TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/8 L502 2166941-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 08.09.2021
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Entscheidungsdatum

08.09.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §55 Abs2
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch


L502 2166941-1/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Nikolas BRACHER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten durch die XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 13.07.2017, FZ. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 23.06.2021 zu Recht erkannt:

A)

1. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I, II und III, erster Satz, als unbegründet abgewiesen.

2. Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt III, zweiter Satz, stattgegeben und festgestellt, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen XXXX gemäß § 52 FPG iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig ist.

3. Gemäß § 55 Abs. 2 AsylG wird XXXX eine „Aufenthaltsberechtigung“ erteilt.

4. Spruchpunkt III, dritter Satz, und Spruchpunkt IV des Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (BF) stellte im Gefolge seiner unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 13.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 05.11.2015 erfolgte seine Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes. In der Folge wurde das Verfahren zugelassen.

3. Am 11.05.2017 wurde er beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zu seinem Antrag

auf internationalen Schutz niederschriftlich einvernommen. Er brachte dabei weitere Beweismittel in Vorlage, die in Kopie zum Akt genommen wurden.

4. Mit dem im Spruch genannten Bescheid des BFA vom 13.07.2017 wurde sein Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde sein Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak abgewiesen (Spruchpunkt II). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt III). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ihm eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt IV).

5. Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 20.07.2017 wurde ihm von Amts wegen gemäß § 52 BFA-VG ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren beigegeben.

6. Gegen den ihm durch Hinterlegung am 25.07.2017 zugestellten Bescheid wurde mit Schriftsatz seiner ehemaligen Vertreterin vom 02.08.2017 fristgerecht in vollem Umfang Beschwerde erhoben.

7. Mit 08.08.2017 langte die Beschwerdevorlage des BFA beim Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ein und wurde das gg. Beschwerdeverfahren der nunmehr zuständigen Abteilung des Gerichts zur Entscheidung zugewiesen.

8. Am 09.05.2019 langte im Wege des BFA die Übersetzung des irakischen Führerscheins des Beschwerdeführers beim BVwG ein.

9. Mit Eingabe seiner nunmehrigen Vertretung vom 18.06.2021 brachte er Beweismittel in Vorlage und beantragte die Einvernahme einer Zeugin.

10. Das BVwG führte am 23.06.2021 eine mündliche Verhandlung in der Sache des BF in dessen Anwesenheit und der seines Vertreters durch. Er legte im Zuge dessen mehrere Beweismittel vor, die zum Akt genommen wurden. Dabei wurden ihm auch Länderberichte zur aktuellen Lage im Herkunftsstaat zur Kenntnis gebracht und ihm Gelegenheit zur Abgabe einer Stellungnahme dazu eingeräumt, worauf er verzichtete.

11. Das BVwG erstellte aktuelle Auszüge aus den Datenbanken der Grundversorgungsinformation, des AJ-Web, des Melde- sowie des Strafregisters.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die Identität des BF steht fest. Er ist irakischer Staatsangehöriger und gehört der arabischen Volksgruppe sowie der sunnitischen Glaubensgemeinschaft an. Er ist ledig und kinderlos.

Er stammt aus XXXX , wo er geboren wurde und bis zur Ausreise bei seiner Familie lebte. Er hat in XXXX für zumindest zwei Jahre die Grundschule besucht und danach als Hilfsarbeiter gearbeitet.

Im Irak leben noch seine Eltern, zwei verheiratete Brüder und drei verheiratete Schwestern des BF. Eine weitere Schwester hält sich in Deutschland auf. Weiter leben noch mehrere Onkel und Tanten in XXXX . Der BF steht mit seiner Mutter in regelmäßigem telefonischen Kontakt.

Seine Familie besaß in XXXX ein eigenes Haus, welches im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den irakischen Sicherheitskräften und dem IS im Jahr 2017 zerstört wurde.

Seine Eltern leben inzwischen in XXXX . Eine seiner Schwestern lebt mit ihrem Ehegatten in XXXX , eine andere in XXXX und die dritte in XXXX . Einer seiner Brüder lebt in XXXX , wo er als „Sekretär“ in einem „Außenbüro“ des Bürgermeisters von XXXX tätig ist. Der andere am Rande von XXXX in einem angemieteten Wohnhaus, dieser arbeitet in einem Pharmazieunternehmen.

Der BF hat den Irak im Oktober 2015 mit dem PKW auf dem Landweg nach Syrien verlassen. Von Syrien ausgehend gelangte er in die Türkei, von wo aus er schlepperunterstützt auf eine griechische Insel übersetzte. Vorm griechischen Festland aus setzte er seine Reise über mehrere Länder bis nach Österreich fort, wo er nach unrechtmäßiger Einreise am 13.10.2015 den gg. Antrag auf internationalen Schutz stellte und sich seither aufhält.

1.2. Er bestreitet seinen Lebensunterhalt seit 29.10.2015 bis dato zum einen durch den Bezug von Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber.

Seit 01.05.2021 ist er zum anderen als Arbeiter in einem Gastronomiebetrieb geringfügig beschäftigt. Im Mai 2021 erwirtschaftete er durch seine Tätigkeit Einkünfte in Höhe von EUR XXXX brutto, im Juni 2021 waren es EUR XXXX .

Er schloss mit seinem aktuellen Dienstgeber einen Arbeitsvorvertrag für die Tätigkeit als Aushilfe bzw. Servicepersonal im Restaurantbetrieb im Fall eines legalen Aufenthalts im Bundesgebiet ab. Dabei wurde ein monatliches Bruttoeinkommen in Höhe von EUR XXXX für die wöchentliche Arbeitszeit von 45 Wochenstunden vereinbart.

Er verfügt über grundlegende Deutschkenntnisse, hat bislang jedoch keine Deutschprüfung abgelegt.

Er hat in Österreich zwar mehrere private Anknüpfungspunkte, hingegen hat er hier keine Verwandten. In seiner Freizeit besucht er ein Fitnessstudio.

Es waren keine sonstigen maßgeblichen Integrationsaspekte festzustellen

Er leidet an keinen gravierenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen und ist voll erwerbsfähig.

Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

1.3. Er hat den Irak nicht aufgrund individueller Verfolgung durch Mitglieder der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) verlassen und ist im Falle einer Rückkehr in den Irak auch nicht der Gefahr einer Verfolgung durch diese, durch irakische Staatsorgane oder durch Mitglieder seines Stammes ausgesetzt.

1.4. Er ist bei einer Rückkehr in den Irak auch nicht aus sonstigen individuellen Gründen oder aufgrund der allgemeinen Lage vor Ort einer maßgeblichen Gefährdung ausgesetzt und findet dort eine hinreichende Existenzgrundlage vor.

1.5. Sicherheitslage in Ninawa:

1.5.1. Die Provinz Ninawa (oder Ninive) liegt im Nordwesten des Irak. Sie grenzt an Syrien und die irakischen Provinzen Dahuk, Erbil (beide gehören zur KRI), Salah al-Din und al-Anbar. Ninawa ist mit 37 323 km2 die drittgrößte Provinz (8,6 % der Gesamtfläche Iraks). Die Hauptstadt der Provinz ist die nordöstlich gelegene Stadt Mossul.

Die Provinz umfasst neun Bezirke: Mossul, Tel Keppe, al-Shikhan, Akrê, Tal Afar, Sindschar, al-Ba??dsch, Hatra und al-Hamdaniya. Die Bezirke Akrê und al-Shikhan werden seit der Schaffung der Grünen Linie im Zusammenhang mit dem im Jahr 1991 zwischen Saddam und den Kurden geschlossenen Waffenstillstand von der KRG verwaltet.

