TE Bvwg Erkenntnis 2021/7/19 W261 2168588-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.07.2021
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Entscheidungsdatum

19.07.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs3
AsylG 2005 §9 Abs1 Z1
AsylG 2005 §9 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W261 2168588-2/20E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, Außenstelle Linz, vom 15.01.2019, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I.       Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass dieser zu lauten hat: „Der Ihnen mit Bescheid vom 14.07.2017, Zl. XXXX , zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten wird Ihnen gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG von Amts wegen aberkannt.“

II. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte II. und III. des angefochtenen Bescheides wird
als unbegründet abgewiesen.

III.             Der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 9 BFA-VG die Erlassung einer Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan auf Dauer unzulässig ist.

IV.            Dem Beschwerdeführer wird der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

V.              Die Spruchpunkte V., VI. und VII. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I.       Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte nach Einreise als unbegleiteter Minderjähriger am 12.06.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Am 16.06.2015 fand seine Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab der minderjährige Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Umständen im Wesentlichen an, dass er Paschtune und sunnitischer Muslim sei. Er sei in Kabul geboren und habe dort von 2008 bis 2015 die Grundschule besucht. Seine Eltern, drei Brüder und vier Schwestern würden noch in Afghanistan leben.

2. Die Ersteinvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangte Behörde) fand am 06.06.2017 statt. Dabei gab der minderjährige Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Verhältnissen im Wesentlichen an, er sei Paschtune und sunnitischer Muslim. Er stamme aus dem Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Wardak, habe aber „nur in Kabul“ und vor seiner Ausreise kurze Zeit in Kandahar gelebt. Er wisse nicht, ob sein Heimatort zu Kabul oder zu Wardak gehöre. Er habe in Afghanistan sechs Jahre lang die Schule besucht. Seine Eltern, drei Brüder und vier Schwestern würden nun im Dorf XXXX in der Provinz Wardak leben. Er habe regelmäßigen Kontakt zu seiner Familie. Er habe auch Tanten und Onkel, wisse aber nicht, wo sie leben würden. Im Rahmen der Einvernahme legte der Beschwerdeführer Integrationsunterlagen vor.

3. Mit Eingabe vom 21.06.2017 erstattete der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der im Wesentlichen ausgeführt wurde, aus den aktuellen Länderfeststellungen gehe hervor, dass die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan sehr schlecht sei, dies gelte auch für die Hauptstadt Kabul. Aufgrund seines Glaubens und der Tatsache, dass er im wehrfähigen Alter und noch jugendlich sei, falle der Beschwerdeführer in zumindest drei Risikoprofile der UNHCR-Richtlinien vom 19.04.2016. Seine Eltern würden über keinen Besitz verfügen und ihre Vermögensverhältnisse seien nicht unbedingt gut. Im Fall einer Rückkehr wäre seine Unterstützung durch seine Eltern somit nicht gewährleistet. Der Beschwerdeführer verfüge lediglich über Schulbildung und habe keine Berufsausbildung. Die Aufnahmekapazitäten und Infrastruktur und Kabul seien massiv überlastet, somit werde es immer schwerer Arbeit und eine Unterkunft zu finden. Weiters habe sich der Beschwerdeführer an die österreichische Gesellschaft angepasst und deren Freiheiten und Werte angenommen. Auch der Umstand, dass er sich im Westen aufgehalten habe, könnte ihn zur Zielscheibe von Übergriffen machen. Angesichts seiner persönlichen Umstände und der aktuellen Sicherheitslage laufe er im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan Gefahr, in eine existenzbedrohende ausweglose Notlage zu geraten. Die Asylrelevanz des Fluchtvorbringens des Beschwerdeführers ergebe sich aus seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Zivilisten, die der Unterstützung regierungsfeindlicher Kräfte verdächtigt werden, seines jungen Alters und der Gefahr, von den Taliban oder der Regierung schwer bestraft oder sogar ermordet zu werden. Es müsse auch berücksichtigt werden, dass er zum Zeitpunkt der Antragstellung 12 Jahre alt gewesen sei. Dem Beschwerdeführer sei daher internationaler Schutz zuzuerkennen. Mit der Stellungnahme wurden Länderberichte vorgelegt.

4. Mit nicht verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 14.07.2017 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm eine bis 14.07.2018 befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.).

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer und sein Vater von den Taliban entführt worden seien oder dass er im Fall seiner Rückkehr einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban ausgesetzt wäre. Auch aus den sonstigen Umständen habe eine Bedrohung oder Verfolgung aus asylrelevanten Gründen nicht festgestellt werden können. Der Beschwerdeführer verfüge über familiäre Anknüpfungspunkte in seiner Heimat. Von seiner Kernfamilie würden sich sein Vater, seine Mutter, seine Brüder und Schwestern nach wie vor in seiner Herkunftsprovinz Maidan Wardak befinden. Er habe eine sechsjährige Schulausbildung erfahren. Bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat würde der Beschwerdeführer Gefahr laufen, in Kampfhandlungen verwickelt und verletzt oder getötet zu werden. Die Sicherheitslage in seiner Herkunftsprovinz sei dergestalt, dass für ihn nicht ausreichend Lebenssicherheit bestehe. Ebenso sei ihm aufgrund seiner Minderjährigkeit und des Fehlens von familiären Anknüpfungspunkten in sicheren Provinzen Afghanistans eine Rückkehr zum aktuellen Zeitpunkt nicht zumutbar, weshalb ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen gewesen sei.

5. Der Beschwerdeführer erhob gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheids mit Eingabe vom 18.08.2017 durch seine bevollmächtigte Vertretung fristgerecht Beschwerde.

6. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 22.08.2017 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 24.08.2017 in der Gerichtsabteilung W173 einlangte und zur Zl. 2168588-1 geführt wird.

7. Mit Eingabe vom 30.11.2017 übermittelte die belangte Behörde eine Verständigung der Staatsanwaltschaft XXXX , wonach ein gegen den Beschwerdeführer wegen § 127 StGB geführtes Verfahren am 11.09.2017 nach § 190 Z 1 StPO aus dem Grunde des § 4 Abs. 2 Z 2 JGG eingestellt worden sei.

8. Mit Eingabe vom 07.02.2018 übermittelte die belangte Behörde eine den Beschwerdeführer betreffende Betreuungsvereinbarung.

9. Mit Eingabe vom 15.02.2018 übermittelte die belangte Behörde eine Verständigung der Staatsanwaltschaft XXXX , wonach ein gegen den Beschwerdeführer wegen § 164 StGB geführtes Ermittlungsverfahren eingestellt worden sei.

10. Mit Eingabe vom 15.02.2018 übermittelte die belangte Behörde einen Abschlussbericht der Polizeiinspektion XXXX vom 04.09.2017, wonach der Beschwerdeführer eines Diebstahls am 23.06.2017 verdächtig sei.

