TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/9 W260 2189614-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 09.08.2021
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Entscheidungsdatum

09.08.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs2
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W260 2188197-1/33E
W260 2189614-1/31E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Markus BELFIN als Einzelrichter über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX und 2.) XXXX , geb. XXXX , beide StA. Afghanistan, beide vertreten durch Dr. Gregor KLAMMER, Rechtsanwalt in 1010 Wien, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Kärnten, Außenstelle Klagenfurt, jeweils vom 20.02.2018, Zahlen: 1.) 1099822710-152040192 und 2.) 1099822601-152040184, nach Durchführung von mündlichen Verhandlungen am 03.10.2018 und 26.03.2021 zu Recht:

A)

Zu 1.)

Die Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.

Zu 2.)

I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. bis III. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkte IV. und V. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und diese ersatzlos behoben.

Die Rückkehrentscheidung ist bis zum 07.05.2023 vorübergehend unzulässig.

III. Spruchpunkt VI. des angefochtenen Bescheides wird ersatzlos behoben.

B)

Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der zum damaligen Zeitpunkt minderjährige XXXX (im Folgenden „Erstbeschwerdeführer“) und sein Onkel, XXXX (im Folgenden „Zweitbeschwerdeführer“), stellten nach illegaler Einreise ins Bundesgebiet am 23.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Die Erstbefragung fand am 23.12.2015 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt, bei welcher der Zweitbeschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt angab, dass er in Afghanistan mit seinem LKW Baumaterial zu einer Schule gebracht hätte. Vor ungefähr fünf Monaten hätten ihm andere LKW-Fahrer gesagt, dass die Taliban nach ihm suchen würden. Er wäre dann zu Hause geblieben bzw. die Strecke, wo Taliban gewesen seien, nicht gefahren. Er hätte aber Angst bekommen und wäre gemeinsam mit dem Erstbeschwerdeführer geflüchtet.

Der Erstbeschwerdeführer gab an, dass sein Vater vor ungefähr eineinhalb Jahren bei einer Reise verschwunden wäre. Er wisse nicht, wo sich der Vater befinde und ob er noch lebe. In Afghanistan würden junge Männer wie der Erstbeschwerdeführer von den Taliban entführt und gezwungen, für diese zu kämpfen. Daher hätte ihn seine Mutter mit dem Zweitbeschwerdeführer auf die Flucht geschickt.

3. Nach Zulassung zum Asylverfahren wurde der Zweitbeschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden „belangte Behörde“) am 05.02.2018 im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Zu seinen Fluchtgründen befragt führte der Beschwerdeführer zusammengefasst aus, er wäre in Afghanistan selbständiger LKW-Fahrer gewesen und hätte für Auftraggeber Sand und Steine transportiert. Er wäre bei der Renovierung einer Schule durch die Amerikaner tätig gewesen und deshalb von den Taliban bedroht worden. Die Taliban hätten den Erst- und Zweitbeschwerdeführer bei der Arbeit erwischt und den Zweitbeschwerdeführer gefoltert. Der Zweitbeschwerdeführer hätte auch etwas unterschrieben, nämlich, dass er nicht mehr in diesem Bereich arbeiten würde. Danach hätte er einen Drohbrief von den Taliban erhalten. Das Haus des Zweitbeschwerdeführers wäre von den Taliban niedergebrannt worden. Zu seinen persönlichen Lebensumständen in seinem Herkunftsstaat befragt führte der Zweitbeschwerdeführer aus, dass er Analphabet wäre und keine Schule besucht hätte. Er wäre verheiratet und hätte vier Kinder. Seine Ehefrau und Kinder wären in Pakistan aufhältig. Der Familie wäre es vor seiner Ausreise finanziell gut gegangen. Sie hätten ein Haus und ein Grundstück mit vielen Apfelbäumen gehabt, die sie bewirtschaftet hätten. In dem Haus hätte er mit seiner Familie und der Familie seines Bruders gelebt. Sein Bruder, der Vater des Erstbeschwerdeführers, wäre verschwunden.

Im Zuge der Befragung legte der Zweitbeschwerdeführer Beweismittel (Kopie des Drohbriefes) und Integrationsunterlagen vor.

4. Der Erstbeschwerdeführer wurde ebenfalls am 05.02.2018 vor der belangten Behörde in Anwesenheit seiner rechtlichen Vertretung, einer Vertrauensperson und im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Zu seinen Fluchtgründen befragt führte der Beschwerdeführer zusammengefasst aus, sein Vater wäre verschwunden. Er hätte ab und zu seinem Onkel, dem Zweitbeschwerdeführer, beim Transport von Baumaterial für eine Schule geholfen. Die Amerikaner hätten die Renovierung dieser Schule mitfinanziert. Einmal wären sie von den Taliban angehalten und gefragt worden, weshalb sie für die Ungläubigen arbeiten. Sie hätten ihn auch anwerben wollen. Außerdem hätte er in seinem Heimatdorf nicht in die Schule gehen dürfen. Einige Tage nach diesem Vorfall hätten sie erfahren, dass der Zweitbeschwerdeführer einen Drohbrief der Taliban erhalten hätte.

Im Zuge der Befragung legte der Erstbeschwerdeführer ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor.

5. Der Erstbeschwerdeführer gab durch seine Vertreterin am 12.02.2018 eine schriftliche Stellungnahme zu den Länderinformationen der belangten Behörde ab.

6. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 20.02.2018 wies die belangte Behörde den Antrag des Zweitbeschwerdeführers auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II.). Es wurde dem Beschwerdeführer kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III., IV. und V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die belangte Behörde zusammengefasst aus, dass er seine Fluchtgründe nicht glaubhaft machen konnte, er sei gesund und arbeitsfähig und könne in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif zumutbare Lebensbedingungen vorfinden. Gründe für eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz würden nicht vorliegen. Es drohe dem Beschwerdeführer auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Der Beschwerdeführer verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, welches einer Rückkehrentscheidung entgegenstehen würde.

7. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 20.02.2018 wies die belangte Behörde den Antrag des Erstbeschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.). Dem Erstbeschwerdeführer wurde der Status des subsidiär Schutzberechtigen zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 19.02.2019 erteilt.

Begründend führte die belangte Behörde zusammengefasst aus, dass er seine Fluchtgründe nicht glaubhaft machen konnte. Bei einer Rückkehr würde der minderjährige Beschwerdeführer aufgrund des fehlenden familiären Netzwerkes in eine ausweglose Lage geraten. Der subsidiäre Schutz sei ausschließlich auf Grund seiner Minderjährigkeit zuzusprechen.

