TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/22 W218 2192374-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 22.09.2021
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Entscheidungsdatum

22.09.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W218 2192374-1/26E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Benedikta TAURER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Oberösterreich, vom 01.03.2018, Zl. XXXX , wegen §§ 3, 8, 10, 57 AsylG und §§ 46, 52, 55 FPG nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 18.02.2021, zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides vom 01.03.2018 wird gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. In Erledigung der Beschwerde gegen den Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides vom 01.03.2018 wird dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 22.09.2022 erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, reiste illegal in Österreich ein und stellte am 25.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. In der Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer am 26.09.2015 an, Staatsangehöriger von Afghanistan, ledig, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, mit muslimischem Glaubensbekenntnis, am XXXX im Iran geboren, in Afghanistan aufgewachsen und im Bezirk XXXX , Afghanistan wohnhaft gewesen zu sein.

Er habe bis zu seiner Ausreise in den Iran, ungefähr ein Jahr vor der Erstbefragung, in Afghanistan gelebt, danach sei er für 50 Tage im Iran gewesen und sei anschließend schlepperunterstützt bis nach Österreich gelangt.

Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Beschwerdeführer an, dass zirka ein Jahr vor der Ausreise aus Afghanistan in den Iran ein Freund seines Vaters, in der Provinz XXXX einen, dem Beschwerdeführer unbekannten Mann, getötet habe. Die Verwandten des Toten hätten Anzeige erstattet und der Täter habe zu diesen gesagt, dass der Vater des Beschwerdeführers der Mörder sei. Darum sei sein Vater mit ihm in den Iran geflüchtet.

3. Ein vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl veranlasstes medizinisches Sachverständigengutachten zur Altersfeststellung vom 19.06.2016 hat ergeben, dass das spätmöglichste „fiktive“ Geburtsdatum des Beschwerdeführers der XXXX sei.

4. Im Rahmen einer niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 15.11.2017 gab der Beschwerdeführer unter anderem an, dass er seit zirka fünf Jahren Epilepsie habe und dagegen Medikamente nehme. In seiner Heimat sei er ebenso in Behandlung gewesen. Im Herkunftsstaat kenne er keine Verwandten. Seine Eltern, vier Brüder und zwei Schwestern würden im Iran leben sowie sein Großvater mütterlicherseits und seine zwei Onkel. Er habe drei Jahre in Afghanistan eine Schule besucht, danach habe er als Teppichknüpfer gearbeitet und im Iran habe er in einer Hühnerfabrik als Hilfsarbeiter gearbeitet. Seine Eltern und Geschwister, bis auf einen Bruder, würden noch in der Hühnerfabrik arbeiten.

Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Beschwerdeführer an, dass sich in seinem Heimatdorf zwei Personen gestritten hätten. Einer davon sei mit Messerstichen getötet worden. Sein Vater habe die beiden trennen wollen und habe das Messer aus der Hand des anderen genommen. Die Polizisten hätten diesen und das Messer in Folge mitgenommen. Als sie Fingerabdrücke seines Vaters auf dem Messer festgestellt hätten, habe dieser angegeben, dass der Vater des Beschwerdeführers den anderen erstochen habe. Die Polizisten hätten daraufhin seinen Vater festgenommen. Der Vater des Getöteten hätte von der Regierung verlangt, dass der Beschwerdeführer getötet werde, da er selbst auch seinen Sohn verloren habe. Sein Vater habe der Regierung seine Grundstücke und Maschinen als Kaution angeboten und sei freigekommen. Daraufhin sei er mit dem Beschwerdeführer gemeinsam in den Iran geflüchtet.

5. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Dem Beschwerdeführer wurde gemäß §§ 57 und 55 AsylG ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und weiters gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei. Weiters wurde innerhalb des Spruches ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

6. Gegen diesen ordnungsgemäß zugestellten Bescheid erhob der Beschwerdeführerfristgerecht Beschwerde. Darin wurde zusammengefasst ausgeführt, dass die belangte Behörde den Ermittlungspflichten nicht im ausreichenden Maße nachgekommen sei und das Verfahren deshalb mit schwerwiegenden Mängeln belastet sei. Die Feststellungen zur Sicherheitslage in Afghanistan seien unvollständig. Eine Abschiebung sei aufgrund der prekären Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan nicht zulässig. Die Rückkehrhilfe sei minimal und ineffizient. Dem afghanischen Staat und den internationalen Organisationen fehle es an institutionellen und administrativen Kapazitäten. Der Mangel an sozialen Netzwerken habe weitere negative Konsequenzen für den Wiedereingliederungsprozess. Rückkehrende seien zudem mit einer sozialen Exklusion konfrontiert. Gerade Kabul sie besonders stark von der Ankunft von Rückkehrenden aus Pakistan betroffen, dadurch seien die Auswirkungen auf die Möglichkeiten der Existenzsicherung beträchtlich. Verwiesen wurde auf den Artikel von Friederike STAHLMANN „Überleben in Afghanistan – Zur humanitären Lage von Rückkehrenden und ihren Chancen auf familiäre Unterstützung“, wonach der Abzug der internationalen Truppen, die sich konstant verschlechternde Sicherheitslage sowie die fehlende Rechtsstaatlichkeit und weit verbreitete Korruption die Gründe für den dortigen wirtschaftlichen Einbruch seien. Aufgrund des mangelhaften Ermittlungsverfahrens habe die belangte Behörde somit unrichtige Feststellungen getroffen. Zur Lage der Hazara wurde auf die ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan „Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konfliktes zwischen Kuchis und Hazara“ verwiesen, wonach Hazara häufig starker Diskriminierungen, Zwangsrekrutierungen, Zwangsarbeit, Festnahmen, physischem Missbrauch und illegaler Besteuerung ausgesetzt sowie oft Opfer von Ermordungen und Entführungen durch die Taliban seien.