11. Mit Eingabe vom 06.03.2018 übermittelte die belangte Behörde eine Meldung der Polizeiinspektion XXXX vom 14.02.2018, wonach der Beschwerdeführer einer Körperverletzung und einer gefährlichen Drohung an diesem Tag verdächtig sei.

12. Mit Eingabe vom 12.06.2018 beantragte der Beschwerdeführer die Verlängerung seiner befristeten Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter.

13. Mit Eingabe vom 20.08.2018 übermittelte die belangte Behörde einen von der Staatsanwaltschaft XXXX gegen den Beschwerdeführer erhobenen Strafantrag wegen des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 und 2 erster Fall StGB sowie eine Verständigung über eine in dieser Sache am 03.09.2018 anberaumte Hauptverhandlung.

14. Mit Aktenvermerk vom 20.08.2018 leitete die belangte Behörde ein Verfahren zur Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ein. Aus der Behörde zugegangenen Informationen (Anklageerhebung wegen gefährlicher Drohung nach § 107 StGB und § 83 StGB, KPA-Eintrag wegen § 27 SMG) hätten sich Anhaltspunkte ergeben, dass der Beschwerdeführer eine Gefahr für die Allgemeinheit darstelle. Die Voraussetzungen der Aberkennung seien aus derzeitiger Sicht wahrscheinlich. Es sei von einer Erfüllung des Tatbestandes nach § 9 Abs. 2 AsylG (Straffälligkeit bei voraussichtlicher Unmöglichkeit einer Abschiebung) auszugehen.

15. Mit Eingabe vom 05.11.2018 übermittelte die belangte Behörde eine Vollzugsinformation der Justizanstalt XXXX , wonach sich der Beschwerdeführer seit 30.10.2018 bzw. 01.11.2018 wegen des Verdachts nach § 28 SMG in Anhaltung bzw. Untersuchungshaft befinde.

16. Mit Aktenvermerk vom 05.11.2018 hielt die belangte Behörde fest, dass sich der voraussichtliche Aberkennungstatbestand im Verfahren des Beschwerdeführers geändert habe. Da sich dieser seit 02.11.2018 wegen des Verdachts auf § 28a Abs. 1 SMG in U-Haft befinde und eine Verurteilung zu erwarten sei, sei im Fall einer Verurteilung der Tatbestand des § 9 Abs. 2 AsylG – rechtskräftige Verurteilung wegen eines Verbrechens – ebenfalls erfüllt. Es werde daher im Fall einer Verurteilung aus diesem Grund aberkannt werden.

17. Mit Eingabe vom 19.11.2018 übermittelte die belangte Behörde eine Verständigung des Landesgerichts XXXX , wonach der Beschwerdeführer am 02.11.2018 wegen § 28a Abs. 1 SMG in Untersuchungshaft genommen worden sei, und eine Verständigung der Staatsanwaltschaft XXXX , wonach gegen ihn wegen § 28a Abs. 1 fünfter Fall SMG Anklage erhoben worden sei.

18. Mit Schreiben vom 20.11.2018 teilte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer die Einleitung eines Aberkennungsverfahrens mit. Nach Darlegung des Sachverhalts wurde ausgeführt, dass, sollte er wegen eines Verbrechens verurteilt werden, beabsichtigt sei, ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten von Amts wegen nach § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG abzuerkennen. Zugleich wurden ihm Länderfeststellungen betreffend Afghanistan übermittelt und der Beschwerdeführer um Beantwortung von Fragen zu seinen persönlichen Umständen in Österreich und Afghanistan samt Vorlage entsprechender Belege ersucht.

19. Mit Eingabe vom 07.12.2018 erstattete der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass sich dieser nunmehr sozial verträglich und angepasst präsentiere, offen und geständig zeige und dabei vollständig reflektiert wirke. Das Motiv für seine Straffälligkeit sei gewesen, dass er nach zweimaligem Wechsel der Betreuungseinrichtungen beschlossen habe, sich auf kein erneutes Betreuungsverhältnis mehr einlassen und „selbst für sich sorgen“ zu wollen. Aus seiner Sicht wäre der Handel mit Drogen in dieser Situation „notwendig“ gewesen, um zu überleben. Der Beschwerdeführer spreche außerordentlich gut Deutsch und könnte jederzeit den B1-Level belegen. Es sei von einer Enthaftung am 10.12.2018 auszugehen, welche dauerhaft von der Einhaltung von Weisungen abhängig sein werde. Mit der Stellungnahme wurden Schulbesuchsbestätigungen und Leistungsbeschreibungen vorgelegt.

20. Mit Aktenvermerk vom 20.12.2018 hielt die belangte Behörde fest, dass die nach der Rechtsprechung des EuGH bei der Aberkennung subsidiären Schutzes erforderliche Prüfung sämtlicher Umstände des Einzelfalles im vorliegenden Fall ergeben habe, dass der Beschwerdeführer als Gefahr für die Allgemeinheit einzustufen sei. Für die Aberkennung werde daher § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG herangezogen.

21. Mit Schreiben vom 02.01.2019 teilte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer mit, dass aufgrund seines strafrechtlich relevanten Verhaltens in Österreich und der daraus abzuleitenden Gefahr für die Allgemeinheit durch seine Person beabsichtigt sei, ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten vom Amts wegen gemäß § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG abzuerkennen und eine Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot zu erlassen. Ihm wurde Gelegenheit gegeben, dazu Stellung zu nehmen.

22. Mit Eingaben vom 04.01.2019 übermittelte die belangte Behörde eine Strafkarte und eine gekürzte Urteilsausfertigung des Landesgerichts XXXX , wonach der Beschwerdeführer am 10.12.2018 wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 SMG zur einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt wurde, wovon ihm acht Monate unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurden. Zugleich wurde ihm die Weisung erteilt, in den XXXX in XXXX Unterkunft zu nehmen. Dieses Urteil erwuchs am 11.12.2018 in Rechtskraft.

23. Mit Eingabe vom 14.01.2019 erstattete der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, wonach in Afghanistan kein Aufenthaltsort von erziehungsberechtigten Personen bekannt sei. Die Aberkennung des subsidiären Schutzes hätte dauerhaft negativste Auswirkungen auf das Fortkommen des Beschwerdeführers und würde eine weitere Delinquenz geradezu begründen.

24. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 15.01.2019 wurde dem Beschwerdeführer der mit Bescheid vom 14.07.2017 zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 2 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt (Spruchpunkt I.) und sein Antrag vom 12.06.2018 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer nicht erteilt (Spruchpunkt III.), es wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Afghanistan unzulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.) und gegen ihn ein auf die Dauer von acht Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).

