RS Vfgh 2021/10/7 A5/2021

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Veröffentlicht am 07.10.2021
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Index

17 VEREINBARUNGEN GEMÄSS ART. 15a B-VG

Norm

B-VG Art10 Abs1 Z3
B-VG Art10 Abs1 Z7
B-VG Art11 Abs4
B-VG Art12 Abs1 Z1
B-VG Art15a
B-VG Art137 / Klage
EMRK Art8
Grundversorgungsvereinbarung Art3, Art10, Art11, Art13
AsylG 1997 §7, §8
FremdenG 1997 §57
AsylG 2005 §3, §8, §10, §15, §29
ZPO §52, §393, §393a
EGZPO Art42
GFK Art23
F-VG §2
Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrens-RL) Art17
Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikations-RL) Art29
VfGG §7 Abs1, §35, §41

Leitsatz

Stattgabe einer Klage des Landes Wien gegen den Bund auf Kostenersatz für vom Land erbrachte Grundversorgungsleistungen; Verpflichtung des Bundes zur Tragung der Kosten zu 100% für subsidiär Schutzberechtigte, über deren Asylstatus nicht binnen zwölf Monaten (rechtskräftig) entschieden wurde sowie abrechnungsrelevante Daten der Grundversorgung bekanntzugeben; keine Änderung des Begriffs "Asylwerber" in der Grundversorgungsvereinbarung durch das Fremdenrechtspaket 2005 auf Grund Beibehaltung des Verfahrensablaufs einschließlich der Umsetzung des Refoulement-Verbotes

Rechtssatz

1. Verpflichtung des Bundes dem Grunde nach zur Zahlung von € 23.024,98 samt 4% Zinsen seit 15.04.2020; 2. Feststellung, dass der Bund gemäß Art11 Abs4 iVm Abs1 der Grundversorgungsvereinbarung - Art15a B-VG (GVV), BGBl I Nr 80/2004, verpflichtet ist, dem Land Wien die Kosten für die Grundversorgung jener Fremder, denen gemäß §8 AsylG 2005 der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und über deren Anträge auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status von Asylberechtigten innerhalb von zwölf Monaten nicht rechtskräftig entschieden wurde, zu 100 % zu ersetzen; 3. Verpflichtung des Bundes gemäß Art3 Abs2 Z4 und Abs3 iVm Art10 Abs3 und 5 iVm Art13 GVV dem Land Wien hinsichtlich der genannten Gruppe von Fremden alle für die Abrechnung der Kosten der Grundversorgung relevanten Daten ab einschließlich 01.05.2004 in abrechnungsfähiger Form binnen drei Monaten zur Verfügung zu stellen; 4. Entscheidung über die Höhe des Klagsanspruches und die Verfahrenskosten bleibt dem Enderkenntnis vorbehalten.

Mit dem - zulässigen - Klagebegehren auf Zahlung eines bestimmten Betrages, wird ein vermögensrechtlicher Anspruch geltend gemacht, dessen Wurzel im öffentlichen Recht liegt (VfSlg 20284/2018). Zulässigkeit des weiteren Klagebegehrens: Der VfGH deutet die Punkte 2. bis 4. des Klagebegehrens in dem Sinn, dass das klagende Land damit - der Sache nach - nicht mehrere Feststellungs-, sondern ein zweistufiges Leistungsbegehren erhebt. Die unter den Punkten 3. und 4. des Klagebegehrens begehrten Feststellungen, dass der Bund schuldig sei, dem Land Wien hinsichtlich jener hilfsbedürftiger Fremder, denen gemäß (nunmehr) §8 AsylG 2005 der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, über deren Anträge auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status von Asylberechtigten nach zwölf Monaten aber noch nicht rechtskräftig entschieden wurde, alle für die Kostenabrechnung relevanten Daten in abrechnungsfähiger Form, und zwar binnen einer Frist von drei Monaten auch rückwirkend bis zum 01.05.2004, zur Verfügung zu stellen, sowie die unter Punkt 2. des Klagebegehrens begehrte Feststellung, dass der Bund schuldig sei, dem Land Wien die Kosten für die Grundversorgung (auch) dieser Gruppe Fremder zu 100 % zu ersetzen, können der Sache nach als ein zweistufiges Leistungsbegehren auf Rechnungslegung einerseits und auf Zahlung in vorerst unbestimmter Höhe andererseits verstanden werden (Stufenklage).