Der Beschwerdeführer habe glaubhaft und nachvollziehbar vorgebracht, dass er in Afghanistan verfolgt werde. Er erfülle mehrere Risikoprofile der UNHCR Richtlinien. Aufgrund seines langen Aufenthaltes im Iran und im Westen könne ihm außerdem eine politische Gesinnung unterstellt werden. Dem Beschwerdeführer stehe keine innerstaatliche Fluchtalternative offen, da er im ganzen Land Verfolgung zu befürchten habe.

Die Verwandten des Beschwerdeführers würden im Iran leben und nicht viel verdienen, Unterstützung könne er daher nicht erwarten. Das Grundstück in Afghanistan sei erst zur Hälfte abbezahlt und das darauf befindliche Objekt nicht bewohnbar. Die Situation in Kabul sei sehr unsicher, zusätzlich sei es dem Beschwerdeführer durch seine Epilepsie erschwert in Afghanistan alleine zu überleben sowie eine Wohnung und Arbeit zu finden. Es sei außerdem ungewiss, wie der Beschwerdeführer die Medikamente und die Behandlung bezahlen solle. Des Weiteren habe der Beschwerdeführer ein schützenswertes Privatleben in Österreich. Er lerne regelmäßig Deutsch und würde gerne als Koch arbeiten. Mehrmals habe er ehrenamtlich an einer Müllsammelaktion teilgenommen.

Der Beschwerdeführer beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung und legte weitere medizinische Unterlagen sowie die Auskunft der SFH-Länderanalyse „Afghanistan: Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung“ vor.

7. Mit Eingabe vom 15.06.2018 sowie 20.08.2018 legte der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Vertretung Integrationsunterlagen und medizinische Befunde vor.

8. Mit Eingabe vom 16.02.2021 legte der Beschwerdeführer weitere Integrationsunterlagen und medizinische Befunde vor und gab eine Stellungnahme ab, weiters brachte er Ergänzendes zur Epilepsie und Anpassungsstörung vor.

9. Das Bundesverwaltungsgericht hat über die eingebrachte Beschwerde am 18.02.2021 eine öffentliche, mündliche Verhandlung durchgeführt. Im Zuge dieser Verhandlung wurde Beweis erhoben durch Parteienvernehmung des Beschwerdeführers. Im Zuge der Verhandlung legte er weitere Integrationsunterlagen vor.

10. Mit Eingabe vom 02.03.2021 legte der Beschwerdeführer weitere medizinische Befunde vor, gab eine weitere Stellungnahme bezüglich seiner Epilepsie ab und beantragte die Einholung eines Gutachtens der länderkundigen Sachverständigen für Afghanistan Friederike STAHLMANN zum Beweis dafür, dass die für den Beschwerdeführer wegen seiner Epilepsie notwendigen Medikamente, Behandlungen und Kontrollen im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan nicht ausreichend verfügbar bzw. erschwinglich seien.

11. Mit Eingabe vom 08.06.2021 legte der Beschwerdeführer einen Arztbrief bezüglich einer Bandscheibenoperation des Beschwerdeführers vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara. Der Beschwerdeführer wurde im Iran geboren, er stammt aus der Provinz Bamyan, dem Distrikt XXXX , dem Dorf XXXX , lebte jedoch ab Kindesalter bis zu seiner Ausreise aus Afghanistan im Alter von 17 Jahren in der Provinz XXXX . Die Identität des Beschwerdeführers steht nicht fest. Der Beschwerdeführer hat drei Jahre die Schule in Afghanistan besucht, jedoch keine Berufsausbildung bekommen; er war als Teppichknüpfer in Afghanistan und als Hilfsarbeiter in einer Hühnerfabrik im Iran tätig.

Den Iran verließ er im Jahr 2015 aufgrund seines dortigen illegalen Aufenthaltes und der damit einhergehenden Probleme. Diesen Problemen im Iran kommt im gegenständlichen Verfahren keine Entscheidungsrelevanz zu.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer war in Afghanistan keiner konkreten individuellen Verfolgung ausgesetzt und wurden von ihm asylrelevante Gründe für das Verlassen des Heimatstaates nicht glaubhaft dargetan. Es ist nicht glaubhaft, dass dem Beschwerdeführer in Afghanistan aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung Verfolgung droht.

Der Beschwerdeführer hatte keine Probleme mit den Behörden im Heimatland.

Die Angaben des Beschwerdeführers zu den Fluchtgründen sind nicht glaubhaft und werden dem Verfahren nicht zugrunde gelegt.

Darüber hinaus gehende Verfolgungsbehauptungen – insbesondere aufgrund der Probleme, die sein Vater angeblich in Afghanistan gehabt hätte, da er vermeintlich falscherweise beschuldigt worden sei, jemanden getötet zu haben – erweisen sich als unvollständig, im Laufe des Verfahrens gesteigert und bereits im Kern nicht glaubhaft.