Schätzungen zufolge hatte die Provinz Ninawa im Jahr 2019 3 828 197 Einwohner. Die Einwohnerzahl von Mossul wurde 2019 auf 1,630 Millionen geschätzt. Die zweitgrößte Stadt ist Tal Afar, die nordwestlich von Mossul gelegen ist. Weitere wichtige Städte sind Sindschar (Shingal) im Westen und al-Qayyarah im Süden.

Ninawa ist eine der irakischen Provinzen mit der größten ethnischen Vielfalt. Sunnitische Araber bilden die Mehrheitsbevölkerung, doch haben auch andere Gruppen Macht und Einfluss. So haben beispielsweise die Kurden in den Bezirken Akrê und al-Shikhan eine Vormachtstellung inne. In der Ninawa-Ebene im Osten und Nordosten von Mossul lebt der Großteil der in der Provinz ansässigen Christen und Schabak (dieses Gebiet umfasst größere Ölfelder). In Tal Afar leben überwiegend Turkmenen (sowohl Sunniten als auch Schiiten), während die Jesiden in Sindschar und ihrer Heiligen Stadt Lalisch in al-Shikhan die Mehrheit bilden.

Mossul ist ein wichtiger regionaler Verkehrsknotenpunkt: Es verfügt über direkte Straßenverbindungen nach Bagdad, Kirkuk, Erbil und Dahuk, über Tal Afar und die Grenzstadt Rabia im Norden nach Syrien und in die Türkei sowie über Sindschar im Westen nach Syrien.

Ein Bericht der IOM „Legacies of the Conflict on rural economies and communities in Sinjar and the Ninewa Plains“ (Altlasten des Konflikts für die Wirtschaft und die Gemeinschaften in Sindschar und der Ninawa-Ebene) vom November 2019 zeigt, dass sich die Wirtschaft in diesen ländlichen Gebieten nur mühsam von den Altlasten des ISIL erholt, denn es gab großen Schaden an der landwirtschaftlichen Infrastruktur und an den Viehbeständen, beispielsweise im Bezirk Sindschar. Aufgrund des gescheiterten Wiederaufbaus der Landwirtschaft ist die Arbeitslosigkeit in diesen Bezirken hoch, und 70 % der zurückkehrenden Binnenvertriebenen sind nicht erwerbstätig. Einige landwirtschaftliche Tätigkeiten sind in Sindschar wieder aufgenommen worden, jedoch nicht auf dem vor dem Konflikt bestehenden Niveau, als die Landwirtschaft der wichtigste Sektor in der Region war.

Nach Angaben der Deutschen Welle bemannten die schiitischen Milizen in Ninawa im August 2019 noch immer Kontrollpunkte in Städten; die gleiche Quelle sprach von Problemen an vielen Orten. Im Sommer 2019 blockierte die 30. PMU-Brigade eine Fernstraße östlich von Mossul und kam es zu einer bewaffneten Auseinandersetzung mit der irakischen Armee, die versuchte, die Kontrollpunkte zu übernehmen.

Nach Angaben von iMMAP sind bezüglich des Gefahrenausmaßes durch explosionsgefährliche Stoffe auf den Straßen in der Provinz Ninawa von Februar bis Ende Juni 2020 verschiedene Abschnitte der Hauptstraßen von Mossul nach Sindschar, Tal Afar (und zur syrischen Grenze), nach Dahuk, nach Erbil, in den Bezirk Makhmur und in die Provinz Sahlah al-Din als Straßen mit hohem Risiko in der Provinz zu bezeichnen. Die Straße von Mossul nach Sindschar sticht hier hervor, weil dort in diesem Zeitraum mehr als auf anderen Hauptstraßen immer wieder Hochrisiko-Abschnitte zu verzeichnen waren.

1.5.2. Hintergrund: Machtverhältnisse der Konfliktparteien und bewaffnete Akteure

Hintergrund des Konflikts

In Ninawa gingen der ISIL-Besatzung „Jahre des gewaltsamen Extremismus und des organisierten Verbrechens durch Milizengruppen [voraus], bei denen es sich um Vorläufer und/oder Gegner des IS handelte“. Aufgrund ihrer Lage in den umstrittenen Gebieten und ihrer ethnischen Vielfalt gilt die Provinz Ninawa als „langjähriges Zentrum des sunnitisch-arabischen Nationalismus im Irak“ und war einst der „Hauptstützpunkt von Al-Qaida im Irak“.

Im Juni 2014 wurde Mossul vom ISIL eingenommen und besetzt. Im Zuge der Angriffe des ISIL auf Sindschar, Zumar und die Ninawa-Ebene im August 2014 wurde innerhalb weniger Wochen fast eine Million Menschen vertrieben. Der Fall von Mossul im Juni 2014 und der Rückzug der kurdischen Streitkräfte aus weiten Teilen der Provinz im August 2014 führten dazu, dass der ISIL zahlreiche Minderheiten des Irak ins Visier nahm: Turkmenen, Christen, Jesiden, Schabak, Kaka‘i und andere Bevölkerungsgruppen wurden Opfer von Folter, öffentlichen Hinrichtungen, Kreuzigungen, Entführungen und sexueller Versklavung.

Der Kampf um Mossul dauerte mehr als neun Monate, und der Sieg über den ISIL wurde erst Anfang Juli 2017 offiziell verkündet. Dieser Kampf, und insbesondere sein zweiter Teil mit der Einnahme der historischen Altstadt im Westen Mossuls, war bislang die härteste Konfrontation zwischen dem ISIL und den Streitkräften der irakischen Regierung seit Beginn des Konflikts im Jahr 2014. Mossul – die zweitgrößte Stadt des Irak – wurde schwer beschädigt, und während der Feindseligkeiten wurden zahlreiche Zivilisten getötet. Die Angaben zur Zahl der zivilen Opfer reichen von 4 194 Toten und Verwundeten bis hin zu 9 000 bis 11 000 Toten. Einer Quelle zufolge könnten durch die massive Feuerkraft, die von den irakischen Sicherheitskräften, der internationalen Koalition und dem ISIL gegen die Stadt eingesetzt wurde, mehr als 40 000 Zivilisten ums Leben gekommen sein.

Viele der örtlichen Milizen und ihrer Gefolgschaften wurden von Minderheitengemeinschaften als Reaktion auf die Bedrohung durch den ISIL und die Tatsache gegründet, dass die irakische Armee und die Peschmerga ihre Posten im Zuge der ISIL-Offensive des Jahres 2014 aufgaben.

Nach der Zerschlagung des ISIL verübten die Aufständischen in Ninawa weiterhin zahlreiche Gewalttaten. Nach dem Verlust seiner territorialen Kontrolle in der Provinz führte der ISIL weiterhin asymmetrische Angriffe auf die ISF in Ninawa sowie in anderen Provinzen im nördlichen Zentralirak und in der zentralen Region durch.

Bewaffnete Akteure

Im Juli 2020 unterstand der Großteil der Provinz Ninawa der Kontrolle durch die irakische Regierung. Die KRG übte die Kontrolle über die Bezirke Akrê und al-Shikhan aus, einen Keil zwischen Dahuk und der syrischen Grenze und einen Streifen zwischen der Kontrolllinie von 2003 und Bashiqa.

Die wichtigsten der in der Provinz operierenden Sicherheitsakteure sind den folgenden Hauptkategorien zuzuordnen:

•        Irakische Sicherheitskräfte (ISF)

•        Volksmobilisierungseinheiten (PMU)

•        Kurdische Sicherheitskräfte

•        der KRG nahestehende Milizen

•        unabhängige Milizen

•        ausländische Streitkräfte

Irakische Sicherheitskräfte (ISF)

Die offiziellen ISF in Ninawa unterstehen dem Befehl des Einsatzkommandos Ninawa (Ninewa Operations Command, NOC); die einzige Ausnahme bildet der Anti-Terror-Dienst (CTS), der direkt der irakischen Regierung untersteht. Das NOC hat seinen Sitz im Osten von Mossul. Im Dezember 2019 wurden Präsenz und Aktivitäten der ISF gemeldet im östlichen und westlichen Teil von Mossul und der Ninawa-Ebene, Tal Afar, Baaj sowie in Hadar, Kairouan und allen westlichen Gebieten der Provinz an den Grenzen zu Syrien und im Südwesten in Richtung al-Anbar.

