anzuhalten ist, hievon unverzüglich schriftlich in Kenntnis zu setzen."

2. Art15 der Richtlinie 2008/115/EG über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (im Folgenden: Rückführungs-RL), Abl. 2008 L 348, 98, lautet:

"

KAPITEL IV

INHAFTNAHME FÜR DIE ZWECKE DER ABSCHIEBUNG

Artikel 15

Inhaftnahme

(1) Sofern in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, dürfen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn

       a) Fluchtgefahr besteht oder

       b) die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern.

Die Haftdauer hat so kurz wie möglich zu sein und sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden.

(2) Die Inhaftnahme wird von einer Verwaltungs- oder Justizbehörde angeordnet.

Die Inhaftnahme wird schriftlich unter Angabe der sachlichen und rechtlichen Gründe angeordnet.

Wurde die Inhaftnahme von einer Verwaltungsbehörde angeordnet, so gilt Folgendes:

       a) entweder lässt der betreffende Mitgliedstaat die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme so schnell wie möglich nach Haftbeginn innerhalb kurzer Frist gerichtlich überprüfen,

       b) oder der Mitgliedstaat räumt den betreffenden Drittstaatsangehörigen das Recht ein zu beantragen, dass die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme innerhalb kurzer Frist gerichtlich überprüft wird, wobei so schnell wie möglich nach Beginn des betreffenden Verfahrens eine Entscheidung zu ergehen hat. In einem solchen Fall unterrichtet der Mitgliedstaat die betreffenden Drittstaatsangehörigen unverzüglich über die Möglichkeit, einen solchen Antrag zu stellen.

Ist die Inhaftnahme nicht rechtmäßig, so werden die betreffenden Drittstaatsangehörigen unverzüglich freigelassen.

(3) Die Inhaftnahme wird in jedem Fall – entweder auf Antrag der betreffenden Drittstaatsangehörigen oder von Amts wegen – in gebührenden Zeitabständen überprüft. Bei längerer Haftdauer müssen die Überprüfungen der Aufsicht einer Justizbehörde unterliegen.

(4) Stellt sich heraus, dass aus rechtlichen oder anderweitigen Erwägungen keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht oder dass die Bedingungen gemäß Absatz 1 nicht mehr gegeben sind, so ist die Haft nicht länger gerechtfertigt und die betreffende Person unverzüglich freizulassen.

(5) Die Haft wird so lange aufrechterhalten, wie die in Absatz 1 dargelegten Umstände gegeben sind und wie dies erforderlich ist, um den erfolgreichen Vollzug der Abschiebung zu gewährleisten. Jeder Mitgliedstaat legt eine Höchsthaftdauer fest, die sechs Monate nicht überschreiten darf.

(6) Die Mitgliedstaaten dürfen den in Absatz 5 genannten Zeitraum nicht verlängern; lediglich in den Fällen, in denen die Abschiebungsmaßnahme trotz ihrer angemessenen Bemühungen aufgrund der nachstehend genannten Faktoren wahrscheinlich länger dauern wird, dürfen sie diesen Zeitraum im Einklang mit dem einzelstaatlichen Recht um höchstens zwölf Monate verlängern:

       a) mangelnde Kooperationsbereitschaft seitens der betroffenen Drittstaatsangehörigen oder

       b) Verzögerungen bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten." (Zitat ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen)

III. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes, mit dem darüber entschieden wird, ob eine Festnahme oder Anhaltung einer Person rechtmäßig war oder ist, verletzt das durch Art1 ff. des Bundesverfassungsgesetzes über den Schutz der persönlichen Freiheit und durch Art5 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit), wenn es gegen die verfassungsgesetzlich festgelegten Erfordernisse der Festnahme bzw Anhaltung verstößt, wenn es in Anwendung eines verfassungswidrigen, insbesondere den genannten Verfassungsvorschriften widersprechenden Gesetzes erlassen wurde oder wenn es gesetzlos oder in denkunmöglicher Anwendung einer verfassungsrechtlich unbedenklichen Rechtsgrundlage ergangen ist; ein Fall, der nur dann vorläge, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hätte, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre (VfSlg 13.708/1994, 15.131/1998, 15.684/1999 und 16.384/2001).