8. Der Zweitbeschwerdeführer erhob gegen seinen Bescheid fristgerecht Beschwerde und gab bekannt, dass er einen Rechtsanwalt mit seiner Vertretung beauftragt habe. Er wiederholte darin sein Fluchtvorbringen und führte zusammengefasst aus, dass ihm eine Rückkehr nach Afghanistan entgegen der Ansicht der belangten Behörde aufgrund der landesweiten Bedrohung durch die Taliban und auch aufgrund der dort herrschenden Sicherheitslage nicht möglich sei. Er beantrage die Beiziehung eines länderkundigen Sachverständigen. Der Zweitbeschwerdeführer legte eine Liste mit Fehlern, die bei der Einvernahme vor der belangten Behörde protokolliert worden wären, bei. Er legte auch Kopien von Fotos vor, die sein von den Taliban zerstörtes Haus zeigen sollen.

9. Der Erstbeschwerdeführer erhob gegen Spruchpunkt I. des Bescheides vom 20.02.2018 durch seine gesetzliche Vertretung fristgerecht Beschwerde. Er wiederholte im Wesentlichen sein bisheriges Fluchtvorbringen, wonach er im Zuge seiner Hilfstätigkeit bei seinem Onkel von Mitgliedern der Taliban persönlich bedroht und geschlagen worden wäre. Zudem wäre sein Vater von einer Reise nicht zurückgekehrt und hätten Dorfbewohner der Familie mitgeteilt, dass der Vater bei einem Selbstmordanschlag ums Leben gekommen wäre. Der Erstbeschwerdeführer hätte auch keinen Kontakt mehr zu seiner Mutter und wäre daher bei einer Rückkehr ohne familiäres und soziales Netz. Er wäre auch einem hohen Risiko ausgesetzt, durch Zwangsarbeiten oder als Lustjunge missbraucht zu werden, zumal keine staatliche Unterstützungs- bzw. Schutzsysteme bestehen.

10. Die belangte Behörde übermittelte am 06.03.2018 die Beschwerdevorlage zum Verfahren des Erstbeschwerdeführers und am 15.03.2018 die Beschwerdevorlage zum Verfahren des Zweitbeschwerdeführers und gab eine Stellungnahme zur in der Beschwerde vorgelegten Fehlerliste ab.

11. Mit Beschluss des Bezirksgerichtes Klagenfurt vom 12.04.2018, 3 PS 34/16y, wurde dem Zweitbeschwerdeführer die Obsorge für den minderjährigen Erstbeschwerdeführer übertragen.

12. Mit Schreiben vom 20.08.2018 wurde eine Vollmacht des Verein Menschenrechte Österreich für den Zweitbeschwerdeführer vorgelegt und bekannt gegeben, dass sich die Vollmacht auch auf den minderjährigen Zweitbeschwerdeführer erstreckt. Vorgelegt wurde der Obsorgebeschluss für den Erstbeschwerdeführer sowie ein Konvolut an Integrationsunterlagen für den Erstbeschwerdeführer.

13. Mit Schreiben vom 22.08.2018 wurde die Vertretungsvollmacht zu RA Mag. AUER aufgelöst.

14. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 03.10.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. In dieser wurden die Beschwerdeführer im Beisein ihres Vertreters und eines Dolmetschers für die Sprache Dari, eingehend zu ihren Fluchtgründen und zu ihrem Leben in Österreich befragt und wurden weitere Integrationsunterlagen der Beschwerdeführer zur Vorlage gebracht, seitens des Bundesverwaltungsgerichtes wurde Länderberichtsmaterial zu Afghanistan ins Verfahren eingebracht und die Möglichkeit zur schriftlichen Stellungnahme gegeben. Das Verhandlungsprotokoll wurde der entschuldigt abwesenden belangten Behörde übermittelt.

15. Mit Schreiben vom 12.10.2018 übermittelte der Erstbeschwerdeführer durch seine gesetzliche Vertretung die Bestätigung über die Einbringung eines Suchantrages beim Roten Kreuz.

16. Die Beschwerdeführer gaben mit Schreiben vom 30.10.2018 eine Stellungnahme zu den Länderberichten ab.

17. Mit Schreiben vom 06.02.2019, 26.07.2019, 18.11.2019 und 25.05.2020 wurden Integrationsunterlagen der Beschwerdeführer vorgelegt.

18. Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte im Rahmen des Parteiengehörs am 28.08.2020 aktuelle Länderberichte.

Die Beschwerdeführer gaben dazu am 14.09.2020 eine Stellungnahme ab.

19. Mit 18.01.2021 übernahm die BBU die Vertretung für die Beschwerdeführer, legte die Vollmacht aber am 15.03.2021 wieder zurück.

20. Das Bundesverwaltungsgericht übermittelte im Rahmen des Parteiengehörs am 10.02.2021 aktuelle Länderberichte zu Afghanistan mit Stand 16.12.2020, die UNHCR-Richtlinien vom August 2018, die EASO Country Guidance Afghanistan in vollständiger Form und in englischer Sprache vom Juni 2019. Der Verfahrensparteien wurden aufgefordert ihrerseits aktuelle Urkunden vorzulegen und etwaige Anträge zu stellen.

21. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 26.03.2021 eine weitere öffentliche mündliche Verhandlung durch. In dieser wurden die Beschwerdeführer im Beisein ihres Rechtsanwaltes und eines Dolmetschers für die Sprache Dari, eingehend zu ihren Fluchtgründen und zu ihrem Leben in Österreich befragt und wurden weitere Integrationsunterlagen der Beschwerdeführer zur Vorlage gebracht, seitens des Bundesverwaltungsgerichtes wurde Länderberichtsmaterial zu Afghanistan ins Verfahren eingebracht und die Möglichkeit zur schriftlichen Stellungnahme gegeben.

Das Verhandlungsprotokoll wurde der unentschuldigt abwesenden belangten Behörde mit Schreiben vom 01.04.2021 übermittelt.

Die belangte Behörde gab dazu keine Stellungnahme ab.

22. Mit Schreiben vom 13.07.2021 legte der Erstbeschwerdeführer Integrationsunterlagen vor.

23. Das Bundesverwaltungsgericht holte am 16.07.2021 für den Erst- und Zweitbeschwerdeführer Auszüge aus dem Strafregister und Speicherauszüge aus dem Betreuungsinformationssystem über die Gewährleistung der vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde in Österreich („GVS“) ein, wonach der Erstbeschwerdeführer strafrechtlich unbescholten ist und die befristete Aufenthaltsberechtigung für den Erstbeschwerdeführer zuletzt am 07.05.2021 bis zum 07.05.2023 verlängert wurde. Der Zweitbeschwerdeführerin ist ebenfalls strafrechtlich unbescholten. Er bezieht weiterhin Leistungen aus der Grundversorgung in vollem Umfang.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

1.1.1. Der Erstbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und lautet das Geburtsdatum XXXX .

Er ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Der Erstbeschwerdeführer ist schiitischer Moslem, seine Muttersprache ist Dari. Er ist ledig und kinderlos.

