TE Vwgh Beschluss 2021/10/29 Ra 2021/22/0127

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Veröffentlicht am 29.10.2021
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
10/07 Verwaltungsgerichtshof
20/01 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB)
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

ABGB §1332
AVG §71 Abs1
AVG §71 Abs1 Z1
NAG 2005 §24 Abs1
NAG 2005 §24 Abs2
NAG 2005 §24 Abs2 idF 2009/I/029
NAG 2005 §24 Abs2 Z1
VwGG §46 Abs1
VwRallg

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, in der Revisionssache des J A, vertreten durch Mag.a Doris Einwallner, Rechtsanwältin in 1050 Wien, Schönbrunner Straße 26/3, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom 10. Mai 2021, VGW-151/085/16289/2020-30, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), den Beschluss gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger des Libanon, reiste am 14. März 2003 in das Bundesgebiet ein. Ab dem 8. September 2010 verfügte er über Aufenthaltstitel gemäß dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), zunächst über einen Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“ und ab dem 3. September 2014 über einen (zuletzt bis zum 9. Juli 2018 verlängerten) Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“. Am 27. Juli 2018 stellte er einen Antrag auf Verlängerung dieses Aufenthaltstitels.

2        Mit Bescheid vom 21. Oktober 2020 wies der Landeshauptmann von Wien (belangte Behörde) den Antrag des Revisionswerbers ab, weil der Revisionswerber die besonderen Erteilungsvoraussetzungen für den beantragten Aufenthaltszweck nicht erfülle und eine unzulässige Inlandsantragstellung vorliege. Begründend hielt die belangte Behörde fest, der Antrag des Revisionswerbers sei verspätet gestellt worden, weshalb er - mangels Glaubhaftmachung des Vorliegens eines unvorhergesehenen oder unabwendbaren Ereignisses - als Erstantrag zu werten gewesen sei. Der Antrag hätte daher nicht im Inland eingebracht werden dürfen. Der Zusatzantrag gemäß § 21 Abs. 3 NAG sei abzuweisen gewesen.

3        Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 10. Mai 2021 wies das Verwaltungsgericht Wien die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte es für unzulässig.

Das Verwaltungsgericht stellte (soweit für das vorliegende Revisionsverfahren wesentlich) fest, der Revisionswerber habe zunächst - gestützt auf die Ehe mit einer österreichischen Staatsbürgerin - über einen Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“ verfügt und nach der Scheidung (am 14. März 2014) einen Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“, zuletzt mit einer Gültigkeit bis zum 9. Juli 2018, erhalten. Am 27. Juli 2018 habe er den gegenständlichen Antrag gestellt. Dass er durch seinen gesundheitlichen Zustand (Magenschmerzen, wobei nur eine ambulante und keine stationäre Behandlung erfolgt sei und der Revisionswerber nicht krankgemeldet gewesen sei) an der rechtzeitigen Antragstellung gehindert gewesen wäre, habe nicht festgestellt werden können. Ebenso habe nicht festgestellt werden können, dass der Revisionswerber einem wesentlichen Irrtum über die Gültigkeitsdauer seines Aufenthaltstitels unterlegen wäre und ihn dabei nur ein minderer Grad des Versehens getroffen hätte.

Im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung prüfte das Verwaltungsgericht zunächst, ob es sich beim zugrundeliegenden (nach Ablauf der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels gestellten) Antrag um einen Verlängerungsantrag oder einen Erstantrag handle. Das Verwaltungsgericht ging davon aus, dass die vom Revisionswerber ins Treffen geführten Magenschmerzen seine Dispositionsfähigkeit nicht ausgeschlossen hätten und er daher in der Lage gewesen wäre, den Verlängerungsantrag rechtzeitig einzubringen. Der Irrtum des Revisionswerbers über das Ende der Gültigkeit seines Aufenthaltstitels (mit 9. Juli 2018 und nicht wie von ihm angenommen mit 29. Juli 2018) stelle zwar ein unvorhersehbares oder unabwendbares Ereignis im Sinn des § 24 Abs. 2 NAG dar. Der Revisionswerber habe aber die zumutbare Sorgfalt im Umgang mit Behörden außer Acht gelassen und es sei ihm ein den minderen Grad eines Versehens übersteigendes Verschulden vorzuwerfen, zumal er auf Grund der bisherigen Verfahren über Erfahrung im Umgang mit Behörden verfüge und er mehrfach über die Notwendigkeit der rechtzeitigen Stellung eines Verlängerungsantrages belehrt worden sei. Daran könne der Hinweis auf das ungewöhnliche Endigungsdatum der Gültigkeitsdauer seines (letzten) Aufenthaltstitels nichts ändern, zumal er bereits einmal über einen Aufenthaltstitel verfügt habe, dessen Gültigkeitsdauer weniger als zwölf Monate aufgewiesen habe, und er (damals) rechtzeitig einen Verlängerungsantrag gestellt habe. Ausgehend davon sei der gegenständliche Antrag als Erstantrag anzusehen.