Begründend führte die belangte Behörde nach Wiedergabe der gegen den Beschwerdeführer ergangenen strafrechtlichen Verurteilungen und Anzeigen im Wesentlichen aus, es könne nicht davon ausgegangen werden, dass er in Zukunft keine weiteren strafbaren Handlungen bzw. Verstöße gegen die österreichische Rechtsordnung begehen werde. Er stelle eine Gefahr für die Allgemeinheit in Österreich dar. Eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung seiner Person nach Afghanistan sei unzulässig, da dies eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt mit sich bringen würde.

25. Der Beschwerdeführer erhob gegen diesen Bescheid mit Eingabe seiner bevollmächtigten Vertretung vom 31.01.2019 fristgerecht Beschwerde. Darin wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Tatbestände und damit das gegenständliche Verhalten seien von einem Minderjährigen, welcher gerade einmal die Schwelle zum mündig Minderjährigen überschritten habe, gesetzt worden. Damit sei nach gesicherter Rechtsprechung bei der Beurteilung des Tatbilds ein völlig anderer Maßstab anzulegen, als wenn es sich um einen Erwachsenen oder einen 16- oder 17-Jährigen handeln würde. In der Argumentation des beanstandeten Bescheids werde dies jedoch in keiner Weise berücksichtigt. Die Behörde benötige offenbar zur Erstellung von Zukunftsprognosen keine Experten und auch keinen persönlichen Eindruck. Unter Berücksichtigung ihrer Pflicht zur Wahrheitsermittlung wäre dies allerdings einfach möglich und auch sachlich geboten gewesen. Die Vergehen nach §§ 83 Abs. 1, 107 Abs. 1 StGB seien im Alter von 15 Jahren begangen worden, und dies in einer Grundsituation, in der dem Beschwerdeführer diese Handlungen als überlebensnotwendig präsentiert worden seien und er dem Einfluss erwachsener Straftäter ausgesetzt gewesen sei. Zu den Verstößen gegen das SMG werde auf die Stellungnahme vom 07.12.2018 verwiesen. Die Argumentation der Behörde zu den schädlichen Wirkungen von Cannabiskonsum und des Wissens des Beschwerdeführers dazu sei nicht nachvollziehbar. Die Frage, wie hoch das Risiko einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Vergleich zur Aussicht auf Reintegration sein werde, sei dem hausinternen Experten zufolge offen. Aktuell deute nichts auf Aggressionen oder Verschlossenheit hin. Die Konkretisierung des Ausmaßes weiterer Risiken bleibe noch vorbehalten, bis sich der beauftragte Experte fundiert dazu äußern könne. Unter Hinweisen auf Judikatur zur Glaubwürdigkeitsprüfung bei Minderjährigen wurde ausgeführt, die belangte Behörde habe die Angaben des Beschwerdeführers pauschal als unglaubwürdig qualifiziert und sich dabei auf Schuldsprüche gestützt, ohne die Milderungsgründe und sein weiteres Fortkommen zu berücksichtigen. Die Behörde verstoße daher gegen ihre Begründungspflicht und ihre Pflicht, auf das Parteivorbringen einzugehen und habe nicht alle zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Maßnahmen getroffen.

26. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 05.02.2019 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 07.02.2019 in der Gerichtsabteilung W173 einlangte und zur Zl. 2168588-2 geführt wird.

27. Mit Eingabe vom 27.02.2019 übermittelte die belangte Behörde eine Verständigung der Staatsanwaltschaft XXXX , wonach ein gegen den Beschwerdeführer wegen §§ 15, 127, 137 StGB geführtes Ermittlungsverfahren eingestellt worden sei.

28. Mit Eingabe vom 01.04.2019 übermittelte die belangte Behörde eine Strafverfügung des Polizeikommissariats XXXX vom 01.03.2019, wonach der Beschwerdeführer am 21.02.2019 die öffentliche Ordnung gestört und dadurch eine Verwaltungsübertretung nach § 81 Abs. 1 SPG begangen habe. Über ihn werde deshalb eine Geldstrafe von 150,00 Euro verhängt.

29. Mit Eingabe vom 23.04.2019 übermittelte die belangte Behörde ein Straferkenntnis des Polizeikommissariats XXXX vom 17.04.2019, wonach der Beschwerdeführer am 21.02.2019 den öffentlichen Anstand verletzt und dadurch eine Verwaltungsübertretung nach § 1 Abs. 1 OÖ Polizeistrafgesetz begangen habe. Über ihn werde deshalb eine Geldstrafe von 20,00 Euro verhängt.

30. Mit Eingabe vom 20.05.2019 übermittelte die belangte Behörde eine Meldung der Polizeiinspektion XXXX vom 13.05.2019, wonach der Beschwerdeführer am 08.05.2019 wegen des Verdachts nach § 27 Abs. 1 SMG angezeigt worden sei.

31. Mit Eingabe vom 29.05.2019 übermittelte die belangte Behörde eine Meldung der Polizeiinspektion XXXX vom 28.05.2019, wonach der Beschwerdeführer an diesem Tag wegen des Verdachts nach §§ 11 und 11a Waffengesetz angezeigt worden sei.

32. Mit Eingabe vom 26.06.2019 übermittelte die belangte Behörde eine Strafverfügung des Polizeikommissariats XXXX vom 06.06.2019, wonach der Beschwerdeführer am 28.05.2019 eine Waffe, nämlich ein Springmesser, besessen habe, obwohl ihm das als Asylwerber und Mensch unter 18 Jahren verboten sei, und dadurch Verwaltungsübertretungen nach §§ 51 Abs. 2 iVm 11a bzw. 11 Abs. 1 Waffengesetz begangen habe. Über ihn werde deshalb eine Geldstrafe von jeweils 80,00 Euro, insgesamt somit 160,00 Euro, verhängt.

33. Mit Eingabe vom 02.07.2020 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung Integrationsunterlagen vor, darunter einen Lehrvertrag für eine am 01.08.2019 begonnene Lehre als Spengler in der XXXX GmbH & Co KG, eine Stellungnahme seiner Bewährungshelferin vom 22.06.2020 und ein (positives) Jahreszeugnis der Berufsschule XXXX für das Schuljahr 2019/2020.

34. Mit Eingabe vom 18.11.2020 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung ein (positives) Jahreszeugnis der Berufsschule XXXX für das Schuljahr 2020/2021 vor.

35. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 23.03.2021 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W173 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W261 neu zugewiesen, wo dieses am 01.04.2021 einlangte.

36. Mit Eingabe vom 15.04.2021 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung Integrationsunterlagen vor, darunter Kopien seines österreichischen Führerscheins und eines Staplerführerausweises sowie einen von ihm abgeschlossenen privaten Mietvertrag ab 01.04.2021, vor.