Der Erstbeschwerdeführer wurde in der Provinz Ghazni, im Distrikt Qarabagh im Dorf XXXX geboren. Er besuchte ebendort fünf Jahre lang die Grundschule und sieben Jahre lang die Koranschule. Für den Lebensunterhalt kam zunächst sein Vater auf. Die Familie hatte Grundstücke. Nachdem sein Vater spurlos verschwunden war, hat der Erstbeschwerdeführer mit seiner Mutter und seinen Geschwistern im Haus seines Onkels, des Zweitbeschwerdeführers, gelebt.

Der Erstbeschwerdeführer ist gesund.

1.1.2. Der Zweitbeschwerdeführer führt den Namen XXXX und lautet das Geburtsdatum XXXX .

Er ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Der Zweitbeschwerdeführer ist schiitischer Moslem, seine Muttersprache ist Dari. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne und zwei Töchter.

Der Zweitbeschwerdeführer wurde in der Provinz Ghazni, im Distrikt Qarabagh im Dorf XXXX geboren.

Er hat keine Schulbildung absolviert und als selbständiger LKW-Fahrer gearbeitet.

Die Familie hatte ein Haus und mehrere Grundstücke mit Apfelbäumen. Die finanzielle Lage des Zweitbeschwerdeführers war gut.

Die Ehefrau und die Kinder des Zweitbeschwerdeführers leben in Pakistan.

Der Zweitbeschwerdeführer ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.

Der Zweitbeschwerdeführer ist gesund.

1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:

Der Zweitbeschwerdeführer hat als selbständiger LKW-Fahrer in Afghanistan Baumaterialien, unter anderem für einen von den Amerikanern finanzierten Schulbau, transportiert.

Er war gemeinsam mit dem Erstbeschwerdeführer unterwegs, als sie von den Taliban angehalten, bedroht und der Zweitbeschwerdeführer misshandelt/ gefoltert wurde.

Er verkaufte daraufhin seinen LKW und verließ im Jahr 2015, gemeinsam mit dem Erstbeschwerdeführer, Afghanistan.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen den Beschwerdeführern aktuell, individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in ihre körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen den Beschwerdeführern somit auch keine Zwangsrekrutierung durch die Taliban oder durch andere Personen.

Der Erstbeschwerdeführer wurde nicht konkret und individuell mit der Ausübung von physischer und psychischer Gewalt und/oder sexuellem Missbrauch - auch auf Grund der Praxis des „Bacha Bazi“ - bedroht oder würde ihm dies bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohen.

1.3. Zum Leben der Beschwerdeführer im Bundesgebiet:

1.3.1. Der Erstbeschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit Dezember 2015 durchgehend in Österreich auf.

Dem Erstbeschwerdeführer wurde mit Bescheid der belangten Behörde vom 20.02.2018 der Status des subsidiär Schutzberechtigen zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 19.02.2019 erteilt.

Die befristete Aufenthaltsberechtigung wurde zuletzt bis 07.05.2023 verlängert.

Der Erstbeschwerdeführer hält sich rechtmäßig im Bundesgebiet auf.

Der Erstbeschwerdeführer gilt als unbescholten.

Er verfügt über sehr gute Deutschkenntnisse und absolviert derzeit eine Lehre als Pharmazeutisch-Kaufmännischer Angestellter, die er voraussichtlich im Oktober 2021 mit seiner Lehrabschlussprüfung abschließen wird.

1.3.2. Der Zweitbeschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und hält sich zumindest seit Dezember 2015 durchgehend in Österreich auf. Er ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 23.12.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.

Der Zweitbeschwerdeführer gilt als unbescholten.

Der Zweitbeschwerdeführer verfügt über geringe Deutschkenntnisse auf Niveau A1. Er hat an Deutschkursen teilgenommen, eine Prüfung hat er aber bislang nicht bestanden. Er besuchte Integrationskurse.

Der Zweitbeschwerdeführer lebt von der Grundversorgung, er ist am österreichischen Arbeitsmarkt nicht integriert und geht keiner Erwerbstätigkeit nach. Er verfügt über keine verbindliche Arbeitszusage.

Der Zweitbeschwerdeführer konnte in Österreich Freundschaften zu anderen Asylwerbern, seinem Unterkunftgeber und Mitgliedern seiner Gemeinde knüpfen.

Zwischen dem Erst- und Zweitbeschwerdeführer besteht eine besonders enge persönliche Bindung.

Bereits in Afghanistan hat der zum damaligen Zeitpunkt noch minderjährige Erstbeschwerdeführer gemeinsam mit seiner Mutter und seinen Geschwistern im Haus des Zweitbeschwerdeführers gelebt, nachdem sein Vater, der Bruder des Zweitbeschwerdeführers, nach einer Reise verschwunden und nicht mehr zurückgekehrt ist.

Der Erstbeschwerdeführer hat den Zweitbeschwerdeführer bei seiner Arbeit als LKW-Fahrer unterstützt.

Der Erst- und Zweitbeschwerdeführer sind gemeinsam aus Afghanistan ausgereist.

Dem Zweitbeschwerdeführer wurde im April 2018 die Obsorge für den damals noch minderjährigen Erstbeschwerdeführer übertragen und hatte er die Obsorge bis zum Erreichen der Volljährigkeit des Erstbeschwerdeführers im Jänner 2021 inne.

Der Erst- und Zweitbeschwerdeführer leben derzeit im gemeinsamen Haushalt.

Der Zweitbeschwerdeführer übernimmt die Rolle eines Vaters für den Erstbeschwerdeführer, er führt den gemeinsamen Haushalt, kocht für den Erstbeschwerdeführer und unterstützt den Erstbeschwerdeführer in allen Lebenslagen.

Er stellt auch eine wichtige mentale Stütze für den Erstbeschwerdeführer dar.

Deshalb war es dem Erstbeschwerdeführer möglich, erfolgreich eine Lehre in Österreich zu absolvieren und bereits über eine weit fortgeschrittene Integration, auch in sprachlicher Hinsicht, zu verfügen.

Umgekehrt unterstützt der Erstbeschwerdeführer den Zweitbeschwerdeführer beim Erlernen der deutschen Sprache.