3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

3.1. Gemäß Art15 Abs5 letzter Satz der Rückführungs-RL darf die von den Mitgliedstaaten festzulegende Höchsthaftdauer, um den erfolgreichen Vollzug der Abschiebung zu gewährleisten, sechs Monate nicht überschreiten. Gemäß Art15 Abs6 der Rückführungs-RL darf die Schubhaftdauer in jenen Fällen um höchstens zwölf Monate verlängert werden, in denen die Abschiebungsmaßnahme trotz der angemessenen Bemühungen der Mitgliedstaaten auf Grund der mangelnden Kooperationsbereitschaft seitens der betroffenen Drittstaatsangehörigen oder der Verzögerungen bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten wahrscheinlich länger dauern wird.

3.2. In seinem Urteil vom 5. Juni 2014, Rs C-146/14, Mahdi, hat der Gerichtshof der Europäischen Union vor dem Hintergrund der Vorlagefrage ausgeführt:

"Der Begriff der mangelnden Kooperationsbereitschaft im Sinne von Art15 Abs.6 der Richtlinie 2008/115 erfordert aber, dass die Behörde, die über einen Antrag auf Verlängerung der Haft eines Drittstaatsangehörigen entscheidet, zum einen sein Verhalten während des ersten Haftzeitraums untersucht, um festzustellen, ob er nicht mit den zuständigen Behörden hinsichtlich der Durchführung der Abschiebung zusammengearbeitet hat, und zum anderen prüft, ob die Abschiebung wegen dieses Verhaltens des Drittstaatsangehörigen wahrscheinlich länger dauern wird. Wenn die Abschiebung des Betroffenen aus einem anderen Grund länger als vorgesehen dauern wird oder gedauert hat, kann kein Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten des Drittstaatsangehörigen und der Dauer der Abschiebung und damit keine mangelnde Kooperationsbereitschaft des Betreffenden festgestellt werden.

Außerdem verlangt Art15 Abs6 der Richtlinie 2008/115, dass die betreffende Behörde, bevor sie prüft, ob der Drittstaatsangehörige mangelnde Kooperationsbereitschaft zeigt, nachweisen kann, dass die Abschiebung trotz ihrer angemessenen Bemühungen länger dauern wird als vorgesehen, was im Ausgangsfall erfordert, dass der betreffende Mitgliedstaat sich aktiv bemüht hat und immer noch bemüht, die Ausstellung von Identitätsdokumenten für diesen Drittstaatsangehörigen zu erreichen.

Die Feststellung, dass der betreffende Mitgliedstaat angemessene Bemühungen zur Durchführung der Abschiebung unternommen hat und dass der Drittstaatsangehörige mangelnde Kooperationsbereitschaft zeigt, setzt folglich eine eingehende Prüfung der tatsächlichen Umstände des gesamten ersten Haftzeitraums voraus."

3.3. Mit §80 Abs2 und 4 FPG werden Art15 Abs5 und 6 der Rückführungs-RL in das nationale Recht umgesetzt (vgl Erläut RV 1078 BlgNR 24. GP, 37 f.; Erläut RV 1523 BlgNR 25. GP, 35 f.). Gemäß §80 Abs2 FPG darf die Schubhaft grundsätzlich drei bzw sechs Monate nicht überschreiten. Damit legt das Gesetz eine Höchstdauer für die Anhaltung in Schubhaft fest (vgl Erläut RV 1523 BlgNR 25. GP, 35), die nach §80 Abs4 FPG (entsprechend Art15 Abs6 Rückführungs-RL) in bestimmten Ausnahmefällen auf die höchstzulässige Dauer der Schubhaft auf 18 Monate ausgedehnt werden kann (vgl Erläut RV 1523 BlgNR 25. GP, 36 und 4).