37. Mit Eingabe vom 10.05.2021 erstattete der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung eine Stellungnahme, in der im Wesentlichen ausgeführt wurde, er befinde sich seit mehr als fünf Jahren in Österreich und sei mit 12 Jahren eingereist. Er sei in Österreich sozial aktiv, habe einen großen Freundeskreis und spreche sehr gut Deutsch. Seit 14.07.2017 sei er subsidiär schutzberechtigt. Am 10.12.2018 sei der Beschwerdeführer wegen Suchtgifthandels zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten, davon acht Monate bedingt, verurteilt und unmittelbar nach der Hauptverhandlung aus der Haft entlassen worden. Der herangezogene Aberkennungsgrund nach § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG erfordere eine Gefährdungsprognose, bei der das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen sei. Die Art und Schwere der begangenen Straftaten in Zusammenhang mit seinem jungen Alter würden nicht ausreichen, um den Beschwerdeführer als Gefahr für die Sicherheit des Landes zu sehen. Er sei bei Begehung der strafbaren Handlung gerade 15 Jahre alt gewesen. Er habe seine Familie mit 12 Jahren verlassen und sei allein unter schwierigen Bedingungen nach Europa gereist. Auch in Österreich habe er dauernd umsiedeln müssen und habe es nicht geschafft, zu den Betreuern Vertrauen aufzubauen oder bei ihnen den für Kinder notwendigen festen Halt zu finden. Der Beschwerdeführer sei seit zweieinhalb Jahren nicht mehr strafrechtlich oder sonst negativ aufgefallen. Er befinde sich in einem aufrechten Lehrverhältnis und sei selbsterhaltungsfähig. Die Bewährungshilfe sei erfolgreich beendet worden und er halte den Kontakt zu den Betreuern des Vereins XXXX aufrecht. Er habe in Österreich den Führerschein und Staplerschein gemacht. Der Beschwerdeführer sei außerordentlich gut integriert. Es sei auch zu beachten, dass er im Alter von nur 12 Jahren nach Österreich gekommen sei und wesentliche Jahre seiner Sozialisierung hier erfahren habe, was ebenso zu einer starken Bindung an Österreich führe. Vom Beschwerdeführer gehe keinerlei Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit aus und es sollte ihm zumindest der Status des subsidiär Schutzberechtigten verlängert werden. Mit der Stellungnahme wurde ein Entwicklungsbericht der XXXX GmbH vom 05.05.2021 vorgelegt.

38. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 12.05.2021 eine gemeinsame mündliche Verhandlung in den Beschwerdeverfahren 2168588-1 und 2168588-2 durch, im Zuge derer der Beschwerdeführer zu seinen persönlichen Umständen, seinen Fluchtgründen, den Gründen der Aberkennung subsidiären Schutzes und der Situation im Falle seiner Rückkehr befragt wurde. Die belangte Behörde nahm entschuldigt nicht an der Verhandlung teil, die Verhandlungsschrift wurde ihr übermittelt. Das Bundesverwaltungsgericht legte die aktuellen Länderinformationen vor, und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben.

Die Parteien erstatteten keine weiteren Stellungnahmen.

II.     Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.       Feststellungen:

1.1.    Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und ist 18 Jahre alt. Für Identifikationszwecke wird sein Geburtsdatum mit XXXX festgelegt. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und sunnitischer Muslim. Seine Muttersprache ist Dari und seine Vatersprache ist Paschtu, er spricht auch Deutsch. Er ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer wurde im Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Maidan Wardak geboren. Sein Vater heißt XXXX und seine Mutter heißt XXXX . Er hat fünf Schwestern, XXXX , XXXX , XXXX , XXXX und XXXX , sowie vier Brüder, XXXX , XXXX , XXXX und XXXX . Das Alter seiner Familienmitglieder ist dem Beschwerdeführer nicht bekannt, er ist das älteste Kind.

Seine Familie lebt in Kabul. Sein Bruder XXXX befindet sich derzeit in der Türkei. Er hat gelegentlich Kontakt mit seiner Familie.

Der Beschwerdeführer ist in Kabul aufgewachsen und hat dort bis zur Ausreise nach Europa gelebt. Er hat dort für sechs Jahre die Grundschule besucht und im Geschäft seiner Familie gearbeitet. Sie haben dort auch Benzin verkauft.

Er hat Tanten und Onkel, ihm ist aber nicht bekannt, wo diese leben, und er hat keinen Kontakt zu ihnen. Er hat einen Cousin in Österreich.

Der Beschwerdeführer stellte am 12.06.2015 nach Einreise als unbegleiteter Minderjähriger einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.

1.2.    Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit Juni 2015 durchgehend in Österreich auf. Er war nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 12.06.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG bzw. seit 14.07.2017 aufgrund einer befristeten Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der Beschwerdeführer war im Schuljahr 2015/16 außerordentlicher Schüler an der Neuen Mittelschule XXXX und hat im Schuljahr 2016/17 dort die Beta-Klasse besucht. Im Schuljahr 2017/18 hat er als außerordentlicher Schüler die Neue Mittelschule XXXX besucht. Er verfügt mittlerweile über sehr gute Deutschkenntnisse.

Seit 01.08.2019 absolviert der Beschwerdeführer eine vierjährige Lehre als Spengler. Dabei war er von 01.08.2019 bis 01.05.2021 bei der Firma XXXX GmbH & Co KG in XXXX und ist seit 03.05.2021 bei der Firma XXXX GmbH in XXXX beschäftigt. Er besucht die Berufsschule XXXX und schloss dort in den Schuljahren 2019/20 und 2020/21 die erste und zweite Fachklasse für Spengler jeweils positiv ab.

Er verdiente als Lehrling zuletzt 957,98 Euro monatlich, ist selbsterhaltungsfähig und nicht auf staatliche Leistungen angewiesen. Seit 01.04.2021 bezieht er keine Leistungen aus der Grundversorgung mehr und wohnt privat in einer Mietwohnung.

In seiner Freizeit übt der Beschwerdeführer Breakdance aus, geht Eislaufen und mit seinen Freunden spazieren. Er hat in Österreich den Führerschein Klasse B und den Staplerschein gemacht.

Er wird von seinen Vertrauenspersonen als freundlich, höflich, interessiert, motiviert, ehrgeizig, engagiert, nett, sportlich, gesundheitsbewusst, hilfsbereit, ehrgeizig, gesellig und gewissenhaft beschrieben.

Mit Urteil des Landesgerichts XXXX als Jugendgericht vom 03.09.2018, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen der Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB und der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB unter Vorbehalt des Ausspruchs über die Strafe bei Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren schuldig gesprochen.

Dieser Verurteilung lag im Wesentlichen zugrunde, dass er am 14.02.2018 einen anderen durch einen Faustschlag und das Drücken von Fingern gegen das Gesicht in Form eines ca. drei Tage andauernden geschwollenen Auges und Kratzern unter dem rechten Auge vorsätzlich verletzt sowie am selben Tag diese Person und am 13.03.2018 ein weiteres Opfer jeweils gefährlich bedroht hat, um sie in Furcht und Unruhe zu versetzen. Das Gericht wertete bei der Strafbemessung das reumütige und zur Wahrheitsfindung beitragende Geständnis und die Unbescholtenheit als mildernd, hingegen das Zusammentreffen von drei Vergehen als erschwerend.