1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Zweitbeschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

1.4.1. Da dem Erstbeschwerdeführer der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden ist und die befristete Aufenthaltsberechtigung zuletzt bis 07.05.2023 verlängert wurde, entfällt hinsichtlich des Erstbeschwerdeführers eine Auseinandersetzung mit einer allfälligen Rückkehr in den Herkunftsstaat.

1.4.2. Dem Zweitbeschwerdeführer könnte bei einer Rückkehr in die Provinz Ghazni aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

Die Ehefrau und vier Kinder des Zweitbeschwerdeführers wohnen derzeit in Pakistan. Der Zweibeschwerdeführer hat regelmäßig Kontakt zu seiner Ehefrau. Der Aufenthaltsort der Mutter und der Schwestern des Zweitbeschwerdeführers ist unbekannt.

Der Zweitbeschwerdeführer und seine Familie haben vor der Ausreise des Zweitbeschwerdeführers aus Afghanistan ein Eigentumshaus sowie landwirtschaftliche Grundstücke im Heimatdorf in Afghanistan besessen.

Der Zweitbeschwerdeführer unterstützt seine Familie derzeit finanziell nicht.

Die Familie des Zweitbeschwerdeführers kann ihn bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht finanziell unterstützen.

Der Zweitbeschwerdeführer kann Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.

Der Zweitbeschwerdeführer ist anpassungsfähig und kann einer regelmäßigen Arbeit nachgehen.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in der Stadt Mazar-e Sharif kann der Zweitbeschwerdeführer grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen und in Mazar-e Sharif einer Arbeit nachgehen und sich selber erhalten.

Es ist dem Zweitbeschwerdeführer möglich, nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in der Stadt Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

Die COVID-19-Pandemie stellt für den Zweitbeschwerdeführer kein Hindernis dar. Der Zweitbeschwerdeführer ist gesund und hat keine spezifischen Vorerkrankungen, zählt deshalb nicht zu den spezifischen Risikogruppen betreffend COVID-19. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Zweitbeschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

1.5. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der aktualisierten Version 4 samt Kurzinformation vom 19.07.2021 (LIB)

-        UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (UNHCR)

-        EASO Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO)

-        Homepage der WHO: https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/question-and-answers-hub/q-a-detail/coronavirus-disease-covid-19 abgerufen am 29.07.2021 und https://covid19.who.int/region/emro/country/af, abgerufen am 29.07.2021 (WHO)

-        Arbeitsübersetzung Landinfo Report "Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne" vom 23.08.2017 (Landinfo 1)

1.5.1. Allgemeine Sicherheitslage (LIB)

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen.

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil. Mehrere Teile der wichtigsten Transitrouten sind umkämpft, wodurch Distriktzentren bedroht sind. Seit Februar 2020 haben die Taliban ein hohes Maß an Gewalt gegen die ANDSF (Afghan National Defense Security Forces) aufrechterhalten, vermeiden aber gleichzeitig Angriffe gegen Koalitionstruppen, welche in der Nähe von Provinzhauptstädten stationiert sind - wahrscheinlich um das US-Taliban-Abkommen nicht zu gefährden.

Die Umsetzung des US-Taliban-Abkommens, angefochtene Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen, regionale politische Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und dem Iran, Diskussionen über die Freilassung von Gefangenen, Krieg und die globale Gesundheitskrise COVID-19 haben laut dem Combined Security Transition Command-Afghanistan (CSTC-A) das zweite Quartal 2020 für die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) zum "vielleicht komplexesten und herausforderndsten Zeitraum der letzten zwei Jahrzehnte" gemacht.

Zwischen dem 1.1.2021 und dem 31.3.2021 dokumentierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 1.783 zivile Opfer (573 Tote und 1.210 Verletzte). Der Anstieg der zivilen Opfer im Vergleich zum ersten Quartal 2020 war hauptsächlich auf dieselben Trends zurückzuführen, die auch im letzten Quartal des vergangenen Jahres zu einem Anstieg der zivilen Opfer geführt hatten - Bodenkämpfe, improvisierte Sprengsätze (IEDs) und gezielte Tötungen hatten auch in diesem vergleichsweise warmen Winter extreme Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung.

Drei Ministerien verantworten die Sicherheit in Afghanistan: Das afghanische Innenministerium (Afghanistan’s Ministry of Interior - MoI), das Verteidigungsministerium (Ministry of Defense - MoD) und der afghanische Geheimdienst (NDS). Das Innenministerium ist primär für die interne Ordnung zuständig, dazu zählt auch die ANP (Afghan National Police) und die ALP (Afghan Local Police). Die ANA (Afghanische Nationalarmee) untersteht dem Verteidigungsministerium und ist für die externe Sicherheit zuständig, ihre primäre Aufgabe ist jedoch die Bekämpfung der Aufständischen innerhalb Afghanistans. Das National Directorate of Security (NDS) fungiert als Geheimdienst und ist auch für die Untersuchung von Kriminalfällen zuständig, welche die nationale Sicherheit betreffen. Die Ermittlungsabteilung des NDS betreibt ein Untersuchungsgefängnis in Kabul. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden teilweise von US-amerikanischen bzw. Koalitionskräften unterstützt.

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität.

1.5.1.1. Aktuelle Entwicklungen und Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft (LIB – Stand KI 19.07.2021)

Seit dem Beginn des Abzugs der US-Truppen und anderer Koalitionskräfte am 1.5.2021 kam es zu mehr Kampfhandlungen als in den Monaten zuvor. Nach Einschätzung des Long War Journal vom 13.7.2021 kontrollieren die Taliban 223 der 407 Distrikte in Afghanistan. Am 3.6.2021 waren es noch 90 Distrikte. Das Afghan Analysts Network schätzt, dass sich mit Stand 16.7.2021 229 Distriktzentren in den Händen der Taliban befinden. Nur in vier Provinzen sind die Distriktzentren noch vollständig in Regierungshand: Kabul, Panjshir, Kunar und Daikundi. Einige Gebiete konnten von der Regierung zurückerobert werden.

Wichtige Grenzübergänge zu Turkmenistan und Iran, beide in der Provinz Herat sowie zu Usbekistan in der Provinz Balkh, wurden im Juli durch die Taliban erobert. Berichten zufolge haben die Taliban außerdem die Kontrolle über den afghanisch-pakistanischen Grenzort Spin Boldak.