Der Beschwerdeführer ist in Afghanistan weder vorbestraft noch wurde er dort jemals inhaftiert und er hatte auch mit den Behörden des Herkunftsstaates keine Probleme. Er war in Afghanistan nie politisch tätig und gehörte dort keiner politischen Partei an. Eine politisch motivierte Verfolgung wird daher ausgeschlossen.

Festgestellt wird, dass der Beschwerdeführer auf Grund seines kurzen Aufenthaltes im Iran keine Lebenseinstellung angenommen hat, wodurch er in Afghanistan einer Verfolgung ausgesetzt wäre. Ebenso hat er durch seinen Aufenthalt in Österreich keinen derart ausgeprägten „westlichen“ Lebensstil angenommen, dass er deswegen in Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt wäre.

Festgestellt wird, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan, auch nicht aufgrund der Tatsache, dass er im Iran geboren ist sowie ein Jahr dort lebte bzw. sich zuletzt mehrere Jahre in Europa aufgehalten hat, psychischer und/oder physischer Gewalt oder anderen erheblichen Eingriffen ausgesetzt wäre.

Festgestellt wird, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan, auch aufgrund der Volksgruppenzugehörigkeit der Hazara und der Religionszugehörigkeit der Schiiten weder psychische noch physische Gewalt drohen würde.

1.3. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer lebt von der Grundversorgung, geht keiner legalen Beschäftigung nach, verfügt über keinerlei Familienangehörige und hat keine sonstigen intensiven sozialen Kontakte in Österreich. Der Beschwerdeführer ist strafgerichtlich unbescholten.

Er besuchte einige Deutschkurse, aber absolvierte keine Prüfung. Er kann sich nur in sehr einfachen Sätzen in Deutsch ausdrücken. Er absolvierte im Jahr 2019 die Übergangsstufe an der Höheren Bundeslehranstalt für wirtschaftliche Berufe, wurde jedoch nicht beurteilt. In seiner Freizeit nahm er an einem Fußballspiel „Familienväter vs. Jugendliche“ teil, des Weiteren schaut er gerne Filme, kocht und fährt mit dem Fahrrad.

Er wird von seinen Vertrauenspersonen als gutwillig, aufgeschlossen, freundlich, brav, ordentlich, zuverlässig, selbstständig, motiviert und bemüht beschrieben.

Der Beschwerdeführer hat seit zirka 10 Jahren generalisierte Epilepsie mit Grand Mal Anfällen (G40.3). Er nimmt dagegen regelmäßig Medikamente. Seit 15.10.2019 ist er zusätzlich in psychotherapeutischer Behandlung aufgrund einer Anpassungsstörung mit Angst und depressiver Reaktion (F43.22) gemischt mit generalisierter Epilepsie. In Österreich hatte er zuletzt 2018 einen epileptischen Anfall. Der Anfall von 2017 beruhte auf der Nichteinnahme der Morgenmedikation. Nach dem letzten Anfall im Jahr 2018 wurde die Dosis der Medikation erhöht. Im Dezember 2018 konsumierte der Beschwerdeführer gemeinsam mit drei bis vier Mitbewohnern drei Flaschen Vodka, obwohl der Beschwerdeführer wusste, dass Alkohol die Wirkung der Medikamente beeinflussen könnte. Er wurde wegen einer Alkoholintoxikation mit der Rettung ins Krankenhaus gebracht. Der Beschwerdeführer trinkt regelmäßig Alkohol, wodurch Symptome der Epilepsie selbstverschuldet verstärkt auftreten können. Der Beschwerdeführer hat die verschriebenen Medikamente bei früheren Anfällen nur unregelmäßig eingenommen. Mit der Einnahme der Medikamente geht es ihm gut. Der Beschwerdeführer wird laut den medizinischen Befunden in den nächsten Jahren weiterhin eine Therapie mit dem Antiepileptikum Depakine benötigen, jedoch kann nach 10 Jahren Anfallsfreiheit auch versucht werden, diese auszuschleichen. Wie der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 31.03.2021 zu entnehmen ist, ist Epilepsie in Afghanistan behandelbar und und es erwachsen ihm dadurch keine besonderen Nachteile in der Gesellschaft.

Des Weiteren hatte er Schmerzen in seinen Beinen aufgrund einer Lumboischialgie (L5 rechts ohne Paresen) sowie einen Bandscheibenvorfall (Discusextrusion L4/5 rechts nach kaudal sequestrierend) und wurde im Mai 2021 operiert.