3.4. Im vorliegenden Fall befand sich der Beschwerdeführer ab 3. Dezember 2019 in Schubhaft und wurde somit zum Zeitpunkt der Entscheidung vom 27. November 2020 über die vorgesehene grundsätzliche Höchstdauer von sechs Monaten hinaus in Schubhaft angehalten (vgl §80 Abs2 FPG und Art15 Abs5 Rückführungs-RL). Ob seitens der Behörden angemessene Bemühungen hinsichtlich der Abschiebungsmaßnahmen gesetzt wurden (vgl Art15 Abs6 Rückführungs-RL), kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben. Das Bundesverwaltungsgericht begründet die Rechtmäßigkeit der weiteren Anhaltung über sechs Monate hinaus damit, dass der Beschwerdeführer auf Grund der unbegründeten und missbräuchlichen Asylfolgeantragstellung am 30. Jänner 2020 (über den bereits am 13. März 2020 rechtskräftig entschieden wurde), nachdem der erste Asylantrag rechtskräftig abgewiesen worden sei, ein Abschiebehindernis zu vertreten habe. Die Verzögerung des Verfahrens zur Abschiebung sei daher dem Beschwerdeführer zuzurechnen und stehe in adäquatem Kausalzusammenhang mit der immer noch andauernden Schubhaft. Dem fügt das Bundesverwaltungsgericht hinzu, es könne weder dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl noch dem Beschwerdeführer zugerechnet werden, dass im Anschluss durch die COVID-19-Pandemie und die Aussetzung der Charterflüge durch die afghanische Regierung keine Abschiebungen erfolgt seien. Dementsprechend stellte das Bundesverwaltungsgericht auch fest, dass bis zum Entscheidungszeitpunkt auf Grund der COVID-19 bedingten Flugverkehrsbeschränkungen seit 26. Februar 2020 keine weiteren Charterabschiebeflüge nach Afghanistan durchgeführt hätten werden können. Vor diesem Hintergrund ist es aber für den Verfassungsgerichtshof nicht nachvollziehbar, wie ein neuerlich gestellter Antrag auf internationalen Schutz – wobei hier dahingestellt bleiben kann, ob dies überhaupt ein die Abschiebung verzögerndes, dem Beschwerdeführer anzulastendes Verhalten darstellen kann – kausal für eine zehnmonatige Verzögerung der Abschiebung sein könnte, und damit eine weitere Anhaltung im November 2020 gerechtfertigt werden könnte. Offenkundig ist die weitere Anhaltung – wovon anscheinend auch das Bundesverwaltungsgericht ausgeht – darauf zurückzuführen, dass "aufgrund der COVID — 19 bedingten Flugverkehrsbeschränkungen seit 26.02.2020 keine weiteren Charterabschiebeflüge nach Afghanistan durchgeführt [wurden]". Die Abschiebung dürfte sich daher aus vom Beschwerdeführer nicht zu vertretenden Gründen verzögert haben (vgl VwGH 15.12.2020, Ra 2020/21/0404).

3.5. Dem Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union vom 5. Juni 2014, Rs C-146/14, Mahdi, folgend, liegt dann keine "mangelnde Kooperationsbereitschaft" iSd Art15 Abs6 Buchst. a Rückführungs-RL vor – und der Ausnahmetatbestand des §80 Abs4 Z4 FPG ist nicht erfüllt, "wenn die Prüfung des Verhaltens des Drittstaatsangehörigen während der Haft ergibt, dass er nicht bei der Durchführung der Abschiebung kooperiert hat und dass diese wegen dieses Verhaltens wahrscheinlich länger dauern wird als vorgesehen […]." (EuGH 5.6.2014, Rs C-146/14, Mahdi, Rz 85; zur gebotenen richtlinienkonformen Interpretation des §80 Abs4 Z4 FPG, siehe auch VwGH 15.12.2020, Ra 2020/21/0404). Indem das Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Fall das Vorliegen der Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung der Schubhaft und die Verhältnismäßigkeit der weiteren Anhaltung festgestellt hat, ohne aber die konkrete Kausalität eines Verhaltens des Beschwerdeführers für die nichterfolgte Abschiebung und die dadurch bewirkte Verlängerung der Schubhaft darzulegen, hat es – mangels Erfüllung des §80 Abs4 Z4 FPG und weil es daher an einer Rechtsgrundlage für die weitere Anhaltung in Schubhaft fehlt – den Beschwerdeführer im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit) verletzt. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben.

IV. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit und Sicherheit (persönliche Freiheit) verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.

Schlagworte

Schubhaft, Freiheit persönliche, Verhältnismäßigkeit, Ausweisung, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E93.2021

Zuletzt aktualisiert am

29.11.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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