Anfang Juli flohen mehr als 1.000 afghanische Sicherheitskräfte über die Grenze nach Tadschikistan, als sie von den Taliban attackiert wurden. Turkmenistan hat Anfang Juli begonnen, schwere Waffen, Hubschrauber und andere Flugzeuge näher an die Grenze zu Afghanistan zu verlegen, und in der Hauptstadt werden Reservisten in Alarmbereitschaft versetzt.

Truppenabzug

Nach Angaben von US-Präsident Biden wird der Truppenabzug am 31.8.2021 abgeschlossen sein. Er verpflichtete sich, Tausende von afghanischen Übersetzern und ihre Familien, die an der Seite der USA arbeiteten, schnell zu evakuieren, und sagte, dass der Zeitplan für die Bearbeitung spezieller Einwanderungsvisa "dramatisch beschleunigt" worden sei. Und er sagte, die USA würden weiterhin zivile und humanitäre Hilfe leisten und sich auch für die Rechte von Frauen und Mädchen einsetzen.

Anfang Juli wurde die Bagram-Airbase in der Provinz Parwan an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben.

Angriff auf Zivilisten / gezielte Tötungen

Es kommt weiterhin zu Angriffen auf und gezielten Tötungen von Zivilisten. Seit dem Beginn der Friedensgespräche in Doha im vergangenen Jahr sind vor allem Mitarbeiter des Gesundheitswesens, humanitäre Organisationen, Menschenrechtsverteidiger und Journalisten Ziel einer Welle von gezielten Tötungen gewesen.

Laut Berichten war der Juni 2021 der tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan.

1.5.2. Allgemeine Wirtschaftslage (LIB)

Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt. Die Grundversorgung ist für große Teile der Bevölkerung eine tägliche Herausforderung, dies gilt in besonderem Maße für Rückkehrer. Diese bereits prekäre Lage hat sich seit März 2020 durch die COVID-19-Pandemie stetig weiter verschärft. Das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten bleibt eklatant. Während in ländlichen Gebieten bis zu 60% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben, so leben in urbanen Gebieten rund 41,6% unter der nationalen Armutsgrenze.

Die afghanische Wirtschaft stützt sich hauptsächlich auf den informellen Sektor (einschließlich illegaler Aktivitäten), der 80 bis 90 % der gesamten Wirtschaftstätigkeit ausmacht und weitgehend das tatsächliche Einkommen der afghanischen Haushalte bestimmt. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft.

Die Schaffung von Arbeitsplätzen bleibt eine zentrale Herausforderung für Afghanistan. Der Arbeitsmarkt ist durch eine niedrige Erwerbsquote, hohe Arbeitslosigkeit sowie Unterbeschäftigung und prekäre Arbeitsverhältnisse charakterisiert. 80% der afghanischen Arbeitskräfte befinden sich in „prekären Beschäftigungsverhältnissen“, mit hoher Arbeitsplatzunsicherheit und schlechten Arbeitsbedingungen, wobei schätzungsweise 16% der prekär Beschäftigten Tagelöhner sind. Nach Angaben der Weltbank ist die Arbeitslosenquote innerhalb der erwerbsfähigen Bevölkerung in den letzten Jahren zwar gesunken, bleibt aber auf hohem Niveau und dürfte wegen der COVID-19-Pandemie wieder steigen ebenso wie die Anzahl der prekär beschäftigten, auch wenn es keine offiziellen Regierungsstatistiken über die Auswirkungen der Pandemie auf den Arbeitsmarkt gibt.

Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Es gibt einen großen Anteil an Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen, was auf das hohe Maß an Informalität des Arbeitsmarktes hinweist, welches mit der Bedeutung des Agrarsektors in der Wirtschaft einhergeht (LIB, Kapitel 23.3).

Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos - Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Während Frauen am afghanischen Arbeitsmarkt eine nur untergeordnete Rolle spielen, stellen sie jedoch im Agrarsektor 33% und im Textilbereich 65% der Arbeitskräfte.

Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle. Ohne Netzwerke, ist die Arbeitssuche schwierig. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten; dabei soll der persönliche Lebenslauf zur Beratung mitgebracht werden. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang - als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft. Rückkehrende sollten auch hier ihren Lebenslauf an eine der Organisationen weiterleiten, woraufhin sie informiert werden, inwiefern Arbeitsmöglichkeiten zum Bewerbungszeitpunkt zur Verfügung stehen. Unter Leitung des Bildungsministeriums bieten staatliche Schulen und private Berufsschulen Ausbildungen an.

Ungelernte Arbeiter erwirtschaften ihr Einkommen als Tagelöhner, Straßenverkäufer oder durch das Betreiben kleiner Geschäfte. Der Durchschnittslohn für einen ungelernten Arbeiter ist unterschiedlich, für einen Tagelöhner beträgt er etwa 5 USD pro Tag. Während der COVID-19-Pandemie ist die Situation für Tagelöhner sehr schwierig, da viele Wirtschaftszweige durch die Sperr- und Restriktionsmaßnahmen im Zusammenhang mit COVID-19 negativ beeinflusst wurden. Kleine und große Unternehmen boten in der Regel direkte Arbeitsmöglichkeiten für Tagelöhner.

Die Miete für eine Wohnung im Stadtzentrum von Kabul liegt durchschnittlich zwischen 200 USD und 350 USD im Monat. Für einen angemessenen Lebensstandard muss zudem mit durchschnittlichen Lebenshaltungskosten von bis zu 350 USD pro Monat (Stand 2020) gerechnet werden. Auch in Mazar-e Sharif stehen zahlreiche Wohnungen zur Miete zur Verfügung. Dies gilt auch für Rückkehrer. Die Höhe des Mietpreises für eine drei-Zimmer-Wohnung in Mazar-e Sharif schwankt unter anderem je nach Lage zwischen 100 USD und 300 USD monatlich. Einer anderen Quelle zufolge liegen die Kosten für eine einfache Wohnung in Afghanistan ohne Heizung oder Komfort, aber mit Zugang zu fließenden Wasser, sporadisch verfügbarer Elektrizität, einer einfachen Toilette und einer Möglichkeit zum Kochen zwischen 80 USD und 100 USD im Monat. Es existieren auch andere Unterbringungsmöglichkeiten wie Hotels und Teehäuser, die etwa von Tagelöhnern zur Übernachtung genutzt werden. Auch eine Person, welche in Afghanistan über keine Familie oder Netzwerk verfügt, sollte in der Lage sein, dort Wohnraum zu finden - vorausgesetzt die Person verfügt über die notwendigen finanziellen Mittel. Private Immobilienunternehmen in den Städten informieren über Mietpreise für Häuser und Wohnungen.

Wohnungszuschüsse für sozial Benachteiligte oder Mittellose existieren in Afghanistan nicht.