1.4. Zur Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan

Der Beschwerdeführer ist ein junger, arbeitsfähiger Mann, der Dari, eine der Landessprachen Afghanistans, auf muttersprachlichem Niveau spricht. Der Beschwerdeführer war drei Jahre in einer Schule in Afghanistan und hat als Teppichknüpfer und trotz der Epilepsie als Hilfsarbeiter in einer Hühnerfabrik im Iran gearbeitet und konnte sich dadurch Geld ansparen, wie zum Beispiel € 2.500 für die Ausreise nach Europa. Obwohl er angibt, damals noch häufiger Anfälle gehabt zu haben, war es ihm dennoch möglich zu arbeiten. Auch wenn diese Tätigkeit in jungen Jahren erfolgte, so kann dennoch davon ausgegangen werden, dass er mit der Arbeitswelt vertraut ist und er sich aufgrund seines nun nicht mehr jugendlichen Alters und trotz seiner krankheitsbedingten Vorgeschichte, bei der es sich um keine lebensbedrohliche Krankheit handelt, in der Arbeitswelt zurechtfinden wird. Seine Erkrankung ist in Afghanistan behandelbar und die benötigten Medikamente sind verfügbar. Seine Familie lebt zwar im Iran, er hat jedoch Kontakt zu dieser und kann auch Unterstützung erhalten. Ebenso leidet eine seiner Schwestern an Epilepsie, diese lebt jedoch nach wie vor bei seiner Familie im Iran und ist aufgrund der Epilepsie nicht geflohen. Er ist in Afghanistan aufgewachsen und kennt dadurch die Sitten und Gebräuche seines Herkunftsstaats. Es ist daher davon auszugehen, dass er in Afghanistan Anschluss finden, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen wird können, und, dass er in keine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation geraten wird. Festgestellt wird, dass die aktuell vorherrschende Pandemie aufgrund des Corona-Viruses kein Rückkehrhindernis darstellt. Der Beschwerdeführer gehört mit Blick auf sein Alter und das Fehlen (chronischer) physischer Vorerkrankungen keiner spezifischen Risikogruppe betreffend COVID-19 an. Es besteht keine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine COVID-19-Erkrankung mit schwerwiegendem oder tödlichem Verlauf bzw. mit dem Bedarf einer intensivmedizinischen Behandlung bzw. einer Behandlung in einem Krankenhaus erleiden würde.

Wie sich aus den aktuellen Länderinformationen sowie aus der täglichen Berichterstattung in den Medien zu Afghanistan ergibt, hat sich mittlerweile die dortige allgemeine Sicherheitslage dramatisch verschlechtert. Der internationale Flughafen in Kabul kann nicht angeflogen werden, auch sind die bis vor kurzem als relativ sicher bewerteten Städte wie Herat und Mazar-e Sharif an die Taliban übergeben wodurch auch keine sichere Erreichbarkeit der größeren Städte in Afghanistan mehr gegeben ist. Eine innerstaatliche Fluchtalternative steht aktuell nicht zur Verfügung. Auch UNHCR geht nicht von der Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative aus. Eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Afghanistan würde somit derzeit eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK darstellen.

Dem Beschwerdeführer könnte bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheits- und Versorgungslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen

Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass IOM aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration für Afghanistan mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen musste.

1.5. Zur relevanten Situation in Afghanistan:

Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Im Hinblick auf die rezenten sicherheitsrelevanten Ereignisse, die in der Letztversion des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation noch nicht abgebildet sind, wurden aktuelle Medienberichte zur Lage in Afghanistan sowie die Sonderkurzinformation vom 20.08.2021 herangezogen.

Die den Feststellungen zugrundeliegenden Länderberichte sind in Bezug auf die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan aktuell, wobei nicht verkannt wird, dass sich die Lage in Afghanistan derzeit volatil und ungewiss darstellt.

Ergänzend wird Folgendes festgestellt:

Neuste Ereignisse – Integrierte Kurzinformationen

KI vom 20.08.2021, Aktuelle Entwicklungen und Informationen in Afghanistan

Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (bbc.com o.D.a).

Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (orf.at o.D.a).

Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.8.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die heute von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (bbc.com o.D.b).

Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (orf.at o.D.c).

Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach "Kollaborateuren". In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens 12 Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (bbc.com o.D.d). Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen auftraten. Dazu kamen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (zdf.de 18.8.2021).

Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzufuhren. Oberste Priorität der VN sei es die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (? Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN SR Verlängerung des UNAMA-Mandats am 17. September 2021 (VN 18.8.2021).

Die Anführer der Taliban

Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen Taliban- Führer auch nach außen auf. Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu’minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des Scharia- Gerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird. Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben. Vermutet wird, dass er die Taliban- Einsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jahrige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht. Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der Taliban- Regierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an. Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an (orf.at o.D.b; vgl. bbc.com o.D.c).

Stärke der Taliban-Kampftruppen

Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind (orf.at o.D.b).

Quellen:

BBC - British Broadcasting Corporation: Afghan women to have rights within Islamic law, Taliban say, https://www.bbc.com/news/world-asia-58249952

BBC - British Broadcasting Corporation: Flag-waving protesters defy Taliban in Afghan city, https://www.bbc.com/news/live/world-asia-58219963, Zugriff 18.8.2021

BBC - British Broadcasting Corporation: Afghanistan: Who's who in the Taliban leadership, https://www.bbc.com/news/world-asia-58235639, Zugriff 18.8.2021

BBC - British Broadcasting Corporation: Taliban step up hunt for collaborators - UN report, https://www.bbc.com/news/live/world-asia-58219963, Zugriff 19.8.

ORF – Österreichischer Rundfunk: Sorge um afghanische Ortskräfte wächst, https://orf.at/stories/3225305/, Zugriff 18.8.2021

ORF – Österreichischer Rundfunk: Die Anführer des Taliban-Netzwerks, https://orf.at/stories/3225195/, Zugriff 18.8.2021

ORF – Österreichischer Rundfunk: Erneut Tote bei Kundgebung gegen Taliban, https://orf.at/stories/3225444/, Zugriff 19.8.2021

ZDF – Zweites Deutsches Fernsehen (18.8.2021): Die aktuelle Entwicklung in Afghanistan, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/afghanistan-taliban-blog-100.html, Zugriff 18.8.2021

UN Bericht – Ständige Vertretung Österreichs bei den VN (18.8.2021): Briefing zur Lage in AF in NY 17.8.2021, per Email

Sonder-KI vom 17.08.2021, Aktuelle Lage in Afghanistan

Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ist angesichts des Vormarsches der Taliban auf Kabul außer Landes geflohen. Laut al-Jazeera soll das Ziel Taschkent in Usbekistan sein. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über den Präsidentenpalast in Kabul übernommen. Suhail Schahin, ein Unterhändler der Taliban bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, versicherte den Menschen in Kabul eine friedliche Machtübernahme und keine Racheakte an irgendjemanden zu begehen (tagesschau.de 15.8.2021).