Mit Urteil des Landesgerichts XXXX als Jugendgericht vom 10.12.2018, Zl. XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 SMG zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt, wovon ihm acht Monate bei Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurden.

Dieser Verurteilung lag im Wesentlichen zugrunde, dass er im Zeitraum Sommer 2017 bis 30.10.2018 anderen vorschriftswidrig Suchtgift in einer die Grenzmenge übersteigenden Menge – teilweise an einem allgemein zugänglichen Ort öffentlich – überlassen hat, nämlich eine unbekannte Menge Cannabiskraut im Bereich von zumindest 800 bis 1.000 Gramm mit einem gerichtsnotorischen Reinheitsgehalt von 8 % THCA und 0,5 % Delta-9-THC. Das Gericht wertete bei der Strafbemessung das Geständnis und die teilweise Sicherstellung des tatverfangenen Suchtgifts als mildernd, hingegen eine einschlägige Vorverurteilung, die Tatbegehung während laufenden Verfahrens und den langen Tatzeitraum als erschwerend.

Der Beschwerdeführer befand sich von 30.10.2018 bis 10.12.2018 in Untersuchungshaft.

Am 01.03.2019 und 17.04.2019 erhielt der Beschwerdeführer jeweils Verwaltungsstrafen des Polizeikommissariats XXXX , weil er am 21.02.2019 die öffentliche Ordnung gestört bzw. den öffentlichen Anstand verletzt und dadurch die Verwaltungsübertretungen nach § 81 Abs. 1 SPG bzw. § 1 Abs. 1 OÖ Polizeistrafgesetz begangen hat. Am 06.06.2019 erhielt er eine Verwaltungsstrafe des Polizeikommissariats XXXX , weil er am 28.05.2019 eine Waffe, nämlich ein Springmesser, besessen hat, obwohl ihm das als Asylwerber und Mensch unter 18 Jahren verboten war, und dadurch die Verwaltungsübertretungen nach §§ 51 Abs. 2 iVm 11a bzw. 11 Abs. 1 Waffengesetz begangen hat.

Seit Mai 2019 ist der Beschwerdeführer nicht mehr straf- oder verwaltungsstrafrechtlich in Erscheinung getreten. Seit Sommer 2019 ist für die Betreuer seiner (ehemaligen) Unterkunft sowie seine Bewährungshelferin eine stark positive Verhaltensänderung wahrnehmbar. Der Beschwerdeführer begann am 01.08.2019 eine Lehre und ist seither durchgehend in Beschäftigung, mittlerweile ist er selbsterhaltungsfähig und lebt in einer eigenen Wohnung. Er hat die Angebote der Bewährungshilfe, sich mit seiner Delinquenz auseinanderzusetzen, angenommen, und zeigte sich dabei kooperativ und motiviert. Die Bewährungshilfe wurde aufgrund seiner positiven Entwicklung am 30.11.2020 vorzeitig beendet. Den Kontakt zu den Betreuern seiner ehemaligen Unterkunft hält er auch seit seinem Auszug aufrecht. Er hat konkrete Pläne für seine Zukunft in Österreich, zunächst insbesondere den Abschluss seiner Ausbildung, und verfolgt diese ehrgeizig. Das Risiko einer erneuten Straffälligkeit des Beschwerdeführers ist zum aktuellen Zeitpunkt als sehr gering einzuschätzen.

1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Die persönliche Situation des Beschwerdeführers hat sich seit der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten mit Bescheid der belangten Behörde vom 14.07.2017 jedenfalls insofern geändert, als der Beschwerdeführer seit 01.01.2021 volljährig und damit kein unbegleiteter Minderjähriger mehr ist.

Dem Beschwerdeführer könnte bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Kabul aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

Dem Beschwerdeführer steht jedoch eine innerstaatliche Flucht- und Schutzalternative in der Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung.

Die Eltern, vier Schwestern und vier Brüder des Beschwerdeführers leben nach wie vor in Kabul. Er hat gelegentlich Kontakt mit ihnen. Es kann nicht festgestellt werden, dass die Familie des Beschwerdeführers ihn im Fall der Rückkehr zumindest vorübergehend finanziell unterstützen könnte.

Der Beschwerdeführer kann Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen. Diese umfasst jedenfalls die notwendigen Kosten der Rückreise.

Der Beschwerdeführer hat keine Ortskenntnisse betreffend Mazar-e Sharif. Städtische Strukturen sind ihm jedoch bereits aus Kabul bekannt, er kann sich daher auch in Mazar-e Sharif rasch Ortskenntnisse aneignen.

Der Beschwerdeführer ist jung, gesund, anpassungsfähig und kann einer regelmäßigen Arbeit nachgehen. Er hat in Afghanistan sechs Jahre die Grundschule besucht und im Geschäft seiner Familie gearbeitet. In Österreich absolviert er seit August 2019 eine Lehre als Spengler und hat zwei Fachklassen der Berufsschule abgeschlossen. Er spricht die Landessprachen Dari und Paschtu auf muttersprachlichem Niveau und ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in der Stadt Mazar-e Sharif kann der Beschwerdeführer grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und in Mazar-e Sharif einer Arbeit nachgehen und sich selber erhalten.

Es ist dem Beschwerdeführer möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in der Stadt Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

1.4.    Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der aktualisierten Fassung vom 01.04.2021 (LIB),

-        UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR),

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO)

-        Arbeitsübersetzung Landinfo-Report „Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne” vom 23.08.2017 (Landinfo 1)

-        Website der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/question-and-answers-hub/q-a-detail/coronavirus-disease-covid-19 abgerufen am 25.06.2021 und https://covid19.who.int/region/emro/country/af, abgerufen am 25.06.2021 (WHO)

1.4.1. Allgemeine Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Kapitel 4).

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die Provinzhauptstädte, die meisten Distriktzentren und die meisten Teile der wichtigsten Transitrouten. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die Afghan National Defense Security Forces aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen um Provinzhauptstädte herum stationierte Koalitionstruppen. Unabhängig davon begann IS/ISKP im Februar 2020 Terroranschläge gegen die ANDSF und die Koalitionstruppen durchzuführen. Die Zahl der Angriffe der Taliban auf staatliche Sicherheitskräfte entsprach im Jahr 2020 dem Niveau der Frühjahrsoffensiven der vergangenen Jahre, auch wenn die Offensive dieses Jahr bisher nicht offiziell erklärt wurde (LIB, Kapitel 5).

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt (LIB, Kapitel 8).

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (LIB, Kapitel 6).