Vereinbarungen gemäß Art15a B-VG sind entsprechend den völkerrechtlichen Regeln zu interpretieren. Nach diesen gilt der Grundsatz des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge, BGBl 40/1980, Art31 ff, wonach ihrer Interpretation die zum Zeitpunkt des Abschlusses geltenden Gesetze zugrunde zu legen sind.

Das zum Zeitpunkt des Abschlusses der GVV geltende AsylG 1997, BGBl I 101/2003, kannte keinen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne der nunmehr geltenden Asylrechtslage, der sowohl ein Antrag auf Asyl als auch auf subsidiären Schutz ist. Es gab vielmehr nur einen Antrag auf Asyl. Gemäß §8 leg cit war im Falle der Abweisung eines Asylantrages von Amts wegen bescheidmäßig festzustellen, ob die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in den Herkunftsstaat zulässig oder dem Asylwerber subsidiärer Schutz zuzuerkennen war. In zwei gesonderten Spruchpunkten war entweder - bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen - Asyl zu gewähren oder aber gemeinsam mit der Abweisung des Asylantrages über die Zuerkennung subsidiären Schutzes zu entscheiden.

Nach dieser beim Abschluss der GVV bestandenen Rechtslage bestand aber kein Zweifel daran, dass erst mit der rechtskräftigen Entscheidung über die Gewährung von Asyl das Asylverfahren abgeschlossen war. Vor diesem Hintergrund ist wiederum nicht zu bezweifeln, dass mit dem "Asylverfahren" eines Asylwerbers iSd Art2 Abs1 Z1 GVV, das in Art11 Abs4 iVm Abs1 GVV angesprochen ist, das (gesamte) Verfahren über einen solchen "Asylantrag" iSd §3 AsylG 1997 gemeint ist, also die Erledigung des Asylantrages. Weiters ist nicht zu bezweifeln, dass die Vertragspartner der GVV bei der Kostentragungsregelung des Art11 GVV (auch) auf die rechtskräftige Entscheidung über den eigentlichen Asylantrag - und nicht auf die gesondert bekämpfbare Feststellung über die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in den Herkunftsstaat gemäß §57 FrG 1997 - abstellen wollten.

In der Substanz hat sich an dieser Rechtslage nach dem Fremdenrechtspaket 2005, BGBl I 100/2005, nichts geändert: Auch der Status des subsidiär Schutzberechtigten ist gemäß §8 AsylG 2005 nur zuzuerkennen, wenn der einheitliche Antrag eines Fremden auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, und zwar, wenn "eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art2 EMRK, Art3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde"; dies entspricht inhaltlich der zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der GVV geltenden Non-Refoulement-Prüfung gemäß §8 AsylG 1997. Auch die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ist nach dessen Abs1 mit der abweisenden Entscheidung nach §3 AsylG 2005 oder der Aberkennung des Status des Asylberechtigten nach §7 AsylG 2005 zu verbinden.

Auch sonst ist der "Antrag auf internationalen Schutz" nichts anderes als der frühere "Asylantrag" iSd §3 AsylG 1997 (und damit der GVV): Wie bereits ausgeführt, ist der Antrag auf internationalen Schutz gemäß §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 zunächst ein Antrag auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten; erst im Falle der Nicht-Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gilt er hilfsweise als Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten. Gemäß §2 Abs1 Z14 AsylG 2005 ist ein "Asylwerber" ein Fremder ab Einbringung eines Antrages auf internationalen Schutz bis zum rechtskräftigen Abschluss, zur Einstellung oder Gegenstandslosigkeit des Verfahrens.