Am 15.08.21 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von welchem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen. In einigen der Städte seien Gefängnisse gestürmt und Insassen befreit worden (BAMF 16.8.2021; vgl. bbc.com o.D., orf.at 16.8.2021).

Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen (orf.at 16.8.2021a).

Schätzungen zufolge wurden seit Anfang 2021 über 550.000 Afghanen durch den Konflikt innerhalb des Landes vertrieben, darunter 126.000 neue Binnenvertriebene zwischen dem 7. Juli 2021 und dem 9. August 2021. Es gibt zwar noch keine genauen Zahlen über die Zahl der Afghanen, die aufgrund der Feindseligkeiten und Menschenrechtsverletzungen aus dem Land geflohen sind, es deuten aber Quellen darauf hin, dass Zehntausende von Afghanen in den letzten Wochen internationale Grenzen überquert haben (UNHCR 8.2021).

Der Iran richtete angesichts des Eroberungszugs der militant-islamistischen Taliban im Nachbarland Pufferzonen für Geflüchtete aus dem Krisenstaat ein. Die drei Pufferzonen an den Grenzübergängen im Nord- sowie Südosten des Landes sollen afghanischen Geflüchteten vorerst Schutz und Sicherheit bieten. Indes schloss Pakistan am Sonntag einen wichtigen Grenzübergang zu seinem Nachbarland. Innenminister Sheikh Rashid verkündete die Schließung des Grenzübergangs Torkham im Nordwesten Pakistans am Sonntag, ohne einen Termin für die Wiedereröffnung zu nennen. Tausende Menschen säßen auf beiden Seiten der Grenze fest (orf.at 16.8.2021b).

Mittlerweile baut die Türkei an der Grenze zum Iran weiter an einer Mauer. Damit will die Türkei die erwartete Ankunft von afghanischen Flüchtlingen verhindern (Die Presse 17.8.2021).

Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge (bisherige Ausnahme: Flughafen Kabul). Seit Besetzung der strategischen Stadt Jalalabad durch die Taliban, wurde eine Fluchtbewegung in den Osten (Richtung Pakistan) deutlich erschwert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen aus dem westlichen Teil des Landes oder aus Kabul nach Pakistan gelangen ist gegenwärtig eher gering einzuschätzen. Es ist naheliegender, dass Fluchtrouten ins Ausland über den Iran verlaufen. Es ist jedoch auch denkbar, dass die mehrheitlich sunnitische Bevölkerung Afghanistans (statt einer Route über den schiitisch dominierten Iran) stattdessen die nördliche, alternative Route über Tadschikistan oder auch Turkmenistan wählt. Bereits vor zwei Monaten kam es laut EU-Kollegen zu einem Anstieg von Ankünften afghanischer Staatsbürger in die Türkei. Insofern ist davon auszugehen, dass eine erste Migrationsbewegung bereits stattgefunden hat. Pakistan gibt laut Medienberichten an, dass der Grenzzaun an der afghanisch-pakistanischen Grenze halte (laut offiziellen Angaben sind etwa 90 Prozent fertiggestellt) (VB 17.8.2021).

Laut Treffen mit Frontex, kann zur Türkei derzeit noch keine Veränderung der Migrationsströme festgestellt werden. Es finden täglich nach Schätzungen ca. max. 500 Personen ihren Weg (geschleust) vom Iran in die Türkei. Dies ist aber keine außergewöhnlich hohe Zahl, sondern eher der Durchschnitt. Der Ausbau der Sicherung der Grenze zum Iran mit Mauer und Türmen schreitet immer weiter voran, und nach einstimmiger Meinung von Mig VB und anderen Experten kann die Türkei mit ihrem Militär (Hauptverantwortlich für die Grenzsicherung) und Organisationen (Jandarma, DCMM) jederzeit, je nach Bedarf die illegale Einreise von Flüchtlingen aus dem Iran kontrollieren. Die Türkei ist jedoch - was Afghanistan angeht - mit sehr hohem Interesse engagiert. Auch die Türkei möchte keine neunen massiven Flüchtlingsströme über den Iran in die Türkei (VB 17.8.2021a).

IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf (IOM 16.8.2021).

Während die radikalislamischen Taliban ihren Feldzug durch Afghanistan vorantreiben, gehören Frauen und Mädchen zu den am meisten gefährdeten Gruppen. Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996–2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß. Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban (orf.at 17.8.2021).

Sicherheitslage

Derzeit ist es zu früh, definitive Schlüsse zu ziehen. Es wird davon abhängen, wie sich das Verhältnis zwischen der afghanischen Armee und Polizei zu den Taliban entwickelt (Armee und Polizei haben sich praktisch kampflos ergeben). Ein Zugriff der Taliban auf die Ausrüstung des Sicherheitsapparats würde die Position der Taliban stärken, was aber nicht ausschließt, dass sich aus Kreisen des Sicherheitsapparats oder anderer Akteure im Land Widerstand formiert, der zu Kampfhandlungen führen könnte.

