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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §8 Abs4Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger sowie die Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des R K, vertreten durch Mag. Marius Baumann, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Maximilianstraße 3/II, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Tirol vom 24. Februar 2021, LVwG-2017/17/2560-9, betreffend Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bürgermeister der Landeshauptstadt Innsbruck), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein seit Dezember 2011 in Österreich subsidiär-schutzberechtigter serbischer Staatsangehöriger, dem mehrfach verlängerte Aufenthaltsberechtigungen gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) erteilt wurden, stellte am 15. März 2017 durch den für ihn gerichtlich bestellten Sachwalter einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“.
2 Er verwies in einem dem Antragsformular beigeschlossenen Schriftsatz u.a. darauf, dass es ihm mit Hilfe des Pflegepersonals sowie von Bewohnern der Wohngemeinschaft, in der er lebe, möglich sei, seinen Alltag zu bestreiten. Er verrichte in der Wohngemeinschaft einfache Tätigkeiten, wie z.B. Hofkehren und Gartenpflege. Auf diese Weise gelinge es ihm, einer sinnvollen Beschäftigung nachzugehen und eine Tagesstruktur zu erleben. Eine darüberhinausgehende Tätigkeit sei ihm aufgrund seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen, insbesondere einer Intelligenzminderung, eines schizophrenen Restzustandes sowie Anpassungsstörungen, nicht möglich. Vielmehr benötige der Revisionswerber Unterstützung beim Einkaufen, beim Reinigen der Wohnung, bei der Wäsche und der Mobilität im weiten Sinn. Weiters sei die Inanspruchnahme ausgedehnter Motivationsgespräche zur Bewältigung des Alltags erforderlich. Der Revisionswerber beziehe Pflegegeld der Stufe 1. Aufgrund seiner physischen und psychischen Verfassung könne der Revisionswerber den Nachweis ausreichender finanzieller Mittel nicht erbringen. Im Rahmen der nach § 11 Abs. 3 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) vorzunehmenden Interessenabwägung werde jedoch zu berücksichtigen sein, dass sich der unbescholtene Revisionswerber, nachdem das Asylverfahren mehr als zehn Jahre gedauert habe, seit nahezu sechzehn Jahren in Österreich aufhalte. Er habe in Serbien keine familiären Anknüpfungspunkte. Hingegen lebten zwei seiner Geschwister, seine geschiedene Ehegattin sowie seine drei Kinder in Österreich. Seine in Oberösterreich lebenden Brüder besuche der Revisionswerber regelmäßig. Vor allem aber pflege der Revisionswerber in der Wohngemeinschaft zahlreiche soziale Kontakte und positive Beziehungen. Zur Bescheinigung dieses Vorbringens wurde ein Konvolut von Unterlagen übermittelt.
3 Zwecks Prüfung des Vorliegens der in § 14b Abs. 3 Z 2 NAG in der Fassung vor BGBl. I Nr. 68/2017 (für das Absehen von der Erfüllung des Moduls 2 der Integrationsvereinbarung) genannten Voraussetzungen holte die Behörde ein amtsärztliches Gutachten ein. Dieses ergab, dass der Revisionswerber an einer Intelligenzminderung im Bereich der Debilität, an einem schizophrenen Residuum mit Anpassungsstörungen, einer Benzodiazepinabhängigkeit sowie einer Somatisierungsstörung leide.
4 Mit Bescheid vom 20. Juni 2017 wies die Bürgermeisterin der Landeshauptstadt Innsbruck den Antrag des Revisionswerbers gemäß § 45 Abs. 12 in Verbindung mit § 11 Abs. 2 Z 4 NAG ab. Der Revisionswerber beziehe seit seinem Aufenthalt im Bundesgebiet im Jahr 2001 Leistungen aus der Grundversorgung. Seit 1. November 2016 beziehe er Mindestsicherung in der Höhe von mehr als € 600,-- monatlich. Im Wege der Mindestsicherung erfolge zusätzlich eine Übernahme der Krankenversicherungsbeiträge. Mangels Vorliegen der Voraussetzungen nach § 11 Abs. 2 Z 4 und Abs. 5 NAG sei der in Rede stehende Aufenthaltstitel nicht zu erteilen. Auf § 11 Abs. 3 NAG könne sich der Revisionswerber nicht erfolgreich berufen, weil der beantragte Aufenthaltstitel, da der Revisionswerber ohnehin über ein Aufenthaltsrecht nach dem AsylG 2005 verfüge, nicht zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinn von Art. 8 EMRK diene.
5 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Landesverwaltungsgericht Tirol mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab. Die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das Verwaltungsgericht für unzulässig.
