TE OGH 2021/9/13 10ObS136/21d

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Veröffentlicht am 13.09.2021
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann sowie die fachkundigen Laienrichter Helmut Purker (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Werner Pletzenauer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei C*****, Slowenien, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1030 Wien, Haidingergasse 1, vertreten durch Stingl und Dieter Rechtsanwälte OG in Graz, wegen Kinderbetreuungsgeld, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 15. Juli 2021, GZ 7 Rs 21/21v-32, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Text

Begründung:

[1]       Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Anspruch der Klägerin auf pauschales Kinderbetreuungsgeld als Konto in der Variante 365 Tage für den Zeitraum von der Geburt ihres Kindes am 2. 9. 2019 bis 31. 8. 2020.

[2]       Die Klägerin und ihr Ehemann sind die Eltern der am 2. 9. 2019 geborenen S*****. Die Klägerin ist indonesische Staatsbürgerin und lebte zunächst in Indonesien. Sie kündigte ihre dortige Mietwohnung auf und wohnt seit 1. 9. 2018 gemeinsam mit ihrem Ehemann (und seit der Geburt der Tochter auch mit dieser) in Slowenien. Der Ehemann ist slowenischer Staatsangehöriger und geht seit 9. 3. 2015 in Österreich einer unselbständigen Erwerbstätigkeit nach. Der Ehemann und das Kind sind an der Adresse T*****, hauptwohnsitzlich gemeldet. Die Klägerin ist seit 12. 11. 2018 an dieser Adresse mit ihrem vorübergehenden Wohnsitz gemeldet. Sie möchte in Slowenien wohnhaft bleiben und hat um eine langfristige Aufenthaltsgenehmigung angesucht.

[3]       Mit Bescheid vom 20. 3. 2020 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 3. 1. 2020 auf Zuerkennung des pauschalen Kinderbetreuungsgeldes für das Kind S***** für 365 Tage ab Geburt ab.

[4]       Das Erstgericht gewährte der Klägerin das begehrte pauschalierte Kinderbetreuungsgeld als Konto in der Variante 365 Tage für den Zeitraum von 2. 9. 2019 bis 31. 8. 2020. Es traf aufgrund einer Auskunft des slowenischen Justizministeriums umfangreiche Feststellungen zu den relevanten Regelungen des slowenischen Wohnsitzmeldegesetzes sowie des slowenischen Fremdengesetzes. Diese Feststellungen lassen sich dahin zusammenfassen, dass der ständige Wohnsitz die Adresse in der Republik Slowenien ist, an der die Person ständig wohnt und wo der Mittelpunkt der Lebensinteressen ist. Dies ist aufgrund der familiären, partnerschaftlichen, arbeitsbedingten, wirtschaftlichen, sozialen und sonstigen Umstände zu beurteilen, die darauf hinweisen, dass es zwischen der Person und der von ihr bewohnten Adresse enge und dauerhafte Bindungen gibt. Der vorübergehende Wohnsitz ist hingegen jene Adresse in der Republik Slowenien, an der eine Person wegen der Arbeit, Ausbildung, Verbüßung einer Strafe oder aus sonstigen Gründen vorübergehend wohnhaft ist. Der vorübergehende Wohnsitz weist lediglich den vorübergehenden Aufenthalt der Person an einer Adresse aus, und zwar aus vorübergehenden Gründen.

[5]       Nach dem slowenischen Fremdengesetz kann ein Fremder, der Drittstaatsangehöriger ist, nach fünf Jahren ununterbrochenen Aufenthalts in der Republik Slowenien eine unbefristete Aufenthaltsbewilligung erlangen. Einen unbefristeten Aufenthaltstitel kann nach zwei Jahren ununterbrochenen Aufenthalts in der Republik Slowenien auch ein Drittstaatsangehöriger erhalten, der Familienangehörige eines slowenischen Staatsangehörigen ist. Die Anmeldung des ständigen Wohnsitzes durch einen Drittstaatsangehörigen hängt von der unbefristeten Aufenthaltsbewilligung ab; die Anmeldung eines ständigen Wohnsitzes ist erst möglich, wenn eine unbefristete Aufenthaltsbewilligung erteilt wurde.