Der Revisionswerber erfülle nicht die Voraussetzungen gemäß § 46 bzw. § 41a NAG und es läge auch kein Verlängerungsantrag im Sinn des § 27 NAG vor. Da keine überwiegenden Gründe im Sinn des Art. 8 EMRK vorlägen, sei auch der Zusatzantrag gemäß § 21 Abs. 3 Z 2 NAG abzuweisen gewesen. Der Erteilung eines Aufenthaltstitels stehe daher (auch) die Erfolgsvoraussetzung der Auslandsantragstellung gemäß § 21 Abs. 1 NAG entgegen.

4        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

5        Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG vom Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

6        In der Zulässigkeitsbegründung wird vorgebracht, entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtes verdeutliche der Umstand, dass der Revisionswerber die Verlängerungsanträge in den Jahren zuvor immer rechtzeitig gestellt habe, die unverschuldete Fristversäumnis. Auf Grund seines Verhaltens in der Vergangenheit könne nicht angenommen werden, dass der Revisionswerber die Frist für den Verlängerungsantrag nun leichtfertig habe verstreichen lassen. Zudem habe er auf seine gesundheitlichen Probleme hingewiesen. Es lägen daher keine Anhaltspunkte dafür vor, dass dem Revisionswerber eine auffallende Sorglosigkeit anzulasten wäre. Weiters sei die Begründung widersprüchlich, weil das Verwaltungsgericht an einer Stelle von einem unvorhersehbaren und unabwendbaren Ereignis ausgehe, an anderer Stelle jedoch ausführt, dass der Revisionswerber nicht an der rechtzeitigen Antragstellung gehindert gewesen wäre und keine außergewöhnlichen Umstände erkennbar seien, die zum Übersehen der Frist geführt hätten. Der Frage, ob im Fall des Revisionswerbers ein Ereignis im Sinn des § 24 Abs. 2 NAG vorliege, komme jedoch entscheidungserhebliche Bedeutung zu.

7        Gemäß § 24 Abs. 2 NAG gelten Anträge, die nach Ablauf der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels gestellt werden, nur dann als Verlängerungsanträge, wenn der Antragsteller gleichzeitig mit dem Antrag glaubhaft macht, dass er durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis gehindert war, rechtzeitig den Verlängerungsantrag zu stellen, und ihn kein Verschulden oder nur ein minderer Grad des Versehens trifft (Z 1) und der Antrag binnen zwei Wochen nach dem Wegfall des Hindernisses gestellt wird (Z 2).

8        Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits klargestellt, dass die Bestimmung des § 24 Abs. 2 NAG dem § 71 Abs. 1 Z 1 AVG nachgebildet ist und der Sache nach eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Fall der Versäumung der materiell-rechtlichen Frist des § 24 Abs. 1 NAG ermöglichen soll. Die Judikatur zu § 71 Abs. 1 Z 1 AVG kann daher auch für die Auslegung des § 24 Abs. 2 NAG herangezogen werden (vgl. VwGH 5.5.2011, 2011/22/0021).

9        Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis auch in einem inneren, psychischen Geschehen, daher auch in einem Vergessen oder Versehen liegen (vgl. VwGH 13.12.2011, 2010/22/0179, mwN).

10       Der Verwaltungsgerichtshof hat aber auch festgehalten, dass Parteien nicht auffallend sorglos handeln, somit die im Verkehr mit Behörden und für die Einhaltung von Terminen und Fristen erforderliche und ihnen nach ihren persönlichen Fähigkeiten zumutbare Sorgfalt nicht in besonders nachlässiger Weise außer Acht lassen dürfen. Bei der Beurteilung, ob eine auffallende Sorglosigkeit vorliegt, ist ein fallbezogener Maßstab anzulegen, wobei es insbesondere auf die Rechtskundigkeit und die Erfahrung im Umgang mit Behörden ankommt (vgl. VwGH 18.1.2017, Ra 2016/22/0096, Rn. 12, mwN).