1.4.1.1. Aktuelle Entwicklungen und Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft

Vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2020 verzeichnete UNAMA die niedrigste Zahl ziviler Opfer seit 2013. Laut AAN (Afghanistan Analysts Network) war 2020 in Afghanistan genauso gewalttätig wie 2019, trotz des Friedensprozesses und der COVID-19-Pandemie. Seit dem Abkommen zwischen den Taliban und den USA vom 29. Februar haben sich jedoch die Muster und die Art der Gewalt verändert. Das US-Militär spielt jetzt nur noch eine minimale direkte Rolle in dem Konflikt, so dass es sich fast ausschließlich um einen afghanischen Krieg handelt, in dem sich Landsleute gegenseitig bekämpfen, wenn auch mit erheblicher ausländischer Unterstützung für beide Seiten. Seit der Vereinbarung vom 29.02.2020 haben die Taliban und die afghanische Regierung ihre Aktionen eher heruntergespielt als übertrieben, und die USA haben die Veröffentlichung von Daten zu Luftangriffen eingestellt (LIB, Kapitel 4).

Die afghanischen Regierungskräfte und die US-Amerikaner können die Taliban, die über rund 60.000 Mann verfügen, nicht besiegen. Aber auch die Aufständischen sind nicht stark genug, die Regierungstruppen zu überrennen, obwohl sie rund die Hälfte des Landes kontrollieren oder dort zumindest präsent sind (LIB, Kapitel 4).

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum „vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte“ gemacht. Der Konflikt in Afghanistan befindet sich nach wie vor in einer „strategischen Pattsituation“, die nur durch Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban gelöst werden kann (LIB, Kapitel 5).

Vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2020 dokumentierte UNAMA 8.820 zivile Opfer (3.035 Getötete und 5.785 Verletzte), während AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) für das gesamte Jahr 2020 insgesamt 8.500 zivile Opfer registrierte, darunter 2.958 Tote und 5.542 Verletzte. Das ist ein Rückgang um 15% (21% laut AIHRC) gegenüber der Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2019 (und die geringste Zahl ziviler Opfer seit 2013 (LIB, Kapitel 5).

Nach dem Abkommen zwischen den USA und den Taliban dokumentierte UNAMA einen Rückgang der Opfer unter der Zivilbevölkerung bei groß angelegten Angriffen in städtischen Zentren durch regierungsfeindliche Elemente, insbesondere die Taliban, und bei Luftangriffen durch internationale Streitkräfte. Dies wurde jedoch teilweise durch einen Anstieg der Opfer unter der Zivilbevölkerung durch gezielte Tötungen von regierungsfeindlichen Elementen, durch Druckplatten-IEDs der Taliban und durch Luftangriffe der afghanischen Luftwaffe sowie durch ein weiterhin hohes Maß an Schäden für die Zivilbevölkerung bei Bodenkämpfen ausgeglichen (LIB, Kapitel 5).

Die Ergebnisse des AIHRC zeigen, dass Beamte, Journalisten, Aktivisten der Zivilgesellschaft, religiöse Gelehrte, einflussreiche Persönlichkeiten, Mitglieder der Nationalversammlung und Menschenrechtsverteidiger das häufigste Ziel von gezielten Angriffen waren. Im Jahr 2020 verursachten gezielte Angriffe 2.250 zivile Opfer, darunter 1.078 Tote und 1.172 Verletzte. Diese Zahl macht 26% aller zivilen Todesopfer im Jahr 2020 aus (LIB, Kapitel 5).

Die von den Konfliktparteien eingesetzten Methoden, die die meisten zivilen Opfer verursacht haben, sind in der jeweiligen Reihenfolge folgende: IEDs und Straßenminen, gezielte Tötungen, Raketenbeschuss, komplexe Selbstmordanschläge, Bodenkämpfe und Luftangriffe (LIB, Kapitel 5)

Die neue amerikanische Regierung warf den Taliban im Januar 2021 vor, gegen das im Februar 2020 geschlossene Friedensabkommen zu verstoßen und sich nicht an die Verpflichtungen zu halten, ihre Gewaltakte zu reduzieren und ihre Verbindungen zum Extremistennetzwerk Al-Qaida zu kappen. Ein Pentagon-Sprecher gab an, dass der neue Präsident Joe Biden dennoch an dem Abkommen mit den Taliban festhält, betonte aber auch, solange die Taliban ihre Verpflichtungen nicht erfüllten, sei es für deren Verhandlungspartner „schwierig“, sich an ihre eigenen Zusagen zu halten. Nach einer mehr als einmonatigen Verzögerung inmitten eskalierender Gewalt sind die Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung am 22.02.2021 in Katar wiederaufgenommen worden (LIB, Kapitel 4)

1.4.2. Allgemeine Wirtschaftslage

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Während in ländlichen Gebieten bis zu 60 % der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, so leben in urbanen Gebieten rund 41,6 % unter der nationalen Armutsgrenze (LIB, Kapitel 23.1).

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 23.1).

Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan. Der Arbeitsmarkt ist durch eine niedrige Erwerbsquote, hohe Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse charakterisiert. 80% der afghanischen Arbeitskräfte befinden sich in „prekären Beschäftigungsverhältnissen“, mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen, wobei schätzungsweise 16% der prekär Beschäftigten Tagelöhner sind. Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der COVID-19-Pandemie wieder steigen ebenso wie die Anzahl der prekär beschäftigten, auch wenn es keine offiziellen Regierungsstatistiken über die Auswirkungen der Pandemie auf den Arbeitsmarkt gibt (LIB, Kapitel 23.3).

Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht (LIB, Kapitel 23.3).

Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Während Frauen am afghanischen Arbeitsmarkt eine nur untergeordnete Rolle spielen, stellen sie jedoch im Agrarsektor 33 % und im Textilbereich 65 % der Arbeitskräfte (LIB, Kapitel 23.3).

Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke, ist die Arbeitssuche schwierig. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten; dabei soll der persönliche Lebenslauf zur Beratung mitgebracht werden. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Rückkehrende sollten auch hier ihren Lebenslauf an eine der Organisationen weiterleiten, woraufhin sie informiert werden, inwiefern Arbeitsmöglichkeiten zum Bewerbungszeitpunkt zur Verfügung stehen. Unter Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an (LIB, Kapitel 23.3).

Ungelernte Arbeiter erwirtschaften ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte. Der Durchschnittslohn für einen ungelernten Arbeiter ist unterschiedlich, für einen Tagelöhner beträgt er etwa 5 USD pro Tag. Während der COVID-19-Pandemie ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftszweige durch die Sperr- und Restriktionsmaßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ beeinflusst wurden. Kleine und große Unternehmen boten in der Regel direkte Arbeitsmöglichkeiten für Tagelöhner (LIB, Kapitel 23.3).