[6]       Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, dass die Klägerin einen Anspruch geltend mache, den sie von der Beschäftigung ihres Ehemannes ableite, der als Wanderarbeitnehmer in Slowenien wohnt und in Österreich arbeitet. Der persönliche Geltungsbereich der VO (EG) 883/2004 sei für die Klägerin als Familienangehörige (Art 1 lit i VO [EG] 883/2004) eröffnet (Art 2 VO [EG] 883/2004). Sie verfüge als Drittstaatsangehörige über einen rechtmäßigen (vorübergehenden) Wohnsitz in Slowenien und befinde sich aufgrund ihres Antrags an die Österreichische Gesundheitskasse in einer Lage, die nicht ausschließlich einen einzigen Mitgliedstaat betreffe. Im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 sei im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal der „hauptwohnsitzlichen Meldung“ in § 2 Abs 6 KBGG zu prüfen, ob ein dem österreichischen Meldesystem vergleichbares Meldesystem im Wohnsitzmitgliedstaat vorhanden sei. Aus den slowenischen Rechtsvorschriften ergebe sich, dass für die Klägerin als Drittstaatsangehörige keine Meldung eines ständigen Aufenthalts (entsprechend der Meldung eines Hauptwohnsitz in Österreich) vor Erlassung eines unbefristeten Aufenthaltstitels möglich sei. Nach § 1 Abs 7 des österreichischen Meldegesetzes sei der Hauptwohnsitz hingegen nicht an eine Mindestzeit des Aufenthalts oder an einen Aufenthaltstitel geknüpft. Da die Klägerin den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen seit über zwei Jahren in Slowenien habe, ihr dort aber eine Wohnsitzmeldung, wie sie in Österreich vorgesehen wäre, nicht möglich sei, könne nicht von einem vergleichbaren System gesprochen werden. Die Voraussetzung der hauptwohnsitzlichen Meldung (§ 2 Abs 6 KBGG) habe daher unangewendet zu bleiben.

[7]       Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht Folge und ließ die Revision nicht zu. Es billigte die Rechtsansicht des Erstgerichts und führte ergänzend aus, dass Art 1 lit j der VO (EG) 883/2004 den Ausdruck „Wohnort“ für die Zwecke der Verordnung als den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts einer Person bezeichne. Dieser liege nach dem festgestellten Sachverhalt in Slowenien, wo die Klägerin seit 1. 9. 2018 mit ihrem Ehemann und nunmehr auch dem gemeinsamen Kind lebe.

Rechtliche Beurteilung

[8]       Die außerordentliche Revision der Beklagten ist wegen Fehlens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO unzulässig.

[9]       1. Zur Anspruchsvoraussetzung der „hauptwohnsitzlichen Meldung“ iSd § 2 Abs 6 KBGG:

[10]     1.1 In Fällen wie dem vorliegenden, in denen eine aus der VO (EG) 883/2004 abgeleitete Verpflichtung Österreichs zum Export von Kinderbetreuungsgeld an einen Elternteil mit Hauptwohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zu prüfen ist, stellt sich die Frage nach der Erfüllung der Anspruchsvoraussetzung der „hauptwohnsitzlichen Meldung“ gemäß § 2 Abs 1 Z 2 iVm Abs 6 KBGG. Es liegt nämlich auf der Hand, dass ein Elternteil, dessen Hauptwohnsitz nicht in Österreich liegt, keine hauptwohnsitzliche Meldung nach dem österreichischen MeldeG erlangen kann (siehe etwa 10 ObS 45/10v SSV-NF 33/44).

[11]     1.2 Im grenzüberschreitenden Kontext ist für die Auslegung dieser Bestimmung auf die Gleichstellungsregel des Art 5 lit b der VO (EG) 883/2004 Bedacht zu nehmen: Hat nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats (hier: Österreich) der Eintritt bestimmter Sachverhalte oder Ereignisse (hier: die melderechtliche Meldung) Rechtswirkungen, so berücksichtigt dieser Mitgliedstaat die in einem anderen Mitgliedstaat (hier: Slowenien) eingetretenen entsprechenden Sachverhalte oder Ereignisse, als ob sie im eigenen Hoheitsgebiet eingetreten wären.

[12]     1.3 Während nach dem österreichischen Meldegesetz der Begriff des Hauptwohnsitzes nicht an eine Mindestzeit des Aufenthalts in Österreich oder an einen Aufenthaltstitel geknüpft ist, zeigen die von den Vorinstanzen festgestellten slowenischen Rechtsvorschriften, dass für die Klägerin als Drittstaatsangehörige keine formelle Meldung eines „ständigen Aufenthalts“ vor Erlangung eines unbefristeten Aufenthaltstitels möglich ist; eine formelle Hauptwohnsitzmeldung kann die Klägerin frühestens nach zwei Jahren eines ununterbrochenen Aufenthalts in der Republik Slowenien erlangen.

[13]     1.4 Der Zweck des Erfordernisses der melderechtlichen Dokumentation des gemeinsamen Aufenthalts von Elternteil und Kind (§ 2 Abs 6 KBGG) liegt nach den Gesetzesmaterialien (ErläutRV 340 BlgNR 24. GP 9) vor allem in der Klarstellungsfunktion und der Verwaltungsentlastung.

[14]     1.5 Umgelegt auf eine Situation in Österreich hat die Klägerin in Slowenien genau denjenigen Schritt gesetzt, den sie auch in Österreich in Entsprechung des § 2 Abs 6 KBGG setzen hätte müssen, indem sie eine melderechtliche Meldung ihres „Wohnsitzes“ (im österreichischen Rechtsverständnis) vorgenommen hat. Dass die rechtliche Benennung für diesen Schritt in Slowenien eine andere ist als in Österreich vermag ihr im Hinblick auf das Gleichstellungserfordernis nach Art 5 lit b der VO (EG) 883/2004 nicht zu schaden.