Allgemein lässt sich sagen, dass die COVID-19-Pandemie keine besonderen Auswirkungen auf die Miet- und Kaufpreise in Kabul hatte. Die Mieten sind nicht gestiegen und aufgrund der momentanen wirtschaftlichen Unsicherheit sind die Kaufpreise von Häusern eher gesunken.

Betriebs- und Nebenkosten wie Wasser und Strom kosten in der Regel nicht mehr als 40 USD pro Monat. Abhängig vom Verbrauch können die Kosten allerdings höher liegen. Die Kosten in der Innenstadt Kabuls sind höher. In ländlichen Gebieten kann man mit mind. 50 % weniger Kosten für die Miete und den Lebensunterhalt rechnen.

Der afghanische Staat gewährt seinen Bürgern kostenfreie Bildung und Gesundheitsleistungen, darüber hinaus sind keine Sozialleistungen vorgesehen. Es gibt kein Sozialversicherungs- oder Pensionssystem, von einigen Ausnahmen abgesehen (z.B. Armee und Polizei). Es gibt kein öffentliches Krankenversicherungssystem. Ein eingeschränktes Angebot an privaten Krankenversicherungen existiert, jedoch sind die Gebühren für die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung zu hoch.

Ein Pensionssystem ist nur im öffentlichen Sektor etabliert. Berichten zufolge arbeitet die afghanische Regierung an der Schaffung eines Pensionssystems im Privatsektor. Private Unternehmen können für ihre Angestellten Pensionskonten einführen, müssen das aber nicht. Die weitgehende Informalität der afghanischen Wirtschaft bedeutet, dass die Mehrheit der Arbeitskräfte nicht in den Genuss von Pensionen oder Sozialbeihilfen kommt.

Nach einer Zeit mit begrenzten Bankdienstleistungen entstehen im Finanzsektor in Afghanistan schnell mehr und mehr kommerzielle Banken und Leistungen. Die kommerziellen Angebote der Zentralbank gehen mit steigender Kapazität des Finanzsektors zurück. Es ist mittlerweile auch relativ einfach, in Afghanistan ein Bankkonto zu eröffnen. Die Bank wird dabei nach Folgendem fragen: Ausweisdokument (Tazkira), zwei Passfotos und 1.000 bis 5.000 AFN als Mindestkapital für das Bankkonto. Geld kann auch über das Hawala System (Form des Geldtausches) transferiert werden. Dieses System funktioniert schnell, zuverlässig und günstig. Spezielle Dokumente sind nicht notwendig und der Geldtransfer ist weltweit möglich und wird von verschiedenen Bevölkerungsschichten verwendet.

1.5.3. Medizinische Versorgung (LIB)

Seit 2002 hat sich die medizinische Versorgung in Afghanistan stark verbessert, dennoch bleibt sie im regionalen Vergleich zurück. Vor allem in den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit gab es deutliche Verbesserungen. Trotz der im Entwicklungsländervergleich relativ hohen Ausgaben für Gesundheit ist die Gesundheitsversorgung im ganzen Land sowohl in den von den Taliban als auch in den von der Regierung beeinflussten Gebieten generell schlecht. Zum Beispiel gibt es in Afghanistan 2,3 Ärzte und fünf Krankenschwestern und Hebammen pro 10.000 Menschen, verglichen mit einem weltweiten Durchschnitt von 13 bzw. 20.

Der Konflikt, COVID-19 und unzureichende Investitionen in die Infrastruktur treiben den Gesundheitsbedarf an und verhindern, dass die betroffenen Menschen rechtzeitig sichere, ausreichend ausgestattete Gesundheitseinrichtungen und -dienste erhalten. Gleichzeitig haben der aktive Konflikt und gezielte Angriffe der Konfliktparteien auf Gesundheitseinrichtungen und -personal zur periodischen, verlängerten oder dauerhaften Schließung wichtiger Gesundheitseinrichtungen geführt, wovon in den ersten zehn Monaten des Jahres 2020 bis zu 1,2 Mio. Menschen in mindestens 17 Provinzen betroffen waren.

90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan wird nicht direkt vom Staat erbracht, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die unter Vertrag genommen werden. Durch dieses Vertragssystem wird die primäre, sekundäre und tertiäre Gesundheitsversorgung bereitgestellt, Primärversorgungsleistungen auf Gemeinde- oder Dorfebene, Sekundärversorgungsleistungen auf Distriktebene und Tertiärversorgungsleistungen auf Provinz- und nationaler Ebene. Es mangelt jedoch an Investitionen in die medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während es in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken gibt, ist es für viele Afghanen schwierig, in ländlichen Gebieten eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen. Nach Berichten von UNOCHA haben rund zehn Mio. Menschen in Afghanistan nur eingeschränkten oder gar keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung.

Die Verfügbarkeit und Qualität der Basisversorgung ist durch den Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenten (insbesondere Hebammen), den Mangel an Medikamenten, schlechtes Management und schlechte Infrastruktur eingeschränkt. Darüber hinaus herrscht in der Bevölkerung ein starkes Misstrauen gegenüber der staatlich finanzierten medizinischen Versorgung. Die Qualität der Kliniken ist sehr unterschiedlich. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen.

Insbesondere die COVID-19-Pandemie offenbarte die Unterfinanzierung und Unterentwicklung des öffentlichen Gesundheitssystems, das akute Defizite in der Prävention (Schutzausrüstung), Diagnose (Tests) und medizinischen Versorgung der Kranken aufweist. Die Verfügbarkeit und Qualität der Basisversorgung ist durch den Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenten (insbesondere Hebammen), den Mangel an Medikamenten, schlechtes Management und schlechte Infrastruktur eingeschränkt. Darüber hinaus herrscht in der Bevölkerung ein starkes Misstrauen gegenüber der staatlich finanzierten medizinischen Versorgung. Die Qualität der Kliniken ist sehr unterschiedlich. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen.

Einige der Regional- und Provinzkrankenhäuser in den Großstädten wurden im Hinblick auf COVID-19 mit Test- und Quarantäneeinrichtungen ausgestattet. Menschen mit Anzeichen von COVID-19 werden getestet und die schwer Erkrankten im Krankenhaus in Behandlung genommen. Die Kapazität solcher Krankenhäuser ist jedoch aufgrund fehlender Ausrüstung begrenzt. In den anderen Provinzen schicken die Gesundheitszentren, die nicht über entsprechende Einrichtungen verfügen, die Testproben in die Hauptstadt und geben die Ergebnisse nach sechs bis zehn Tagen bekannt. Im Großteil der Krankenhäuser werden nur grundlegende Anweisungen und Maßnahmen empfohlen, es gibt keine zwingenden Vorschriften, und selbst die Infizierten erfahren nur grundlegende und normale Behandlung.