Die Miete für eine Wohnung im Stadtzentrum von Kabul liegt durchschnittlich zwischen 200 USD und 350 USD im Monat. Für einen angemessenen Lebensstandard muss zudem mit durchschnittlichen Lebenshaltungskosten von bis zu 350 USD pro Monat (Stand 2020) gerechnet werden. Auch in Mazar-e Sharif stehen zahlreiche Wohnungen zur Miete zur Verfügung. Dies gilt auch für Rückkehrer. Die Höhe des Mietpreises für eine drei-Zimmer-Wohnung in Mazar-e Sharif schwankt unter anderem je nach Lage zwischen 100 USD und 300 USD monatlich. Einer anderen Quelle zufolge liegen die Kosten für eine einfache Wohnung in Afghanistan ohne Heizung oder Komfort, aber mit Zugang zu fließendem Wasser, sporadisch verfügbarer Elektrizität, einer einfachen Toilette und einer Möglichkeit zum Kochen zwischen 80 USD und 100 USD im Monat. Es existieren auch andere Unterbringungsmöglichkeiten wie Hotels und Teehäuser, die etwa von Tagelöhnern zur Übernachtung genutzt werden. Auch eine Person, welche in Afghanistan über keine Familie oder Netzwerk verfügt, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden - vorausgesetzt die Person verfügt über die notwendigen finanziellen Mittel. Wohnungszuschüsse für sozial Benachteiligte oder Mittellose existieren in Afghanistan nicht (LIB, Kapitel 23.2).

Betriebs- und Nebenkosten wie Wasser und Strom kosten in der Regel nicht mehr als 40 USD pro Monat. Abhängig vom Verbrauch können die Kosten allerdings höher liegen. Die Kosten in der Innenstadt Kabuls sind höher. In ländlichen Gebieten kann man mit mind. 50 % weniger Kosten für die Miete und den Lebensunterhalt rechnen (LIB, Kapitel 23.2).

Afghanistan ist von einem Wohlfahrtsstaat weit entfernt, und Afghanen rechnen in der Regel nicht mit Unterstützung durch öffentliche Behörden. Verschiedene Netzwerke ersetzen und kompensieren den schwachen staatlichen Apparat. Das gilt besonders für ländliche Gebiete, wo die Regierung in einigen Gebieten völlig abwesend ist (LIB, Kapitel 23.5).

Der afghanische Staat gewährt seinen Bürgern kostenfreie Bildung und Gesundheitsleistungen, darüber hinaus sind keine Sozialleistungen vorgesehen. Es gibt kein Sozialversicherungs- oder Pensionssystem, von einigen Ausnahmen abgesehen (z.B. Armee und Polizei). Es gibt kein öffentliches Krankenversicherungssystem. Ein eingeschränktes Angebot an privaten Krankenversicherungen existiert, jedoch sind die Gebühren für die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung zu hoch (LIB, Kapitel 23.5).

Ein Pensionssystem ist nur im öffentlichen Sektor etabliert. Berichten zufolge arbeitet die afghanische Regierung an der Schaffung eines Pensionssystems im Privatsektor. Private Unternehmen können für ihre Angestellten Pensionskonten einführen, müssen das aber nicht. Die weitgehende Informalität der afghanischen Wirtschaft bedeutet, dass die Mehrheit der Arbeitskräfte nicht in den Genuss von Pensionen oder Sozialbeihilfen kommt (LIB, Kapitel 23.5).

Nach einer Zeit mit begrenzten Bankdienstleistungen entstehen im Finanzsektor in Afghanistan schnell mehr und mehr kommerzielle Banken und Leistungen. Die kommerziellen Angebote der Zentralbank gehen mit steigender Kapazität des Finanzsektors zurück. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Die Bank wird dabei nach Folgendem fragen: Ausweisdokument (Tazkira), zwei Passfotos und 1.000 bis 5.000 AFN als Mindestkapital für das Bankkonto. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet (LIB, Kapitel 23.6).

1.4.3. Medizinische Versorgung

Seit 2002 hat sich die medizinische Versorgung in Afghanistan stark verbessert, dennoch bleibt sie im regionalen Vergleich zurück. Vor allem in den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit gab es deutliche Verbesserungen. Trotz der im Entwicklungsländervergleich relativ hohen Ausgaben für Gesundheit ist die Gesundheitsversorgung im ganzen Land sowohl in den von den Taliban als auch in den von der Regierung beeinflussten Gebieten generell schlecht. Zum Beispiel gibt es in Afghanistan 2,3 Ärzte und fünf Krankenschwestern und Hebammen pro 10.000 Menschen, verglichen mit einem weltweiten Durchschnitt von 13 bzw. 20 (LIB, Kapitel 24).

Der Konflikt, COVID-19 und unzureichende Investitionen in die Infrastruktur treiben den Gesundheitsbedarf an und verhindern, dass die betroffenen Menschen rechtzeitig sichere, ausreichend ausgestattete Gesundheitseinrichtungen und -dienste erhalten. Gleichzeitig haben der aktive Konflikt und gezielte Angriffe der Konfliktparteien auf Gesundheitseinrichtungen und -personal zur periodischen, verlängerten oder dauerhaften Schließung wichtiger Gesundheitseinrichtungen geführt, wovon in den ersten zehn Monaten des Jahres 2020 bis zu 1,2 Mio. Menschen in mindestens 17 Provinzen betroffen waren (LIB, Kapitel 24).

Im Jahr 2018 gab es 3.135 funktionierende medizinische Institutionen in ganz Afghanistan, und 87 % der Bevölkerung wohnten nicht weiter als zwei Stunden von einer solchen Einrichtung entfernt. Eine weitere Quelle spricht von 641 Krankenhäusern bzw. Gesundheitseinrichtungen in Afghanistan, wobei 181 davon öffentliche und 460 private Krankenhäuser sind. Die genaue Anzahl der Gesundheitseinrichtungen in den einzelnen Provinzen ist nicht bekannt (LIB, Kapitel 24)

90 % der medizinischen Versorgung in Afghanistan wird nicht direkt vom Staat erbracht, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die unter Vertrag genommen werden. Durch dieses Vertragssystem wird die primäre, sekundäre und tertiäre Gesundheitsversorgung bereitgestellt, Primärversorgungsleistungen auf Gemeinde- oder Dorfebene, Sekundärversorgungsleistungen auf Distriktebene und Tertiärversorgungsleistungen auf Provinz- und nationaler Ebene. Es mangelt jedoch an Investitionen in die medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während es in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken gibt, ist es für viele Afghanen schwierig, in ländlichen Gebieten eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Nach Berichten von UNOCHA haben rund zehn Mio. Menschen in Afghanistan nur eingeschränkten oder gar keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung (LIB, Kapitel 24).