Wirtschaft/Versorgung

Es ist ein wirtschaftlicher Einbruch möglich, der auch die Versorgungslage treffen kann – einerseits durch die Machtergreifung der Taliban, der potentiellen Flucht gebildeterer und wohlhabenderer Bevölkerungsgruppen sowie aufgrund des Fehlens der Wirtschaftskraft der internationalen Truppen (z.B. via lokaler Angestellter) sowie aufgrund der Frage, ob NGOs und internationale Organisationen weiter agieren dürfen. Hinzukommt auch die Frage, wie weit sich die Machtergreifung der Taliban auf die Berufstätigkeit von Frauen auswirken wird.

Menschenrechtslage

Gruppen wie die Taliban (oder auch der IS) greifen nach einer Machtergreifung nicht unbedingt sofort auf ein volles Instrumentarium an Repressionen zurück, sondern tun dies oft eher sukzessive. Ob die Taliban ihr Verhalten als Macht im Staate dieses Mal eventuell teilweise anders gestalten werden, wird sich zeigen. Informationen zur aktuellen Menschenrechtslage würden daher derzeit nur eine Momentaufnahme darstellen, ohne eine belastbare Entscheidungsgrundlage vor dem Hintergrund des Umsturzes darzustellen. Aussagekräftige, zeitlich länger gültige Informationen zu Kernbereichen werden erst später zur Verfügung stehen.

Quellen:

BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (16.8.2021): Briefing Notes, per Email

BBC - British Broadcasting Corporation (16.8.2021: Afghanistan: US takes control of Kabul airport to evacuate staff from countryhttps://www.bbc.com/news/world-asia-58227029, Zugriff 16.8.2021

Die Presse (17.8.2021): Die Türkei schottet sich mit Mauer gegen Flüchtlinge ab, https://www.diepresse.com/6021855/die-turkei-schottet-sich-mit-mauer-gegen-fluchtlinge-ab, Zugriff 17.8.2021

IOM - International Organization for Migration (16.8.2021): Aussetzung der Freiwilligen Rückkehr nach Afghanistan, per Email

ORF – Österreichischer Rundfunk (16.8.2021): Krieg in Afghanistan ist vorbei, https://orf.at/stories/3225020/, Zugriff 16.8.2021

ORF – Österreichischer Rundfunk (16.8.2021a): Verzweifelte Fluchtversuche aus Kabul, https://orf.at/stories/3225106/, Zugriff 17.8.2021

ORF – Österreichischer Rundfunk (16.8.2021b): Nachbarländer in großer Unruhe, https://orf.at/stories/3225071/, Zugriff 17.8.2021

ORF – Österreichischer Rundfunk (17.8.2021): Ein Alptraum für Frauen, https://orf.at/stories/3225041/, Zugriff 17.8.2021

TS – Tagesschau (15.8.2021): Präsident Ghani ins Ausland geflohen, https://www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-kabul-ghani-101.html, Zugriff 16.8.2021

UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (8.2021): UNHCR Position on Returns to Afghanistan, Refworld | UNHCR Position on Returns to Afghanistan, Zugriff 17.8.2021

VB – Verbindungsbeamtin des BM.I für Thailand/Pakistan [Österreich] (17.8.2021): Auskunft des VB, per Email

VB – Verbindungsbeamter des BM.I für Türkei [Österreich] (17.8.2021a): Auskunft des VB, per Email

KI vom 11.08.2021, Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan

Die Kämpfe zwischen den Taliban und den afghanischen Regierungstruppen erreichten Ende Juli 2021 die Provinzhauptstädte. Binnen weniger Tage (6.- 11. August) brachten die Taliban neun Provinzhauptstädte unter ihre Kontrolle: Sarandsch (Provinz Nimrus), Scheberghan (Provinz Dschuzdschan), Kundus (Provinz Kundus), Sar-i Pul (Provinz Sar-i Pul), Taloqan (Provinz Tachar), Samangan (Provinz Samangan), Faizabad (Provinz Badachschan), Pol-e Chomri, (Provinz Baglan), Farah (Provinz Farah).

Quelle:

BBC - British Broadcasting Corporation (11.08.2021): https://www.bbc.com/news/world-asia-57933979

KI vom 02.08.2021, Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan

Sicherheitslage und Gebietskontrolle

In Afghanistan ist die Zahl der konfliktbedingten Todesopfer derzeit so hoch wie nie zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNHCR, mit durchschnittlich 500-600 Sicherheitsvorfällen pro Woche. Berichten zufolge liegt die Gebietskontrolle der Regierung auf dem niedrigsten Stand seit 2001 (UNHCR 20.7.2021). Nach Angaben des Long War Journals (LWJ) kontrollieren die Taliban 223 der 407 Distrikte Afghanistan. Die Regierungstruppen kämpfen aktuell (Ende Juli / Anfang August 2021) gegen Angriffe der Taliban auf größere Städte, darunter Herat, Lashkar Gah und Kandahar, dessen Flughafen von den Taliban bombardiert wurde . Seit 1.8.2021 gibt es keine Flüge mehr zu und von dem Flughafen (AJ 1.8.2021). Von den 17 Distrikten Herats sind nur Guzara und die Stadt Herat unter Kontrolle der Regierung. Die übrigen Bezirke werden von den Taliban gehalten, die versuchen, in das Zentrum der Stadt vorzudringen (TN 31.7.2021; vgl. ANI 2.8.2021). Die afghanische Regierung entsendet mehr Truppen nach Herat, da die Kämpfe mit den Taliban zunehmen (ANI 2.8.2021; vgl. AJ 1.8.2021).