Neben dem öffentlichen Gesundheitssystem gibt es auch einen weitverbreiteten, aber teuren privaten Sektor. Trotz dieser höheren Kosten wird berichtet, dass über 60% der Afghanen private Gesundheitszentren als Hauptansprechpartner für Gesundheitsdienstleistungen nutzen. Vor allem Afghanen, die außerhalb der großen Städte leben, bevorzugen die private Gesundheitsversorgung wegen ihrer wahrgenommenen Qualität und Sicherheit, auch wenn die dort erhaltene Versorgung möglicherweise nicht von besserer Qualität ist als in öffentlichen Einrichtungen. Die Kosten für Diagnose und Behandlung variieren dort sehr stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden, was den privaten Sektor sehr vielfältig macht mit einer uneinheitlichen Qualität der Leistungen, die oft unzureichend sind oder nicht dem Standard entsprechen.

Nur eine begrenzte Anzahl von staatlichen Krankenhäusern in Afghanistan bietet kostenlose medizinische Versorgung an. Voraussetzung für die kostenlose Behandlung ist der Nachweis der afghanischen Staatsbürgerschaft durch einen Personalausweis oder eine Tazkira. Alle Bürger haben dort Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Allerdings gibt es manchmal einen Mangel an Medikamenten. Daher werden die Patienten an private Apotheken verwiesen, um verschiedene Medikamente selbst zu kaufen, oder sie werden gebeten, für medizinische Leistungen, Labortests und stationäre Behandlungen zu zahlen. Medikamente können auf jedem afghanischen Markt gekauft werden, und die Preise variieren je nach Marke und Qualität des Produkts. Die Kosten für Medikamente in staatlichen Krankenhäusern unterscheiden sich von den lokalen Marktpreisen.

Private Krankenhäuser befinden sich meist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar, und die medizinische Ausstattung ist oft veraltet oder nicht vorhanden. Eine Unterbringung von Patienten ist nur möglich, wenn sie durch Familienangehörige oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt werden. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf.

Die Patienten müssen für alle Medikamente bezahlen, außer für Medikamente in der Primärversorgung, die in öffentlichen Gesundheitseinrichtungen kostenlos sind. Für bestimmte Arten von Medikamenten ist ein Rezept erforderlich. Obwohl es in Afghanistan viele Apotheken gibt, sind Medikamente nur in städtischen Gebieten leicht zugänglich, da es dort viele private Apotheken gibt. In ländlichen Gebieten ist dies weniger der Fall. Auf den afghanischen Märkten sind mittlerweile alle Arten von Medikamenten erhältlich, aber die Kosten variieren je nach Qualität, Firmennamen und Hersteller. Die Qualität dieser Medikamente ist oft gering; die Medikamente sind abgelaufen oder wurden unter schlechten Bedingungen transportiert.

1.5.4. Ethnische Gruppen (LIB)

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht. Schätzungen zufolge sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen.

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimak, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen.

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen.

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10% der Bevölkerung aus. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazaradjat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben.

Viele Hazara leben unter anderem in Stadtvierteln im Westen der Stadt Kabul, insbesondere in Kart-e Se, Dasht-e Barchi sowie in den Stadtteilen Kart-e Chahar, Deh Buri , Afshar und Kart-e Mamurin.

Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten, auch bekannt als Jafari Schiiten. Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch. Ismailitische Muslime, die vor allem, aber nicht ausschließlich, Hazara sind, leben hauptsächlich in Kabul sowie den zentralen und nördlichen Provinzen Afghanistans.

Die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, hat sich grundsätzlich verbessert und Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen.

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Kernfamilie bzw. dem Klan. Sollte der dem Haushalt vorstehende Mann versterben, wird die Witwe Haushaltsvorständin, bis der älteste Sohn volljährig ist. Es bestehen keine sozialen und politischen Stammesstrukturen.

Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht. Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP (Islamischer Staat Khorasan Provinz) und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen - inklusive der schiitischen Hazara - an.

Während des gesamten Jahres 2020 setzte der ISKP seine Angriffe auf schiitische Gemeinschaften, vorwiegend Hazara, fort. Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart. Nach Angaben der schiitischen Gemeinschaft gab es trotz der Pläne keine Aufstockung der ANDSF-Kräfte; sie sagten jedoch, dass die Regierung Waffen direkt an die Wächter der schiitischen Moscheen in Gebieten verteilte. Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt. In Randgebieten des Hazaradjat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara.

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert. NGOs berichten, dass Polizeibeamte, die der Hazara-Gemeinschaft angehören, öfter als andere Ethnien in unsicheren Gebieten eingesetzt werden oder im Innenministerium an symbolische Positionen ohne Kompetenzen befördert werden.

1.5.5. Religionen (LIB)

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha´i und Christen machen weniger als 0,3% der Bevölkerung aus. Genaue Angaben zur Größe der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden. In Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan. Die muslimische Gemeinschaft der Ahmadi schätzt, dass sie landesweit 450 Anhänger hat, gegenüber 600 im Jahr 2017. Genaue Angaben zur Größe der Gemeinschaft der Ahmadi und der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden.

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben. Das Gesetz verbietet die Produktion und Veröffentlichung von Werken, die gegen die Prinzipien des Islam oder gegen andere Religionen verstoßen. Das neue Strafgesetzbuch 2017, welches im Februar 2018 in Kraft getreten ist, sieht Strafen für verbale und körperliche Angriffe auf Anhänger jedweder Religion und Strafen für Beleidigungen oder Verzerrungen gegen den Islam vor.

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsalierung gegenüber religiösen Minderheiten und reformerischen Muslimen behindert. Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung. Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung. Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen.

1.5.5.1. Schiiten (LIB)

Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 bis 19% geschätzt. Zuverlässige Zahlen zur Größe der schiitischen Gemeinschaft sind nicht verfügbar und werden vom Statistikamt nicht erfasst. Gemäß Vertretern der Religionsgemeinschaft sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90% von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Unter den Schiiten gibt es auch Ismailiten.

Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten. Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Vertreter der überwiegend schiitischen Hazara-Gemeinschaft sagen weiterhin, dass die Sicherheitsvorkehrungen der Regierung in den von Schiiten dominierten Gebieten unzureichend sind. Vertreter der Schiiten sagen, dass sie keine Erhöhung des Schutzes durch die Afghanischen Nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) festgestellt haben; sie sagen jedoch, dass die Regierung vor großen schiitischen Versammlungen direkt Waffen an die schiitische Gemeinschaft verteilt hat.