Anti-Terror-Dienst (Counter-Terrorism Service, CTS; jihaz mukafahat al-irhab)

Berichten zufolge war der CTS in der Provinz Ninawa präsent, und 2020 führten CTS-Einheiten Anti-Terror-Operationen in der Hatra-Wüste und im Machmur-Gebirge durch.

Irakische Armee (IA, Jayish)

Die irakische Armee zeigt in Ninawa eine starke Präsenz: Seit der Befreiung von Mossul dienen die 15. und 16. Infanteriedivision in der Provinz. Im Juni 2019 wurde der Kommandeur des Einsatzkommandos Ninawa, Generalmajor Najm Abdullah al-Jubouri, durch Generalmajor Nuam Abdul al-Zubai ersetzt, der zuvor an der Spitze des Einsatzkommandos Salah al-Din gestanden hatte. Im September 2020 stand Generalmajor Ismail Shihab al-Mahlawi an der Spitze des Einsatzkommandos Ninawa.

Irakischer Polizeidienst (Iraqi Police Service, IPS; örtliche Polizei)

Der IPS ist die in der Provinz tätige örtliche Polizei. Sie ist weniger militarisiert als die Bundespolizei, patrouilliert häufig in ungepanzerten Fahrzeugen und ist nur mit leichten Schusswaffen ausgerüstet. Die Polizei der Provinz Ninawa (shurta muhafiza Ninewa) ist für die täglichen Sicherheitsaufgaben zuständig und hat theoretisch den engsten Kontakt zur Bevölkerung. Ihre Beamten sind stets als Erste vor Ort und dienen als erste Verteidigungslinie gegen Terrorismus und Kriminalität. Aufgrund dessen „besteht für sie das größte Risiko, zur Zielscheibe von Anschlägen Aufständischer zu werden“. Sie werden vor Ort rekrutiert, was aber auch bedeutet, dass ihre Familien eher Opfer von Entführungen und Morden werden.

Nationaler Sicherheitsdienst (National Security Service, NSS; jihaz al-amn al-watni)

Der Nationale Sicherheitsdienst (NSS) ist der wichtigste Nachrichtendienst der Provinz, ist jedoch auch häufig an den Kontrollpunkten in der gesamten Provinz präsent, um Einzelpersonen zu identifizieren; darüber hinaus führt er Razzien, Verhaftungen und Befragungen durch. Seine Aktivitäten führten zu Zusammenstößen mit anderen Sicherheitskräften wie den in Mossul operierenden IA- und ISOF-Einheiten.

Irakischer Grenzschutz (haras hadud alIraq)

Der irakische Grenzschutz operiert in erster Linie an der syrischen Grenze im Westen von Ninawa, insbesondere in der Grenzstadt Rabia. Darüber hinaus ist er dafür zuständig, das Eindringen von ISIL-Kämpfern aus Syrien nach Ninawa zu verhindern, wird jedoch bei der Sicherung der abgelegenen Grenzregionen von PMU unterstützt.

Volksmobilisierungseinheiten (PMU)

Michael Knights äußerte in einer Analyse vom August 2019 die Vermutung, dass die Wüste im Westen unter dem Einfluss pro-iranischer Milizen steht, die der Kontrolle durch die Badr-Organisation unterliegen, dass aber die Gebiete rund um Tal Afar, Sindschar und die Ninawa-Ebene gemeinsam von der irakischen Armee und der Badr-Organisation kontrolliert werden. Die Vielzahl kleiner Brigaden in Ninawa untersteht offiziell dem PMF Einsatzkommando Ninawa unter Ali Kadhim al-Musawi, doch ist Ninawa, wie Michael Knights unterstrich, ein Gebiet, in dem örtliche und ortsfremde Milizen in ihrem eigenen Interesse handeln.

Im Dezember 2019 sollen Berichten zufolge PMU-Kräfte in zahlreichen Gebieten in Ninawa präsent und aktiv gewesen sein, darunter Tal Safuk, Mossul, West-Ninewa (Al-Qayrawan), Zummar, Rabia, Al-Sakar, Stadt und Region Tel Afar, Ninawa-Ebene und das Gebiet um Sindschar.

In der Ninawa-Ebene und im Osten der Stadt Mossul haben sich zwei vom zentralen Haschd-Kommando unterstützte örtliche Milizen wiederholt geweigert, Befehlen der irakischen Regierung zu gehorchen und von Christen bewohnte Gebiete zu verlassen. Die eine ist Liwa al-Shabak/Quwat Sahl Nineveh (Brigade 30), die andere ist die Babylon-Brigade (Brigade 50). Liwa al-Shabak (Brigade 30) rekrutiert in der örtlichen schiitischen Schabak-Gemeinschaft, während die Babylon-Brigade (Brigade 50) angeblich aus Christen besteht, doch sind nach Angaben von Michael Knights viele der Kämpfer Nicht-Christen aus Sadr City (Bagdad), aus Muthanna und Thi Qar. Eine andere Quelle wies darauf hin, dass die Babylon-Brigade (Brigade 50) zwar von einem Christen geführt wird, ihre einfachen Mitglieder aber vorrangig schiitische Araber und Schabak sind. Den Milizen ist vorgeworfen worden, Zivilpersonen an Kontrollpunkten zu schikanieren, zu plündern, die örtliche Bevölkerung einzuschüchtern und die Rückkehr von Binnenvertriebenen zu verhindern.

Darüber hinaus gibt es unter anderem die folgenden lokalen Gruppen:

•        Schutzeinheiten der Ninawa-Ebene (Ninewa Plains Protection Units, NPU): eine vorwiegend christliche Miliz. Obwohl sie offiziell zu den PMU gehört, operiert sie unabhängig von der PMU-Führung und untersteht sie unmittelbar dem NSS. Die NPU waren die einzigen assyrischen Kräfte, die an Operationen gegen den ISIL teilnehmen durften, und sie erhielten Ausbildung und eine gewisse Unterstützung von der US-geführten Joint Task Force – Operation Inherent Resolve. Nach der Befreiung der Ninawa-Ebene wurde die NPU der dominierende Faktor in Bartella, doch nahm der Wettbewerb mit der PMU-Brigade 30 (siehe weiter unten) aufgrund der Rückendeckung durch die Badr-Organisation an Umfang und Einfluss zu. Die NPU wurde von ihrem Konkurrenten überholt und kontrollierte laut dem Assyrian Policy Institute, das einen Artikel von AP zitiert, im Februar 2019 lediglich zwei Kontrollpunkte in Bartella.

•        Andere PMU, darunter die schiitisch-turkmenische Al-Haschd al-Turkmani, das jesidische Lalisch-Regiment (36. Brigade) und die sunnitische Ninawa-Garde (Haras Ninewa) waren Berichten zufolge in früheren Jahren ebenfalls in der Provinz präsent.

Zu den nicht-lokalen Gruppen gehörten:

•        Badr-Organisation, Asa’ib Ahl al?Haq und Kataib Hisbollah: Diese großen, nicht-lokalen PMU sind in Ninawa präsent und haben erheblichen Einfluss auf viele der kleineren lokalen Gruppen; aufgrund ihrer eingeschränkten Präsenz sind sie jedoch nicht in der Lage, Gebiete direkt zu kontrollieren. Diese iranischen Stellvertretergruppen sind das wichtigste Bindeglied zwischen der nationalen PMU-Dachorganisation und den lokalen schiitischen PMU. Ihre Rekrutierungsversuche in der örtlichen sunnitischen Bevölkerung waren weitgehend erfolglos. Obwohl sie nicht offen agieren, galten sie in der Provinz weiterhin als zentrale Akteure. Laut Michael Knights übt die Badr-Organisation die Kontrolle über die kleineren Gruppen in der westlichen Wüste über die Brigaden 28, 29 und 35 aus. Bei diesen Brigaden handelt es sich um Saraya Ansar al-Aqeeda (Brigade 28), Kata’ib Ansar al-Hujja (Brigade 29) und Quwat al-Shaheed al-Sadr (Brigade 35).