Zivile Opfer und Fluchtbewegungen

Zwischen 1.1.2021 und 30.6.2021 dokumentierte UNAMA 5.183 zivile Opfer und fast eine Verdreifachung der zivilen Opfer durch den Einsatz von improvisierten Sprengsätzen (IEDs) durch regierungsfeindliche Kräfte. Zwischen Mai und Juni 2021 gab es nach Angaben von UNAMA fast soviele zivile Opfer wie in den vier Monate davor (UNAMA 26.7.2021). Nach Angaben von Human Rights Watch (HRW) halten die Taliban hunderte Einwohner der Provinz Kandarhar fest, denen sie vorwerfen mit der Regierung in Verbindung zu stehen. Berichten zufolge haben die Taliban einige Gefangene getötet, darunter Angehörige von Beamten der Provinzregierung sowie Mitglieder der Polizei und der Armee (HRW 23.7.2021). UNOCHA zufolge wurden zwischen 1.1.2021 und 18.7.2021 294.703 Menschen in Afghanistan durch den Konflikt vertrieben (UNOCHA 22.7.2021). Noch kann keine Massenflucht afghanischer Staatsbürger in den Iran festgestellt werden, jedoch hat die Zahl der Neuankömmlinge zugenommen. Der Notstandsplan wurde bislang noch nicht aktiviert. Sollte er aktiviert werden, rechnet die iranische Regierung mit einem Zustrom vom 500.000 Menschen innerhalb von sechs Monaten, wobei davon ausgegangen wird, dass ihr Aufenthalt nur vorübergehend sein wird. UNHCR rechnet mit 150.000 Menschen innerhalb von drei Monaten (UNHCR 20.7.2021).

Weitere Entwicklungen

Die Taliban haben im Juli 2021 erklärt, dass sie der afghanischen Regierung im August ihren Friedensplan vorlegen wollen und dass die Friedensgespräche beschleunigt werden sollen (UNHCR 20.7.2021). Die afghanische Regierung hat am 25.7.2021 eine einmonatige Ausgangssperre über fast das gesamte Land verhängt, um ein Eindringen der Taliban in die Städte zu verhindern. Ausnahmen sind die Provinzen Kabul, Panjshir und Nangarhar. Die Ausgangssperre verbietet alle Bewegungen zwischen 22:00 und 04:00 (BBC 25.7.2021; vgl. TG 24.7.2021). In den von den Taliban eroberten Gebieten im Norden dürften Frauen laut Meldung vom 14.7.2021 nur vollverschleiert und mit männlicher Begleitung auf die Straße gehen (BAMF 20.7.2021; vgl. VOA 9.7.2021). Aufgrund von COVID-19 waren alle Schulen und Universitäten bis zum 23.7.2021 geschlossen (BAMF 19.7.2021; AAN 25.7.2021). Nach Angaben der für das Gesundheitsund Bildungswesen zuständigen Beamten soll die Wiedereröffnung in den Provinzen schrittweise erfolgen, je nach Ausbreitung von COVID-19 (AAN 25.7.2021). Mit 2.8.2021 werden die Flughäfen von Kabul und Mazar-e Sharif weiterhin national und international angeflogen. Der Flughafen von Herat ist national erreichbar (F 24 2.8.2021).

Quellen:

AAN - Afghan Analyst Network (25.7.2021): Schools reopen in Afghanistan after months of COVID-19 closure, https://www.aa.com.tr/en/asia-pacific/schools-reopen-in-afghanistan-aftermonths-of-covid-19-closure/2313635, Zugriff am 2.8.2021

AJ - Aljazeera (1.8.2021): Afghan forces bomb Taliban in bid to halt advance on cities, https://www.aljazeera.com/news/2021/8/1/rockets-hit-kandahar-airport-in-southernafghanistan, Zugriff am 2.8.2021

ANI - Asian News International (2.8.2021): Afghan govt deploys more troops in Herat as clashes with Taliban intensify, https://www.aninews.in/news/world/asia/afghan-govt-deploysmore-troops-in-herat-as-clashes-with-taliban-intensify20210802031342/, Zugriff am 2.8.2021

ANI - Asian News International (13.7.2021): Over 5000 families displaced by violence in Afghanistan's Kandahar, https://www.aninews.in/news/world/asia/over-5000-familiesdisplaced-by-violence-in-afghanistans-kandahar20210713192229/, Zugriff am 2.8.2021 BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Deutschland] (19.7.2021): Briefing Notes, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2021/briefingnotes-kw29-2021.pdf?__blob=publicationFile&v=3, Zugriff am 2.8.2021

BBC - British Broadcasting Corporation (25.7.2021): Afghanistan curfew imposed as Taliban militants advance, https://www.bbc.com/news/world-asia-57933364, Zugriff am 2.8.2021

F 24 - Flightradar 24 (2.8.2021): https://www.flightradar24.com/34.57,69.21/8,

HRW - Human Rights Watch (23.7.2021): Afghanistan: Threats of Taliban Atrocities in Kandahar, https://www.hrw.org/news/2021/07/23/afghanistan-threats-taliban-atrocitieskandahar, Zugriff am 2.8.2021