11       Die Beurteilung, ob ein im Sinn des § 71 Abs. 1 Z 1 AVG unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis ohne grobes Verschulden zur Versäumnis geführt hat, also die Qualifikation des Verschuldensgrades, unterliegt - als Ergebnis einer alle maßgeblichen Umstände des Einzelfalls berücksichtigenden Abwägung - grundsätzlich der einzelfallbezogenen Beurteilung des Verwaltungsgerichts. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung läge nur dann vor, wenn diese Beurteilung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden unvertretbaren Weise vorgenommen worden wäre (vgl. VwGH 4.10.2018, Ra 2018/22/0191, Rn. 9, mwN).

12       Zunächst ist anzumerken, dass sich die Begründung des Verwaltungsgerichts betreffend das Vorliegen eines unvorhersehbaren oder unabwendbaren Ereignisses - entgegen der Ansicht des Revisionswerbers - nicht als widersprüchlich darstellt. Vielmehr ging das Verwaltungsgericht in seinen Entscheidungsgründen - im Einklang mit der oben dargestellten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - davon aus, dass ein unvorhersehbares oder unabwendbares Ereignis auch im Fall eines Irrtums vorliegen könne, verneinte aber fallbezogen im Hinblick auf den Irrtum des Revisionswerbers das Vorliegen eines bloß minderen Grad des Versehens.

13       Der Revisionswerber hält sich seit 2003 durchgehend in Österreich auf und war seit 2010 in Besitz unterschiedlicher Aufenthaltstitel, die - infolge von rechtzeitig gestellten Anträgen - mehrmals verlängert wurden. Zudem verfügte der Revisionswerber im Zeitraum von 3. September 2014 bis 28. Juli 2015 bereits über einen Aufenthaltstitel, dessen Gültigkeit weniger als zwölf Monate betragen hat, was nach den unbestritten gebliebenen Ausführungen des Verwaltungsgerichtes damals ebenso wie im nunmehr gegenständlichen Fall auf die (kurze) Gültigkeitsdauer seines libanesischen Reisedokumentes zurückzuführen gewesen sei. Vor diesem Hintergrund vermag die Revision nicht aufzuzeigen, dass die Beurteilung des Verwaltungsgerichtes, der Irrtum des Revisionswerbers sei angesichts seiner Erfahrung im Umgang mit Behörden sowie des Umstandes, dass er mehrmals über die Notwendigkeit der rechtzeitigen Antragstellung belehrt worden sei, nicht bloß auf einen minderen Grad des Versehens zurückzuführen, in unvertretbarer Weise erfolgt wäre.

14       Soweit der Revisionswerber für die verspätete Antragstellung gesundheitliche Probleme ins Treffen führt, ist ihm entgegenzuhalten, dass eine Erkrankung nur dann einen Grund für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand darstellt, wenn die Dispositionsfähigkeit der Partei auf Grund der Krankheit beeinträchtigt ist. Die Partei muss durch die Erkrankung so weit gehindert sein, dass ihr das Unterlassen jener Schritte, die für die Wahrung der Frist erforderlich gewesen wären, nicht als ein den minderen Grad des Versehens übersteigendes Verschulden vorgeworfen werden kann. Sie muss durch die Erkrankung auch daran gehindert gewesen sein, die Versäumung der Frist durch andere geeignete Dispositionen abzuwenden (vgl. VwGH 6.7.2010, 2009/22/0132, mwN). Dass das Verwaltungsgericht im Hinblick auf die Magenschmerzen des Revisionswerbers fallbezogen nicht davon ausging, dass ihm deshalb die rechtzeitige Einbringung des Verlängerungsantrages nicht möglich gewesen wäre, ist nicht zu beanstanden.

15       In der Revision wird somit keine Rechtsfrage aufgeworfen, der im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme.

Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.

16       Ausgehend davon erübrigt sich eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes über den Antrag, der Revision aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

Wien, am 29. Oktober 2021

Schlagworte

Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021220127.L00

Im RIS seit

24.11.2021

Zuletzt aktualisiert am

04.01.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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