•        Saraya Ashura (Brigade 8): Steht Ammar al-Hakim nahe, der früher Vorsitzender des Obersten Islamischen Rates im Irak (ISCI) war.

•        Liwa Ali al-Akbar (Brigade 11): Diese Einheit ist Ayatollah Ali al-Sistani treu ergeben und verfügt im westlichen Ninawa (Tal Afar und Jazeera-Wüste) über eine deutliche Präsenz.

•        Quwat al-Shahid al-Sadr (Brigaden 15, 25, 35): Diese Einheit steht der schiitischen Dawa-Partei nahe.

•        Firqat al-Abbas al-Qitaliyah (Brigade 26): Steht dem Abbas-Schrein in Karbala und dem irakischen Verteidigungsministerium nahe.

•        Liwa al-Shabab al-Risali/Quwat Wa'ad Allah (Brigade 33): Steht den Sadristen nahe. Ist an mehreren Orten zwischen Mossul und der Westgrenze aktiv.

•        Kata'ib al-Imam Ali (Brigade 40): steht der Islamischen Bewegung Iraks nahe, pro-iranisch.

•        Liwa Ansar al-Marjiyah (Brigade 44): unter der Führung eines Vertreters von Ayatollah Sistani.

•        Liwa al Hussein (Brigade 53): aktiv im Gebiet Tal Afar, der Badr-Organisation nahestehend.

Stammesmobilisierungskräfte (Tribal Mobilization Forces, TMF; Haschd al-Asha’ari)

Laut einer einzigen Quelle vom August 2019 werden die sunnitischen Stammesmobilisierungskräfte in Ninawa „in Regionen und Dörfern in Mossul eingesetzt, darunter Tal Afar und Sindschar“. Nach Angaben von Inna Rudolf in einem Beitrag für die Century Foundation im Februar 2020 sind ungefähr 18 000 Stammesangehörige bei den PMU in Ninawa registriert.

Sicherheitskräfte der Regierung der Region Kurdistan-Irak

Peschmerga der DPK

Der US Congressional Research Service stellte fest, dass am 8. Juli 2020 die KRG die Kontrolle über die Bezirke Akrê und al-Shikhan ausübte, einen Keil zwischen Dohuk und der syrischen Grenze und einen Streifen zwischen der Kontrolllinie von 2003 und Bashiqa. Im Dezember 2019 waren Peschmerga-Kräfte in den Gebieten Nawran und Bashiqa sowie im Zertik-Gebirge und im Teilbezirk Faidah präsent.

Eine Reihe von der KRG nahestehenden Milizen, die in Ninewa operierten, darunter:

•        Verteidigungskraft Ezidikhans (Hêza Parastina Ezidkhane, HPE): Den im Zuge der im April 2018 von DIS/Landinfo in der KRI durchgeführten Erkundungsmission befragten Quellen zufolge sind die HPE und die Widerstandseinheit Sindschars (YBS) [die der PKK nahestehen soll] die beiden Sicherheitsakteure, die den größten Teil des Bezirks Sindschar kontrollieren. Die HPE „scheint innerhalb des relativ offenen PMU-Systems zu operieren“. Laut einem Bericht von Kayla Koontz vom Juni 2020 „koordiniert sich die HPE ganz offen mit dem irakischen Militär“.

•        Rojava Peschmerga: Laut einem Artikel der Jerusalem Post vom 31. August 2019 waren die Rojava Peschmerga auf den Straßen nahe Sindschar präsent.

•        Garde der Ninawa-Ebene (Ninewa Plains Guard Force, NPGF): Nach Angaben des Assyrian Policy Institute vom Juni 2020 spielt diese Gruppe für die Sicherheit nur ein kleine, auf Tel Eskof begrenzte Rolle und sind die meisten ihrer Männer nicht im aktiven Dienst.

Unabhängige Milizen

Widerstandseinheit Sindschars (Yekîneye?n Berxwedana ?engale?, YBS)

Die Widerstandseinheit Sindschars (YBS) ist eine in Sindschar aktive jesidische Gruppe mit Verbindungen zur PKK. Die jesidischen Einheiten sind in erster Linie im Gebiet um Sindschar stationiert. Sie haben dieselben Verbindungen wie die anderen Minderheiten-Milizen, insbesondere zur DPK, zu PMU und auch zur PKK. Die YBS haben von dem Rückzug der KRG nach dem kurdischen Referendum profitiert und sich an das irakische Militär und die PMU in der Region angelehnt. Seit dem Abzug der Peschmerga haben die YBS-Kräfte an Mitgliedern gewonnen und umfassen nunmehr 5 000 bis 6 000 Soldaten. Laut einem Bericht von Kayla Koontz für die International Review gehen die YBS in Abstimmung mit der irakischen Armee vor, die überwiegend in ländlichen Gebieten von Sindschar operiert, während die irakische Polizei und die YBS Sicherheitseinsätze innerhalb der Städte durchführen. Ferner arbeiten die irakische Polizei und YBS an Kontrollpunkten zusammen und sorgen für innere Sicherheit. Spannungen zwischen YBS und irakischem Militär wegen der Schmuggelaktivitäten der PKK und illegaler Grenzübertritte waren Ursache für einen Zusammenstoß zwischen der irakischen Armee und YBS-Einheiten im März 2019. Der Konflikt wurde schon bald durch ein Treffen zwischen YBS und Vertretern der irakischen Armee entschärft.

Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê, PKK)

Laut einem Bericht vom Juni 2020 bildet die PKK noch immer Bündnisse mit den YBS und politischen Parteien wie der Jesidischen Partei für Freiheit und Demokratie (BADI), und auf Demonstrationen gegen türkische Luftangriffe werden in Sindschar Fahnen und Banner von PKK und Öcalan gezeigt. Die gleiche Quelle berichtet jedoch auch, dass YBS-Einheiten seit ihrer Eingliederung in das irakische Militär über ihren Stützpunkten keine PKK-Fahnen mehr hissen. Auf einer Konfliktkarte vom Dezember 2019 wurde PKK-Präsenz rund um das Dorf Kocho südlich von Sindschar angezeigt. Die PKK wurde von der Europäischen Union in die Liste der an terroristischen Aktivitäten beteiligten Gruppen aufgenommen und gilt in der Türkei, den Vereinigten Staaten und Australien als terroristische Vereinigung.

Ausländische Sicherheitskräfte

Die drei wichtigsten ausländischen Akteure in Ninawa sind der Iran, die Türkei und die Internationale Koalition zur Bekämpfung des ISIL. Der Iran agiert über seine Quds-Brigaden, eine Abteilung der Iranischen Revolutionsgarden; die meisten ihrer Angehörigen sind in den wichtigsten schiitischen PMU in beratender und unterstützender Funktion tätig. Die Türkei ist in Form der türkischen Streitkräfte (TSK) präsent, die in der Nähe von Baschiqa ein Lager unterhalten (die Stadt selbst wird von den ISF kontrolliert). In den Jahren 2019 und 2020 flog die Türkei mehrere Luftangriffe auf Sindschar.