[15]     2. Zum Wohnsitz iSd Art 1 lit j der Verordnung (EG) 833/2004:

[16]     2.1 Die Revision soll nach Ansicht der beklagten Partei weiters zulässig sein, weil aus einer – nach Ansicht der Revisionswerberin als bindend anzusehenden – Mitteilung der slowenischen Behörde hervorgehe, dass die Klägerin in Slowenien nur einen vorübergehenden Aufenthalt habe. Daraus folge, dass ihr Lebensmittelpunkt weiterhin in Indonesien gelegen und die VO (EG) 883/2004 auf sie nicht anwendbar sei.

[17]     2.2 In Art 1 lit j der Verordnung (EG) 833/2004 wird der Ausdruck „Wohnort“ als der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts einer Person definiert. Es handelt sich um einen unionsrechtlichen (und nicht um einen nationalen Begriff), der für alle Mitgliedstaaten in der Anwendung der Verordnung maßgeblich ist und in gleicher Weise Verwendung finden muss (Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [56. Lfg] Art 1 VO 883/2004 Rz 31; Schreiber in Schreiber/Wunder/Dern, VO [EG] Nr 883/2004 Art 17 Rz 4).

[18]     2.3 Um den Trägern die Abgrenzung zu erleichtern, enthält Art 11 der Durchführungsverordnung EG 987/2009 Hilfskriterien zur Bestimmung des Wohnorts, die sich an die bisherige Rechtsprechung des EuGH anlehnen. Zur Wohnortbestimmung können demnach die Dauer und Kontinuität des Aufenthalts im betreffenden Mitgliedstaat sowie die Situation der Person, insbesondere auch ihre familiären Verhältnisse und Bindungen, die Dauerhaftigkeit ihrer Wohnsituation und die Qualität ihrer (un-)selbständigen Tätigkeit herangezogen werden. Bei der einzelfallbezogenen Gesamtabwägung dieser Kriterien ist auch der Wille der Person zu berücksichtigen (Dern in Schreiber/Wunder/Dern, VO [EG] Nr 883/2004 Art 1 Rz 35 f).

[19]     2.4 Die Ansicht des Berufungsgerichts, die hier festgestellten Kriterien (Dauer des Aufenthalts der Klägerin seit 1. 9. 2018, gemeinsames Wohnen mit Ehemann und Kind, Absicht in Slowenien wohnhaft zu bleiben sowie die bereits beantragte dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung) wiesen in dem zu entscheidenden Einzelfall darauf hin, dass die Klägerin ihren Wohnort iSd Art 1 lit j der VO (EG) 883/2004 in Slowenien und nicht mehr in Indonesien habe, hält sich im Rahmen der von Art 11 der Durchführungsverordnung (EG) 987/2009 genannten Kriterien und der dazu ergangenen Rechtsprechung.

[20]     2.5.1 Wie sich aus der Aktenlage ergibt, trägt die in der Revision angesprochenen behördliche Bestätigung (Blg ./B) die Überschrift „Republika Slovenija Upravna Enota“ und weist auch einen gleichlautenden Stempel auf, woraus ersichtlich ist, dass es sich um ein von einer staatlichen Behörde (Verwaltungseinheit) der Republik Slowenien ausgestelltes Dokument handelt. Eine Bindung der Beklagten an von staatlichen (slowenischen) Behörden ausgestellte Bestätigungen im Zusammenhang mit dem slowenischen Meldegesetz ist aus Art 5 der Durchführungsverordnung (EG) 987/2009 („Rechtswirkungen der in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Dokumente und Belege“) nicht ableitbar. Dieser Artikel bezieht sich nur auf vom Träger eines Mitgliedstaats ausgestellte Dokumente, wobei der Begriff des „Trägers“ als die Einrichtung oder Behörde zu definieren ist, der die Verwaltungsumsetzung der Verordnung obliegt (Dern in Schreiber/Wunder/Dern, VO [EG] Nr 883/2004, Art 1 Rz 49).

[21]     2.5.2 Dass die Klägerin gemäß der Bestätigung (Blg ./B 1) entsprechend der slowenischen Rechtslage derzeit nur einen vorübergehenden Wohnsitz in Slowenien hat (weil sie noch über keine unbefristete Aufenthaltsbewilligung verfügt), führt somit nicht dazu, dass ihr Wohnort iSd Art 1 lit j der Verordnung (EG) 833/2004 (gewöhnlicher Aufenthaltsort) als nicht in Slowenien liegend anzunehmen ist.

[22]     3. Zusammenfassend gelingt es der Revisionswerberin somit nicht, eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO aufzuzeigen.

[23]     Die außerordentliche Revision der Beklagten ist daher zurückzuweisen.

Textnummer

E133037

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:010OBS00136.21D.0913.000

Im RIS seit

27.11.2021

Zuletzt aktualisiert am

27.11.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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