Die Verfügbarkeit und Qualität der Basisversorgung ist durch den Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenten (insbesondere Hebammen), den Mangel an Medikamenten, schlechtes Management und schlechte Infrastruktur eingeschränkt. Darüber hinaus herrscht in der Bevölkerung ein starkes Misstrauen gegenüber der staatlich finanzierten medizinischen Versorgung. Die Qualität der Kliniken ist sehr unterschiedlich. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen (LIB, Kapitel 24).

Neben dem öffentlichen Gesundheitssystem gibt es auch einen weitverbreiteten, aber teuren privaten Sektor. Trotz dieser höheren Kosten wird berichtet, dass über 60% der Afghanen private Gesundheitszentren als Hauptansprechpartner für Gesundheitsdienstleistungen nutzen. Vor allem Afghanen, die außerhalb der großen Städte leben, bevorzugen die private Gesundheitsversorgung wegen ihrer wahrgenommenen Qualität und Sicherheit, auch wenn die dort erhaltene Versorgung möglicherweise nicht von besserer Qualität ist als in öffentlichen Einrichtungen. Die Kosten für Diagnose und Behandlung variieren dort sehr stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden, was den privaten Sektor sehr vielfältig macht mit einer uneinheitlichen Qualität der Leistungen, die oft unzureichend sind oder nicht dem Standard entsprechen (LIB, Kapitel 24).

Die Sicherheitslage hat auch erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheitsdienste. Trotz des erhöhten Drucks und Bedarfs an ihren Dienstleistungen werden Gesundheitseinrichtungen und -mitarbeiter weiterhin durch Angriffe sowie Einschüchterungsversuche von Konfliktparteien geschädigt, wodurch die Fähigkeit des Systems, den Bedarf zu decken, untergraben wird. Seit Beginn der Pandemie gab es direkte Angriffe auf Krankenhäuser, Entführungen von Mitarbeitern des Gesundheitswesens, Akte der Einschüchterung, Belästigung und Einmischung, Plünderungen von medizinischen Vorräten sowie indirekte Schäden durch den anhaltenden bewaffneten Konflikt. Das direkte Anvisieren von Gesundheitseinrichtungen und Personal führt nicht nur zu unmittelbaren Todesfällen und Verletzungen, sondern zwingt viele Krankenhäuser dazu, lebenswichtige medizinische Leistungen auszusetzen oder ganz zu schließen (LIB, Kapitel 24).

Eine begrenzte Anzahl von staatlichen Krankenhäusern in Afghanistan bietet kostenlose medizinische Versorgung an. Voraussetzung für die kostenlose Behandlung ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft durch einen Personalausweis oder eine Tazkira. Alle Bürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Allerdings gibt es manchmal einen Mangel an Medikamenten. Daher werden die Patienten an private Apotheken verwiesen, um verschiedene Medikamente selbst zu kaufen, oder sie werden gebeten, für medizinische Leistungen, Labortests und stationäre Behandlungen zu zahlen. Medikamente können auf jedem afghanischen Markt gekauft werden, und die Preise variieren je nach Marke und Qualität des Produkts. Die Kosten für Medikamente in staatlichen Krankenhäusern unterscheiden sich von den lokalen Marktpreisen. Private Krankenhäuser befinden sich meist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar, und die medizinische Ausstattung ist oft veraltet oder nicht vorhanden. Eine Unterbringung von Patienten ist nur möglich, wenn sie durch Familienangehörige oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt werden. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf (LIB, Kapitel 24.1).

Die Haupthindernisse für den Zugang zur Gesundheitsversorgung in Afghanistan sind die hohen Behandlungskosten, der Mangel an Ärztinnen, die großen Entfernungen zu den Gesundheitseinrichtungen und eine unzureichende Anzahl an medizinischem Personal in den ländlichen Gebieten, Korruption und Abwesenheit des Gesundheitspersonals sowie Sicherheitsgründe (LIB, Kapitel 24.1).

Viele Staatsangehörige - die es sich leisten können - gehen zur medizinischen Behandlung ins Ausland nach Pakistan oder in die Türkei - auch für kleinere Eingriffe. In Pakistan zum Beispiel ist dies zumindest für die Mittelschicht vergleichsweise einfach und erschwinglich (LIB, Kapitel 24.1).

Sowohl die Quantität als auch die Qualität von essenziellen Medikamenten sind eine große Herausforderung für das afghanische Gesundheitssystem. Da es keine nationale Regulierungsbehörde gibt, sind Medikamente, Impfstoffe, biologische Mittel, Labormittel und medizinische Geräte nicht ordnungsgemäß reguliert, was die Gesetzgebung und die Durchsetzung von Gesetzen fast unmöglich macht (LIB, Kapitel 24.2)

Die Patienten müssen für alle Medikamente bezahlen, außer für Medikamente in der Primärversorgung, die in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen kostenlos sind. Für bestimmte Arten von Medikamenten ist ein Rezept erforderlich. Obwohl es in Afghanistan viele Apotheken gibt, sind Medikamente nur in städtischen Gebieten leicht zugänglich, da es dort viele private Apotheken gibt. In ländlichen Gebieten ist dies weniger der Fall. Auf den afghanischen Märkten sind mittlerweile alle Arten von Medikamenten erhältlich, aber die Kosten variieren je nach Qualität, Firmennamen und Hersteller. Die Qualität dieser Medikamente ist oft gering; die Medikamente sind abgelaufen oder wurden unter schlechten Bedingungen transportiert (LIB, Kapitel 24.1).

Wie auch in anderen Krankenhäusern Afghanistans ist eine Unterbringung im Kabuler Krankenhaus von Patienten grundsätzlich nur möglich, wenn sie durch Familienangehörige oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt werden. So werden Patienten bei stationärer Behandlung in psychiatrischen Krankenhäusern in Afghanistan nur in Begleitung eines Verwandten aufgenommen. Der Verwandte muss sich um den Patienten kümmern und für diesen beispielsweise Medikamente und Nahrungsmittel kaufen. Zudem muss der Angehörige den Patienten gegebenenfalls vor anderen Patienten beschützen oder im umgekehrten Fall bei aggressivem Verhalten des Verwandten die übrigen Patienten schützen. Die Begleitung durch ein Familienmitglied ist in allen psychiatrischen Einrichtungen Afghanistans aufgrund der allgemeinen Ressourcenknappheit bei der Pflege der Patienten notwendig. Aus diesem Grund werden Personen ohne einen Angehörigen selbst in Notfällen in psychiatrischen Krankenhäusern nicht stationär aufgenommen (LIB, Kapitel 24.3).

1.4.4. Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Mio. Menschen. Davon sind ca. 40 bis 42 % Paschtunen, 27 bis 30 % Tadschiken, 9 bis 10 % Hazara, 9 % Usbeken, ca. 4 % Aimaken, 3 % Turkmenen und 2 % Belutschen. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB, Kapitel 19).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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