Am 19. März 2020 kündigten die von den USA geführte Koalition und das irakische Gemeinsame Einsatzkommando die Übergabe des al-Qayyarah Camp südlich von Ninawa und des Ninewa Operations Command Camp (unter anderem an andere Provinzen) an. Dem Center for Global Policy zufolge war der Abzug zwischen der Koalition gegen den ISIL und den irakischen Behörden schon Monate zuvor und nicht erst aufgrund der jüngsten Raketenangriffe auf diese Stützpunkte vereinbart worden. Aufgrund der Bedrohung durch COVID-19 unterbrachen Truppen aus den USA und anderen Mitgliedstaaten der Koalition ihre Ausbildungs- und Beratungsmissionen und planten die Rückkehr in ihre jeweiligen Länder.

ISIL Präsenz und Aktivität

Obwohl der ISIL keine territoriale Kontrolle in der Provinz hatte, verübte er in den Jahren 2019 und 2020 in Ninawa weiterhin asymmetrische Anschläge auf ISF und die Zivilbevölkerung.

Laut einer Analyse des Center for Global Policy vom Mai 2020 geriet der ISIL durch von den ISF und der US-geführten Koalition vom 7. Juli 2019 bis Ende des Jahres in Ninawa und benachbarten Provinzen durchgeführten Operation „Will of Victory“ unter Druck. Allerdings eröffneten die zunehmenden Spannungen zwischen den USA und Iran in Verbindung mit COVID-19 neue Chancen für die terroristische Gruppe: Der Abzug von US-Beratern aus den Hauptquartieren an der Front behinderte die Koordinierung der Nachrichtendienste der Koalition und ihrer Unterstützung aus der Luft mit den irakischen Streitkräften.

In Ninawa benutzt der ISIL dünn besiedelte Gebiete als Versteck und als Ausgangspunkt für Anschläge, doch laut Knights/Almeida versucht er, relativ starke Stützpunkte in den ländlichen Gürteln größerer Städte aufzubauen, um wieder zu Anschlägen auf Menschenmengen zurückzukehren, wie die Verfasser vermuten. Auch Husham Al-Hashimi vertrat im Mai 2020 die Ansicht, der ISIL versuche, in ländlichen Gebieten rund um Städte wieder Fuß zu fassen, unter anderem in Tal Afar und Qayara. Nach Meinung von Al-Hashimi konzentrierte sich der ISIL darauf, „verlassene Dörfer in Nord- und Zentralirak zu besiedeln, wo natürliche geografische Hindernisse und das Gelände - wie Täler, Gebirge, Wüsten und ländliche Gebiete - konventionelle militärische Operationen erschweren“. Laut Al-Hashimi hatte der ISIL etwa 350-400 aktive Kämpfer in jeden Sektor, in dem er tätig war, darunter die Provinz Ninawa, die von ungefähr 400 inaktiven Kämpfern unterstützt wurden, die sich vorrangig um die Logistik kümmerten.

Wie die ICG im Oktober 2019 schrieb, war der ISIL hauptsächlich im südlichen und südwestlichen Teil der Provinz Ninawa aktiv (zusammen mit anderen Gebieten in anderen Provinzen). Husham Al-Hashimi befand im Dezember 2019 in einer Konfliktkarte, der ISIL sei weiterhin in Baaj präsent, südlich der Ninawa-Wüste. Die DIA stellte im März 2020 fest, dass der Bezirk Rutbah, die Hadr-Wüste und Ba’aj im Westen von Ninawa die Gebiete der Provinz sind, in denen der ISIL nach wie vor am aktivsten ist.

In einem im Mai 2020 veröffentlichten Artikel ermittelten Knights/Almeida elf Gebiete, in denen der ISIL in Ninawa aktiv ist (2018 waren es noch sechs Gebiete), darunter: Ost-Mossul; Ash Shura/Hammam al-Alil; Qayyarah; Sharqat; das Jurn-Dreieck; der Hatra/Irak-Türkei-Pipeline-Korridor südwestlich von Mossul; Badush/Atashana/West-Mossul; Tal Afar/Muhallabiyah; Tal Afar/Ayadhiyah; Sindschar/Ba’aj; Sunnislah-See/Jazeera.

1.5.3. Neueste Sicherheitstrends und Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung

Entwicklungen 2019-2020

Zu Sicherheitsvorfällen kam es 2019 überall in der Provinz: Neben Luftangriffen der irakischen Luftwaffe und und der Internationalen Koalition auf mutmaßliche Verstecke des ISIL erfolgten militärische Bodenoperationen von ISF und PMU gegen den ISIL sowie Anschläge des ISIL auf die ISF und auch auf die Zivilbevölkerung. Die türkische Luftwaffe griff Stellungen der kurdischen/jesidischen YBS in Sindschar an. Es gab ferner Demonstrationen gegen Korruption durch den abgesetzten Gouverneur und Proteste von Angehörigen einer PMF-Brigade gegen den ihnen erteilten Befehl, aus Mossul und der Ninawa-Ebene abzuziehen.

Michael Knights und Alex Almeida beurteilten den Aufstand des ISIL in Ninawa 2018 als „lückenhaft und ziemlich schwach”, stellten jedoch in der zweiten Jahreshälfte 2019 einen plötzlichen Anstieg bei der Zahl der Anschläge fest, die sich ungefähr auf das Doppelte des Vorjahres belief, und ihrer Auffassung nach hielt sich diese Zahl auch während des ersten Quartals 2020. Allerdings wiesen diese Autoren auch auf den großen Unterschied in den Anschlagszahlen zwischen deren Spitzenzeiten im Jahr 2013 und der Gegenwart hin. 2013 gab es in Ninawa 278 Anschläge pro Monat, drei Viertel davon in der Stadt Mossul, während im März 2020 nur 31 Anschläge verübt wurden. Ab der zweiten Jahreshälfte 2019 bis hinein in das Jahr 2020 wurden die Anschläge immer raffinierter. Laut Knights/Almeida erfolgten seltener nächtliche Überfälle, bei denen mukhtars getötet wurden, und die das Tigris-Tal 2018 terrorisierten. Nach Auffassung der Autoren verfügt der ISIL über eine größere Spanne von Anschlagszellen in der Provinz als im Vorjahr sowie einsatzbereite Anschlaggruppen in elf Gebieten im ersten Quartal 2020 im Vergleich zu nur sechs Ende 2018.

Die Zahl der von Joel Wing erfassten Vorfälle in den Jahren 2019 und 2020 bewegte sich in der gleichen Spanne, nämlich zwischen neun und 25 Anschlägen pro Monat, doch nahm nach Meinung von Knights/Almeida die Zahl der Anschläge schon gegen Ende 2018 stetig zu; dieser Trend entwickelte sich dann in der zweiten Jahreshälfte zu einem plötzlichen Anstieg mit 34,1 Anschlägen pro Monat, was fast dem Doppelten der Zahlen von 2018 entspricht. Der gleichen Quelle zufolge wurde diese Zahl von Anschlägen der Aufständischen im ersten Quartal 2020 gehalten, und die Verfasser sahen hierin ein relativ stabiles neues Niveau von Anschlägen (32,3 Anschläge des ISIL pro Monat während des ersten Quartals 2020). Das USDOD verzeichnete zwischen 25 und 30 ISIL-Anschlägen in Ninawa im Zeitraum Januar bis April 2020 und 24 von April bis Juni 2020.