6 Begründend führte das Verwaltungsgericht aus, der Revisionswerber sei geschieden und habe keinen Kontakt zu seinen Kindern. Er lebe in einer Wohngemeinschaft und nehme an Werktagen das Angebot der Tagesbetreuung in Anspruch. Er beziehe Mindestsicherung in der Höhe von monatlich € 633,35 und Pflegegeld der Stufe 1. Als Ausgaben sei ein vom Revisionswerber zu entrichtender Selbstbehalt in der Höhe von € 87,-- zu berücksichtigen. Es könne nicht davon die Rede sein, dass die Erteilung eines Aufenthaltstitels für die Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten sei. Trotz Überprüfung des Art. 8 EMRK und der Frage, ob die diesbezüglichen Voraussetzungen fallbezogen vorlägen, sei - so das Verwaltungsgericht sodann in den der rechtlichen Begründung seiner Entscheidung gewidmeten Ausführungen - davon auszugehen, dass dies gegenständlich „nicht zum Tragen kommen“ könne, weil der Revisionswerber geschieden sei und zu seinen Kindern keinen Kontakt habe. Er führe daher kein Familienleben im engeren Sinn, auch wenn er hin und wieder seine Geschwister, die sich in Österreich befänden, treffe. Er erfülle die Voraussetzung der Selbsterhaltungsfähigkeit auf Dauer nicht. Er könne die entsprechenden Sprachprüfungen nicht ablegen und habe auch bisher die deutsche Sprache nicht ausreichend erlernt. Da der Revisionswerber allerdings mittlerweile seit neunzehn Jahren in Österreich lebe, wäre es möglich, anzudenken, für ihn eine „Aufenthaltsberechtigungskarte“ zu beantragen und ein Jahr später einen Antrag auf Niederlassungsbewilligung nach § 43 Abs. 3 NAG zu stellen, um ihm auch subjektiv das Gefühl zu geben, nicht jeden Moment damit rechnen zu müssen, dass die subsidiäre Schutzberechtigung aufgehoben werde.
7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die in ihrer Zulässigkeitsbegründung mit näherer Begründung geltend macht, die vom Landesverwaltungsgericht Tirol vorgenommene Interessenabwägung im Sinn von Art. 8 EMRK stehe im Widerspruch zu den diesbezüglich in der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs aufgestellten Leitlinien.
8 Die vor dem Verwaltungsgericht belangte Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
9 Im Hinblick auf das oben wiedergegebene Zulässigkeitsvorbringen erweist sich die Revision als zulässig und berechtigt.
10 Gemäß § 11 Abs. 3 NAG ist der Aufenthaltstitel trotz Nichterfüllung der in § 11 Abs. 2 Z 4 und Abs. 5 NAG normierten Voraussetzungen auch dann zu erteilen, wenn dies auf Grund des Art. 8 EMRK geboten ist. Dabei kann (insbesondere) - wie dies der Verwaltungsgerichtshof auch bereits im Zusammenhang mit Anträgen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 45 NAG festgehalten hat - eine Behinderung (bzw. wie hier: eine physische oder psychische Erkrankung) einen im Rahmen der Interessenabwägung zu berücksichtigenden gewichtigen Umstand darstellen (vgl. etwa VwGH 13.12.2018, Ro 2017/22/0002, Rn. 16 und 27, mit Bezugnahme auf VfGH 4.10.2018, G 133/2018, VfSlg. 20.282/2018). Dass der Revisionswerber (bisher) über eine Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 verfügt(e), entbindet das Verwaltungsgericht nicht von der Vornahme einer Prüfung gemäß § 11 Abs. 3 NAG in Verbindung mit Art. 8 EMRK (vgl. dazu auch VwGH 20.5.2021, Ra 2017/22/0083, Pkt. 11; VfGH 24.11.2020, E 1089/2020).
11 Das angefochtene Erkenntnis lässt eine gesamtheitliche Abwägung der in § 11 Abs. 3 NAG demonstrativ aufgezählten Kriterien, die bei der Interessenabwägung im Sinn von Art. 8 EMRK heranzuziehen sind, in mehrfacher Hinsicht vermissen. Insbesondere übersieht das Landesverwaltungsgericht Tirol - worauf die Revision zutreffend hinweist - die gebotene Berücksichtigung der Erkrankung des Revisionswerbers. Weiters hat das Verwaltungsgericht das besondere Gewicht, das dem beinahe zwanzigjährigen Aufenthalt des Revisionswerbers im Bundesgebiet bei der Interessenabwägung zukommt, gröblich verkannt.
12 Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass sich in der vorliegenden Konstellation schon im Hinblick auf die Feststellungen, die vom Verwaltungsgericht zu den konkreten Lebensumständen des Revisionswerbers und den von ihm angeführten integrationsbegründenden Schritten zu treffen gewesen wären, die Durchführung der in der Beschwerde beantragten mündlichen Verhandlung als unerlässlich erwies.
13 Aus den dargelegten Erwägungen belastete das Landesverwaltungsgericht Tirol das angefochtene Erkenntnis – prävalierend - mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit. Dieses war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
14 Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.
15 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 19. Oktober 2021
Schlagworte
Besondere RechtsgebieteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021220072.L00Im RIS seit
24.11.2021Zuletzt aktualisiert am
30.11.2021