Da sich somit nichts Wesentliches am Ablauf des Verfahrens einschließlich der bescheidmäßigen Umsetzung des Refoulement-Verbotes geändert hat, gibt es keinen Grund für die Annahme, dass sich der Begriff des "Asylwerbers" im Sinne des §2 Abs1 Z1 GVV geändert hätte. Damit gibt es keinen Grund für die Annahme, dass durch die Änderung der Asylrechtslage jene Gruppe hilfsbedürftiger Fremder, denen gemäß (nunmehr) §8 AsylG 2005 der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, über deren Anträge auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status von Asylberechtigten nach insgesamt zwölf Monaten aber noch nicht rechtskräftig entschieden wurde, unter die Gruppe des §2 Abs1 Z3 GVV fallen sollten.

Zusammengefasst hat die gesetzliche Einführung des einheitlichen Antrages auf internationalen Schutz nichts daran geändert, dass hilfsbedürftige Fremde, die einen solchen stellen, bis zur (rechtskräftigen) Entscheidung über die Zuerkennung des Status von Asylberechtigten unter Art2 Abs1 Z1 GVV fallen und für ihre Grundversorgung daher gemäß Art11 Abs4 GVV ab dem dort genannten Zeitpunkt der Bund alleine aufzukommen hat, und zwar unabhängig davon, ob dem betreffenden Asylwerber bereits der Status des subsidiär Schutzberechtigten gewährt wurde oder nicht. Das Argument des Bundes, bei Art2 Abs1 Z3 GVV handle es sich um eine lex specialis zu Z1 leg cit, geht vor diesem Hintergrund ins Leere.

Im Übrigen entspricht diese Interpretation auch dem Telos der GVV: Die vereinbarte Kostenaufteilung anstelle der sich unmittelbar aus §2 F-VG ergebenden alleinigen Kostentragung des Bundes hat unter anderem den Zweck, die Durchführung von Asylverfahren zu beschleunigen, sodass sie im Allgemeinen bis zu ihrem rechtskräftigen Abschluss längstens zwölf Monate dauern. Dies liegt motivisch offenkundig auch im Interesse der Länder, weil die nachteiligen Folgen überlanger Asylverfahren finanziell auch sie treffen, insbesondere, weil hilfsbedürftigen Fremden nach einer langen Aufenthaltsdauer im Integrationsfall ein Aufenthaltsrecht gemäß Art8 EMRK zukommt: Ab diesem Zeitpunkt nach Abschluss des Asylverfahrens fällt deren Grundversorgung gemäß Art12 Abs1 Z1 B-VG in den Zuständigkeitsbereich allein der Länder.

Der Stand des Verfahrens lässt derzeit eine Entscheidung über die Höhe des - vom Bund insoweit bestrittenen - Klagsanspruches nicht zu; mit Zwischenerkenntnis kann jedoch die Feststellung getroffen werden. Die Verpflichtung des Bundes, hinsichtlich der in Rede stehenden Gruppe von Fremden alle für die Abrechnung der Kosten der Grundversorgung relevanten Daten in abrechnungsfähiger Form zur Verfügung zu stellen, folgt bereits aus Art3 Abs2 Z4 und Abs3 iVm Art10 Abs3 und 5 iVm Art13 GVV. Keine Verjährung, weil die genannten Ansprüche im öffentlichen Recht nur dort bestehen, wo das Gesetz dies ausdrücklich vorsieht; die Ansprüche stehen daher auch für die Vergangenheit zu. Vorbehalt der Entscheidung über den Kostenersatzanspruch.

Entscheidungstexte

Schlagworte

VfGH / Klagen, Grundversorgung, Asylrecht, Vereinbarungen nach Art 15a B-VG, Kompetenz Bund - Länder, Finanzverfassung, Auslegung völkerrechtlicher Verträge, Armenwesen, Auslegung historische, Auslegung systematische, Auslegung teleologische, Kosten, Verjährung, VfGH / Kosten, EU-Recht, Kostentragung, Aufwandersatz

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:A5.2021

Zuletzt aktualisiert am

25.11.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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