Nach Auffassung von Joel Wing war Ninawa im Februar, März, April und Mai 2020 für die Aufständischen nur eine Nebenfront. Michael Knights und Alex Almeida erklärten in ihrer Analyse von 2019 und vom ersten Quartal 2020, dass der Anstieg bei den Anschlägen des ISIL in Ninawa seit dem Sommer 2019 und das anhaltend hohe Niveau im Jahr 2020 hauptsächlich auf eine steigende Zahl und eine bessere Qualität der Sprengfallen an Straßen zurückzuführen ist. Die gleichen Analysten sahen eine allmähliche Verbreitung ausgefeilterer Taktiken beim Einsatz von USBV, wie Ketten mehrerer USBV, um den Wirkungsbereich zu vergrößern, Aufstellen von Sprengfallen in Häusern, um Sicherheitskräfte umzubringen, und Nutzung von Anschlägen als Köder, um Einsatzkräfte in die Nähe von Sprengfallen an Straßen zu locken. Wie den Berichten über Vorfälle von ACLED und Joel Wing zu entnehmen ist, sind die meisten Opfer von Sprengfallen an Straßen Angehörige von Sicherheitskräften. Es gibt allerdings auch zivile Opfer.

Das geografische Muster der Angriffe der Aufständischen im Jahr 2019 zeigt, dass mit Ausnahme der unter kurdischer Kontrolle stehenden nordöstlichen Teile der Provinz alle Bezirke von Ninawa betroffen waren. Typische Hotspots für die ISIL-Aktivität waren die südlich von Mossul gelegenen Gebiete im Tigris-Tal und generell ländliche Gebiete in Reichweite der Gebiete, in denen der ISIL aktiv ist, wie weiter oben im Kapitel „ISIL-Kämpfer“ aufgeführt.

Die folgende Karte zeigt die Orte, an denen ACLED Vorfälle im Zeitraum 1. Januar bis 19. Juni 2020 registrierte. Die Karte gibt nicht alle Vorfälle in der Provinz wieder, sondern nur die betroffenen geografischen Gebiete. ACLED verzeichnete in diesem Zeitraum 66 Vorfälle. Die in Akrê in der Nordostecke der Provinz Ninawa registrierten Vorfälle waren türkische Luftangriffe:

Zu den im ersten Halbjahr 2020 verzeichneten verschiedenen Arten von Vorfällen gehörten reguläre bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Aufständischen des ISIL, einschließlich Schießereien oder Sprengstoffanschläge, Sicherheitsoperationen gegen Verstecke der Aufständischen in ländlichen und entlegenen Gebieten, aber auch in der Nähe von oder in besiedelten Orten. So gab es beispielsweise einen Anschlag der Aufständischen auf das Elektrizitätsnetz nahe Qayyarah im Mai 2020, bei dem drei Starkstrommasten getroffen wurden.

Der ISIL setzt unterschiedliche Taktiken ein, wie das Anbringen von USBV in Straßennähe, auf denen die Sicherheitskräfte patroullieren, oder das Abfeuern von Mörsergranaten auf besiedelte Gebiete oder deren Beschuss mit Kleinwaffen. Eine weitere Vorgehensweise der Aufständischen ist das Angreifen und Töten von Dorf-mukhtars. Auch wenn, wie Knights/Almeida unterstreichen, diese Form der Gewalt seltener als in früheren Jahren zu beobachten ist, kommt sie doch 2020 noch immer vor.

Auch 2020 werden noch Massengräber von Opfern des Konflikts mit dem ISIL zwischen 2014 und 2017 entdeckt, das größte dieser Gräber im Februar 2020 in der Region Tal Afar. Am 17. Mai 2020 gab der neue Premierminister Mustafa al-Kadhimi Anweisung, alle verfügbaren Ressourcen einzusetzen, um das Schicksal entführter und verschwundener Iraker zu klären. Die meisten Vermisstenanzeigen kommen aus Ninawa.

Luftangriffe gegen ISIL-Stellungen wurden von der irakischen Luftwaffe und der Internationalen Koalition geflogen, wohingegen die türkische Luftwaffe 2019 und 2020 Stellungen kurdischer und jesidischer Milizen mit Verbindungen zur PKK in den Bezirken Sindschar und Akre angriff. Bei den türkischen Luftangriffen gab es zivile Opfer.

Einige Beispiele für Sicherheitsvorfälle

Nachstehend eine nicht erschöpfende Auflistung von Sicherheitsvorfällen, die sich Berichten zufolge zwischen dem 1. Januar 2019 und dem 31. Juli 2020 in der Provinz Ninawa ereignet haben:

Anschläge des ISIL auf mukhtars:

•        Am 9. Mai 2019 wurde der mukhtar des Dorfes al-Lazaka im Bezirk Hammam al-Alil zusammen mit vier Mitgliedern seiner Familie von ISIL-Kämpfern ermordet. Zwei weitere Familienmitglieder wurden bei dem Anschlag verletzt.

•        Am 18. November 2019 wurde der mukhtar des Dorfes Ahlila in Ost-Mossul ermordet.

•        Am 26. Februar 2020 griffen ISIL-Kämpfer das Haus eines mukhtar in Al Muhallabiyah westlich von Mossul an, töteten dabei den mukhtar und verletzten seinen Sohn.

Bewaffnete Angriffe durch den ISIL:

•        Am 22. Dezember 2019 griff der ISIL das Dorf Al-Rusif im Bezirk Shoura (Süd-Mossul) an, tötete zwei Zivilisten und verletzte einen weiteren.

•        Am 10. Mai 2020 beschossen nicht identifizierte Bewaffnete mit einem Mörser das Haus eines Zivilisten in al Qayyarah südlich von Mossul und verletzten dabei drei Mitglieder des Haushalts.

USBV vom ISIL oder nicht identifizierten Tätern:

•        Am 22. Mai 2019 kam ein Zivilist bei der Explosion einer USBV im Bezirk al-Shoura in Mossul ums Leben.

•        Am 9. November 2019 explodierte eine USBV in einem Transportfahrzeug in dem Dorf Qaraj südwestlich von Mossul; durch die Explosion wurden drei Zivilpersonen verletzt.

•        Am 12. Februar 2020 kam bei der Explosion einer USBV des ISIL in dem Gebiet al-Rashidiyah nördlich von Mossul ein Zivilist ums Leben und wurden zehn weitere verletzt.

•        Am 3. März 2020 explodierte eine nicht identifizierte USBV in Tel Kayf in der Provinz Ninawa und verletzte zwei Zivilisten.

•        Am 7. Mai 2020 explodierte nahe dem Dorf Ghuzayl südlich von Mossul eine nicht identifizierte USBV, wobei zwei Mitarbeiter des Stromversorgers verletzt wurden.

Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften:

•        Am 8. November 2019 feuerten unbekannte Angreifer vier Raketen auf den Militärstützpunkt Qayyara ab. Die Sicherheitsdienste übten Vergeltung und töteten drei Angreifer.

•        Am 24. März 2020 töteten irakische Streitkräfte drei ISIL-Kämpfer mit Sprengstoffgürteln in einem Dorf in der Nähe von Qayyarah.

Luftangriffe:

•        Am 20. August 2019 meldete die Medienabteilung der Sicherheitskräfte den Tod von sechs ISIL-Kämpfern in einem Tunnel durch einen Luftangriff der Koalitionsstreitkräfte im Atshana-Gebirge westlich von Mossul.

•        Am 4. November 2019 bombardierte die türkische Luftwaffe Khanasur in Sindschar. Zwei YBS-Kämpfer wurden verwundet.

•        Am 15. Mai 2020 richtete sich ein Luftangriff der Streitkräfte der Internationalen Koalition gegen den ISIL in einem Wüstengebiet südwestlich von Hatra gegen eine Höhle des ISIL; sieben Kämpfer kamen dabei ums Leben.

•        Am 15. Juni 2020 flog die Türkei Luftangriffe auf mehrere Ziele in Irak, auch gegen Stellungen der Jesidischen Widerstandseinheiten (YBS) im Bezirk Sindschar. Nach Angaben von jesidischen Quellen wurden mindestens drei Angehörige der YBS verwundet.

Zahl der zivilen Opfer

Die nachstehende Tabelle gibt Auskunft über mit bewaffneten Konflikten zusammenhängende Vorfälle und zivile Opfer in der Provinz, die von der UNAMI für den Zeitraum 1. Januar 2019 - 31. Juli 2020 erfasst wurden.