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Einige Schiiten haben weiterhin hochrangige Positionen in der Regierung inne, darunter der zweite Vizepräsident Sarwar Danish und eine Reihe von stellvertretenden Ministern, Gouverneuren und ein Mitglied des Obersten Gerichtshofs, aber anders als in den Vorjahren keine Positionen auf Kabinettsebene. Schiitische Führer erklären weiterhin, dass der Anteil der von Schiiten besetzten offiziellen Positionen nicht ihrer Einschätzung der Demographie des Landes entspreche, was sie auf die Marginalisierung von Minderheitengruppen durch die Regierung und das Fehlen eines unterstützenden sozialen Umfelds zurückführen. Sunnitische Mitglieder des Ulema-Rates erklären jedoch weiterhin, dass Schiiten in der Regierung überrepräsentiert seien, basierend auf sunnitischen Schätzungen des Anteils der Schiiten an der Bevölkerung. Drei ismailitische Muslime waren Mitglieder des Parlaments, einer weniger als 2019, und der Staatsminister für Frieden, Sadat Mansoor Naderi, ist ebenfalls ein ismailitischer Muslim. Führer der ismailitischen Gemeinschaft berichten weiterhin von Bedenken über den, wie sie es nennen, Ausschluss von Ismailis aus anderen Positionen der politischen Autorität.

Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25 bis 30%. Des Weiteren tagen regelmäßig rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern.

1.5.6. Allgemeine Menschenrechtslage (LIB)

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen engagiert sich politisch, kulturell und sozial und verleiht der Zivilgesellschaft eine starke Stimme. Diese Fortschritte erreichen aber nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Gerichten sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Afghanistan wurde 2017 erstmals zum Mitglied des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen für den Zeitraum 1.1.2018 - 31.12.2020 gewählt. Die Menschenrechte haben in Afghanistan eine klare gesetzliche Grundlage. Die 2004 verabschiedete afghanische Verfassung enthält einen umfassenden Grundrechtekatalog.

Korruption und begrenzte Kapazitäten schränken den Zugang der Bürger zu Justiz in Bezug auf Verfassungs- und Menschenrechtsverletzungen ein. In der Praxis werden politische Rechte und Bürgerrechte durch Gewalt, Korruption, Nepotismus und fehlerbehaftete Wahlen eingeschränkt. Die Regierung versäumt es weiterhin, hochrangige Beamte strafrechtlich zu verfolgen, die für sexuelle Übergriffe, Folter und die Tötung von Zivilisten verantwortlich sind. Beschwerden gegen Menschenrechtsverletzungen können an die Afghan Independent Human Rights Commission (AIHRC) gemeldet werden, die glaubwürdige Beschwerden überprüft und an die Generalstaatsanwaltschaft zur weiteren Untersuchung und Strafverfolgung weiterleitet. Innerhalb der Wolesi Jirga beschäftigen sich drei Arbeitsgruppen mit Menschenrechtsverletzungen: der Ausschuss für Geschlechterfragen, Zivilgesellschaft und Menschenrechte; das Komitee für Drogenbekämpfung, Rauschmittel und ethischen Missbrauch sowie der Justiz-, Verwaltungsreform- und Antikorruptionsausschuss.

Menschenrechtsverteidiger werden immer wieder sowohl von staatlichen, als auch nicht-staatlichen Akteuren angegriffen; sie werden bedroht, eingeschüchtert, festgenommen und getötet. Maßnahmen, um Menschenrechtsverteidiger zu schützen, waren zum einen inadäquat, zum anderen wurden Misshandlungen gegen selbige selten untersucht. Die weitverbreitete Missachtung der Rechtsstaatlichkeit sowie die Straflosigkeit für Amtsträger, die Menschenrechte verletzen, stellen ernsthafte Probleme dar. Zu den bedeutendsten Menschenrechtsproblemen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, Folter, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Unterdrückung von Kritik an Amtsträgern durch strafrechtliche Verfolgung von Kritikern im Rahmen der Verleumdungs-Gesetzgebung, Korruption, fehlende Rechenschaftspflicht und Ermittlungen in Fällen von Gewalt gegen Frauen, sexueller Missbrauch von Kindern durch Sicherheitskräfte, Gewalt durch Sicherheitskräfte gegen Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft sowie Gewalt gegen Journalisten.

Laut der afghanischen Verfassung (Artikel 29) sowie dem Strafgesetzbuch (Penal Code) und dem afghanischen Strafverfahrensrecht (Criminal Procedure Code) ist Folter verboten. Auch ist Afghanistan Vertragsstaat der vier Genfer Abkommen von 1949, des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) sowie des römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC). Die Regierung erzielt Fortschritte bei der Verringerung der Folter in einigen Haftanstalten, versäumt es jedoch, Mitglieder der Sicherheitskräfte und prominente politische Persönlichkeiten für Misshandlungen, einschließlich sexueller Übergriffe, zur Rechenschaft zu ziehen.

Es gibt zahlreiche Berichte über Folter und grausame, unmenschliche und erniedrigende Bestrafung durch die Taliban, ISKP und andere regierungsfeindliche Gruppen. UNAMA berichtet, dass zu den von den Taliban durchgeführten Bestrafungen Schläge, Amputationen und Hinrichtungen gehörten. Die Taliban hielten UNAMA zufolge Häftlinge unter schlechten Bedingungen fest und setzten sie Zwangsarbeit aus.

Die Todesstrafe ist in der Verfassung und im Strafgesetzbuch für besonders schwerwiegende Delikte vorgesehen. Das neue Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist, hat die Anzahl der mit Todesstrafe bedrohten Verbrechen von 54 auf 14 Delikte reduziert. Vorgesehen ist die Todesstrafe für Delikte wie Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Angriff gegen den Staat, Mord und Zündung von Sprengladungen, Entführungen bzw. Straßenraub mit tödlicher Folge, Gruppenvergewaltigung von Frauen u.a. Die Todesstrafe wird vom zuständigen Gericht ausgesprochen und vom Präsidenten genehmigt. Sie wird durch Erhängen ausgeführt. Unter dem Einfluss der Scharia hingegen droht die Todesstrafe auch bei anderen Delikten (z.B. Blasphemie, Apostasie, Ehebruch sog. „Zina“, Straßenraub). In der afghanischen Bevölkerung trifft diese Form der Bestrafung und Abschreckung auf eine tief verwurzelte Unterstützung. Dies liegt nicht zuletzt auch

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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