Anzahl der sicherheitsrelevanten Störfälle

Im Referenzzeitraum verzeichnete ACLED 92 Kämpfe, 150 Vorfälle von ferngesteuerter Gewalt/Explosionen, 46 Fälle von Gewalt gegen Zivilpersonen, 4 Unruhen; das sind insgesamt 292 sicherheitsrelevante Vorfälle dieser Arten in der Provinz Ninawa, meist im Bezirk Mossul. Ferner wurden für den Referenzzeitraum 21 Demonstrationen in der Provinz Ninawa gemeldet. Die folgende Abbildung gibt Auskunft über die Entwicklung aller Arten sicherheitsrelevanter Vorfälle im Referenzzeitraum.

Fähigkeit des Staates zur Sicherung von Recht und Ordnung

Weitere Informationen über die Fähigkeit der irakischen Streitkräfte und der der KRG unterstehenden Streitkräfte als Akteure, die Schutz bieten, einschließlich der Fähigkeit, für Recht und Ordnung sorgen, sowie Informationen über die Integrität der Streitkräfte sind dem folgenden Bericht zu entnehmen: EASO-Informationsbericht über das Herkunftsland – Irak: Akteure, die Schutz bieten können (2018).

Den ISF und PMU, die Ninawa kontrollieren, wird vorgeworfen, dass sie ihre Macht missbrauchen, um durch illegale Aktivitäten Einnahmen zu erzielen, was wiederum ihre Kampfkapazitäten schwächt und für Unsicherheit in der örtlichen Gemeinschaft sorgt.

Im September 2019 gab es einen Aufsehen erregenden Fall, in dem Angehörige der 30. PMF-Brigade (Liwa al-Shabak) die Wagenkolonne des stellvertretenden Gouverneurs von Ninawa und eines Parlamentsabgeordneten an einem Kontrollpunkt außerhalb von Mossul anhielten. Vier Leibwächter wurden verletzt und festgenommen. Dies war einer von mehreren Vorfällen in Zusammenhang mit dieser Brigade, der bereits im August 2018 und nochmals im Juli 2019 von den zentralen Behörden befohlen worden war, aus Ninawa abzuziehen. Dieser Schabak-Miliz wurde vorgeworfen, Christen zu vertreiben, Eigentum zu beschlagnahmen, den Zugang zu Hilfsorganisationen zu verweigern und Geld an den von ihr bemannten Kontrollpunkten zu erpressen. Ferner wurde ihren Angehörigen Entführung und Vergewaltigung vorgeworfen. Im Juli 2019 protestierte diese Miliz zwei Tage lang gegen ihren Abzug und blockierte dabei die Straße zwischen Mossul und Erbil. Die 50. Brigade (Kata'ib Babilyun, Babylon-Brigade), eine sich selber als christlich bezeichnende Miliz, wurde wegen ähnlicher Taten verurteilt. Gegen die Anführer der beiden Milizen wurden von der US-Regierung Sanktionen verhängt.

Nach Angaben des Education for Peace in Iraq Center (EPIC) fand am 6. Februar 2020 eine Demonstration von Dutzenden Einwohnern der Ninawa-Ebene gegen die Präsenz von PMF und ihnen nahestehenden Milizen in Städten der Region statt. Die aus verschiedenen Gemeinschaften (Araber, Kurden, Schabak, Jesiden, Christen und Turkmenen, viele von ihnen Binnenvertriebene) stammenden Demonstranten beschuldigten die Milizen, die Vertreibung der Binnenvertriebenen zu verstetigen und illegale Abgaben auf den Verkehr auf den Straßen durch die Ebene zu erheben. Sie forderten die Regierung in Bagdad auf, die Milizen auszuweisen und Recht und Ordnung in der Region wiederherzustellen.

Am 21. Mai 2020 berichtete Shafaaq, der Krisenstab der Provinz Ninawa schließe aufgrund des gestiegenen COVID-19-Risikos alle Zugänge zur Provinz (mit Ausnahme von Lebensmittel- und Kraftstofftransporten sowie Personal im Gesundheitswesen und im Dienstleistungsbereich). Am 24. Juni 2020 verkündete Gouverneur Najm Al-Jubouri für die Provinz eine am 25. Juni beginnende dreitägige Ausgangssperre.

Am 29. Mai 2020 sagte ein Vertreter der Provinz Ninawa, die Sicherheitskräfte hätten nicht die vollständige Kontrolle über die internationalen und internen Grenzen der Provinz. Er beklagte den Getreideschmuggel und die Tatsache, dass auf einigen Straßen zwischen Ninawa und Kirkuk und Salah al-Din an einigen Kontrollpunkten illegale Gebühren erhoben werden. Der Vertreter forderte die Sicherheitskräfte auf, der Sache nachzugehen.

Schäden an der Infrastruktur und explosive Kampfmittelrückstände

Nach Angaben des Leiters des Minenräumdienstes der Vereinten Nationen (UNMAS) ist die Verseuchung mit Sprengstoffen in Mossul „von einem beispiellosen Ausmaß“. Gemeinsamen Schätzungen der Vereinten Nationen und des Irak zufolge entstanden bei der Zerstörung von Mossul etwa 8 Mio. Tonnen Trümmer. Diese sind hochgradig mit unterschiedlichen explosiven Sprengkörpern verseucht, unter anderem mit nicht gezündeten Sprengkörpern und Sprengfallen.

Artikeln in Medialine, Al-Jazeera und France24 ist zu entnehmen, dass der Wiederaufbau der zerstörten Stadtviertel von Mossul aufgrund des Umfangs der Schäden und der ausbleibenden finanziellen Unterstützung durch den irakischen Staat nur langsam vorankommt. Nach Aussage von Gouverneur Najm Al-Jubouri in einem Interview mit Al-Jazeera hat die erschreckende Bürokratie den Wiederaufbau verlangsamt. Die Mittel reichen nicht aus, aber darüber hinaus sind einige Mittel „aufgrund der Bürokratie wieder in die Staatskasse zurückgeflossen“. Nach Angaben beider Quellen ist die Bevölkerung äußerst unzufrieden.

Der fehlende Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen (Wasser. Strom, Bildung) ist für die ländlichen Gebiete der Ninawa-Ebene und von Sindschar ein Problem. 2019 schätzte die IOM, es würde jahrelanger Wiederaufbaubemühungen bedürfen, um das alte Ausmaß wirtschaftlicher Aktivität in diesen Regionen wieder zu erreichen. Zurückkehrende Bewohner dieser Gebiete mussten feststellen, dass ein Großteil ihrer Habseligkeiten einschließlich ihres Viehbestands zerstört oder gestohlen worden waren. Für Bauern in diesen Regionen war es schwierig, ihre Betriebe auf das Vorkriegsniveau zurückzuführen. Rund 85 % der Siedlungen in Sindschar sind von der Landwirtschaft abhängig.

Der Direktor der Stadtverwaltung von Tal Afar wies in einem Interview mit Kirkuk Now im Mai 2019 darauf hin, dass nach dem Krieg mit dem ISIL rund 35 % oder 5 000 Häuser im Bezirk Tal Afar beschädigt und ungefähr 600 völlig zerstört waren. In einem Artikel der türkischen Nachrichtenagentur TRT World schätzte der Bürgermeister von Tal Afar im August 2019, dass rund 20 % der Gebäude in der Stadt Tal Afar während des Konflikts beschädigt oder zerstört wurden, und dass in den beiden ersten Jahren nach der Befreiung vom ISIL nur sehr wenige Reparaturarbeiten durchgeführt worden waren.

Daten vom 6. April 2020 ist zu entnehmen, dass in den christlichen Siedlungen in der Ninawa-Ebene rund 54 % der zerstörten und beschädigten Häuser wiederhergestellt waren. In Tel Kayf wurden von 1 200 beschädigten Häusern nur 90 restauriert, während in Baschiqa bereits 545 von 580 beschädigten Häusern wiederhergestellt wurden. Im Juli 2019 beschuldigte das US-Finanzministerium Kämpfer der Miliz Liwa al-Shabak, in Baschiqa Grundstücke zu übernehmen, Häuser zu plündern und Einwohner einzuschüchtern. Laut Michael Knights wurde dadurch „die Wiederansiedlung von Christen und Arabern verhindert“.

UNMAS stellt im Februar 2020 fest: „in den beiden letzten Jahren haben UNMAS-Teams in Mossul und Umgebung mehr als 62 000 explosionsgefährliche Stoffe gefunden und entfernt.“ Auch der Bezirk Sindscha leidet unter einer starken Kontamination durch nicht explodierte Munition und vom ISIL vorsätzlich zurückgelassene USBV.

Vertreibung und Rückkehr

Per 30. Juni 2020 waren 324 078 994 Personen, die aus Ninawa vertrieben wurden, noch nicht zurückgekehrt; 319 128 von ihnen hielten sich innerhalb der Provinz auf. IOM-Daten vom Juni 2020 zufolge steht die Provinz Ninawa mit 1 807 170 Rückkehrern an erster Stelle der Provinzen mit Rückkehrern. Im Humanitarian Needs Overview 2020 des UNOCHA hieß es: „Aufgrund erzwungener und verfrühter Rückkehr und erzwungenen oder durch Nötigung erreichten Verlassens von Lagern und informellen Siedlungen in den Provinzen Ninawa, Salah Al-Din, al-Anbar, Kirkuk und Diyala kam es in erheblichem Umfang zu Sekundärvertreibung“ und „Beginnend im August 2019 führte eine Welle von von der Regierung veranlassten Sicherheitsüberprüfungen, Schließungen und Konsolidierungen von Lagern, mehrfach unter Einsatz von Zwang oder Nötigung, zu neuen Bevölkerungsbewegungen, bei denen es zu einer spürbaren Verringerung der Zahl der insbesondere in Lagern lebenden Einwohner und Rückkehrer in Ninawa kam.“

HRW merkte in seinem im Januar 2020 veröffentlichten Jahresbericht 2019 an, dass Sicherheitskräfte in Ninawa Überprüfungen in Lagern für Binnenvertriebene mit den Ziel durchführten, die Herkunft zu ermitteln und festzustellen, ob die Bewohner Verbindungen zum ISIL aufweisen. Im August und September 2019 wiesen die Behörden in Ninawa und Salah al-Din Hunderte von Binnenvertriebenen aus und beförderten sie mitunter in ihre Herkunftsgemeinschaften, obwohl Sicherheitsbedenken bestanden.

HRW stellte im Juli 2020 ferner fest, dass die KRG-Behörden Araber an der Rückkehr in fünf Dörfer nordöstlich von Rabia in dem unter kurdischer Kontrolle stehenden Gebiet hinderten. Nach Angaben örtlicher Quellen wurde rund 1 200 arabischen Familien die Rückkehr in diese Dörfer verwehrt. In einer Erklärung als Reaktion auf den HRW-Bericht stritten die KRG-Behörden ab, nur Araber an der Rückkehr zu hindern und behaupteten, diese Dörfer seien größtenteils in dem Konflikt mit dem ISIL in den Jahren 2016 und 2017 zerstört worden. Des Weiteren könnten die Einheimischen „aus Angst vor namenlosen bewaffneten Gruppen, wegen türkischer Luftangriffe, der Präsenz der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Einschränkungen der Bewegungsfreiheit aufgrund des Coronavirus“ nicht zurückkehren.

Die höchste Zahl an Rückkehrern im Zeitverlauf wurde im Bezirk Mossul verzeichnet, gefolgt von den Bezirken Tal Afar und al-Hamdaniya. Mit 1 034 430 Personen wurden in Mossul die weitaus meisten Rückkehrer erfasst. Der größte Teil der Rückkehrer hielt sich zuvor innerhalb der Provinz auf, die zweitgrößte Gruppe bildeten Rückkehrer aus den von der KRG verwalteten Provinzen Erbil und Dahuk. Rückkehrer aus den de facto von der KRG verwalteten Bezirken al-Shikhan und Akrê werden als Rückkehrer aus Gebieten innerhalb der Provinz erfasst.

In einem Bericht des Assyrian Policy Institute (API) vom Juni 2020 wird die Zahl der Rückkehrer in christliche Gebiete in der Ninawa-Ebene den vorherrschenden örtlichen Sicherheitsakteuren gegenübergestellt, und dem API zufolge ist für rückkehrende christliche Binnenvertriebene der einzige und wichtigste Faktor im Zusammenhang mit der Rückkehr noch immer die Sicherheitslage. Das API weist darauf hin, dass die Zahl der Rückkehrer in von der christlichen NPU gesicherte Gebiete deutlich höher ist als diejenige für Städte, die nicht von der NPU kontrolliert werden. Nach Aussage des Administrators für das Middle East Bureau bei USAID im September 2019 sind in Qaraqosh die Rückkehrerzahlen wegen der „relativ guten Sicherheitslage“ höher. Bei der gleichen Gelegenheit führte der Administrator von USAID aus, aus Sicherheitsgründen kämen derzeit keine Rückkehrer nach Sindschar und Batnaya.

Am 26. September 2019 äußerste sich diese Quelle wie folgt:

„Fehlende Sicherheit ist nach wie vor das Haupthindernis für eine Rückkehr. In Sindschar rekrutiert die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nicht kontrollierte, zwangsverpflichtete junge Jesiden für ihre Streitkräfte. An anderer Stelle in Ninawa kommt die größte Bedrohung von von Iran unterstützten Elementen der Volksmobilisierungskräfte, die lange nach der Niederlage des ISIS noch größere Gebiete der Ninawa-Ebene besetzen. Milizen wie die 30. und die 50. Brigade sind teils zur örtlichen Mafia geworden, teils iranische Stellvertreter. Sie terrorisieren die Familien, die mutig genug waren, zurückzukehren, erpressen örtliche Unternehmen und geloben öffentlich Iran die Treue. Nach Angaben chaldäischer Vertreter liegt aufgrund der Verfolgung durch diese Milizen der Anteil christlicher Rückkehrer in Städte wie Batanaya und Telkaif nur bei ein oder zwei Prozent. In Bartela wird die christliche Gemeinde von der 30. Brigade belagert, die immer wieder zu anti-christlicher Rhetorik greift und an den Einfahrten in die Stadt Plakate mit dem Bild des obersten Führers Irans anbringt, Ayatollah Ali Khameni.“

Die IOM stellte in einem Bericht vom April 2020 fest, dass zwischen September und Dezember 2019 fast 49 000 Personen Lager für Binnenvertriebene verlassen haben und wegen Schließung der Lager in Ninawa in einer anderen Unterkunft als einem Lager leben. 85 % von ihnen kehrten in ihre Herkunftsbezirke zurück, der Rest jedoch verharrte außerhalb von Lagern in der Vertreibung. Zwei Drittel dieser Neuankömmlinge sind in den Bezirken Al-Ba’aj und Hatra untergekommen. In Hatra kehrten die meisten Neuankömmlinge in ihre Herkunftsgebiete zurück und erfuhren nur wenige eine erneute Vertreibung. In Al-Ba’aj hingegen ging rund die Hälfte der gerade Zurückgekehrten in ihre Herkunftsgebiete zurück, während die andere Hälfte zu nicht in Lagern lebenden Binnenvertriebenen in Markaz Ba’aj, der Bezirkshauptstadt, wurden. Laut IOM haben die größten Probleme für die Rückkehrer in Markaz Al-Ba’aj mit

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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