TG - The Guardien (24.7.2021): Curfew imposed in Afghanistan to curb Taliban offensive, https://www.theguardian.com/world/2021/jul/24/curfew-imposed-in-afghanistan-tocurb-taliban-offensive, Zugriff am 2.8.2021

TN - Tolonews (31.7.2021): Taliban Gets Closer to Herat City as Clashes Intensify, https://tolonews.com/afghanistan-173868, Zugriff am 2.8.2021

UNAMA - United Nations Assistance Mission in Afghanistan (26.7.2021): Afghanistan Midyear Report On Protection Of Civilians In Armed Conflict: 2021, https://www.ecoi.net/en/file/local/2056652/unama_poc_midyear_report_2021_26_july.pdf, Zugriff am 2.8.2021

UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (20.7.2021): Afghanistan situation: Emergency preparedness and response in Iran, https://www.ecoi.net/en/file/local/2056773/Situation+Update+-+Afghanistan+situation+preparedness+in+Iran+-+20+July+2021.pdf, Zugriff am 2.8.2021

UNOCHA - United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (22.7.2021): Afghanistan -Weekly Humanitarian Update, https://www.ecoi.net/en/file/local/2056663/afghanistan_humanitarian_weekly_22_july _2021.pdf, Zugriff am 2.8.2021

VOA - Voice of America (9.7.2021): Taliban Impose New Restrictions on Women, Media In Afghanistan’s North, https://www.voanews.com/extremism-watch/taliban-impose-newrestrictions-women-media-afghanistans-north, Zugriff am 2.8.2021.BFA

KI vom 19.07.2021, Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan

Sicherheitslage und Gebietskontrolle durch die Taliban

Seit dem Beginn des Abzugs der US-Truppen und anderer Koalitionskräfte am 1.5.2021 kam es zu mehr Kampfhandlungen als in den Monaten zuvor (s. Abb., Anm.; ACLED o.D.) Nach Einschätzung des Long War Journal vom 13.7.2021 kontrollieren die Taliban 223 der 407 Distrikte in Afghanistan. Am 3.6.2021 waren es noch 90 Distrikte (LWJ 13.7.2021). Das Afghan Analysts Network schätzt, dass sich mit Stand 16.7.2021 229 Distriktzentren in den Händen der Taliban befinden. Nur in vier Provinzen sind die Distriktzentren noch vollständig in Regierungshand: Kabul, Panjshir, Kunar und Daikundi. Einige Gebiete konnten von der Regierung zurückerobert werden (AAN 16.7.2021; vgl. REU 8.7.2021) Wichtige Grenzübergänge zu Turkmenistan und Iran, beide in der Provinz Herat (BBC 10.7.2021; vgl. DW 14.7.2021, TN 13.7.2021) sowie zu Usbekistan in der Provinz Balkh (AJ 15.7.2021; vgl. AP 15.7.2021), wurden im Juli durch die Taliban erobert. Berichten zufolge haben die Taliban außerdem die Kontrolle über den afghanisch-pakistanischen Grenzort Spin Boldak (Dawn 18.7.2021; vgl. France 24 17.7.2021). Anfang Juli flohen mehr als 1.000 afghanische Sicherheitskräfte über die Grenze nach Tadschikistan, als sie von den Taliban attackiert wurden (BBC 10.7.2021; vgl. RFE/RL 7.7.2021). Turkmenistan hat Anfang Juli begonnen, schwere Waffen, Hubschrauber und andere Flugzeuge näher an die Grenze zu Afghanistan zu verlegen, und in der Hauptstadt werden Reservisten in Alarmbereitschaft versetzt (RFE/RL 11.7.2021).

Truppenabzug

Nach Angaben von US-Präsident Biden wird der Truppenabzug am 31.8.2021 abgeschlossen sein. Er verpflichtete sich, Tausende von afghanischen Übersetzern und ihre Familien, die an der Seite der USA arbeiteten, schnell zu evakuieren, und sagte, dass der Zeitplan für die Bearbeitung spezieller Einwanderungsvisa "dramatisch beschleunigt" worden sei. Und er sagte, die USA würden weiterhin zivile und humanitäre Hilfe leisten und sich auch für die Rechte von Frauen und Mädchen einsetzen (WH 8.7.2021). Anfang Juli wurde die Bagram-Airbase in der Provinz Parwan an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben (RFE/RL 11.7.2021, BBC 10.7.2021, AJ 2.7.2021).

Angriff auf Zivilisten / gezielte Tötungen

Es kommt weiterhin zu Angriffen auf und gezielten Tötungen von Zivilisten. Seit dem Beginn der Friedensgespräche in Doha im vergangenen Jahr sind vor allem Mitarbeiter des Gesundheitswesens, humanitäre Organisationen, Menschenrechtsverteidiger und Journalisten Ziel einer Welle von gezielten Tötungen gewesen (AI 16.6.2021). So wurden beispielsweise im Juni fünf Mitarbeiter eines Polio-Impf-Teams (AP 15.6.2021; vgl. VOA 15.6.2021) und zehn Minenräumer getötet (AI 16.6.2021; vgl. AJ 16.6.2021). Laut Berichten war der Juni 2021 der tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren in Afghanistan (TN 2.7.2021; vgl. AJ 2.7.2021)

COVID-19

Die Delta-Variante treibt Beobachtern zufolge die Covid-19-Infektionen in Afghanistan in die Höhe, wobei die Dunkelziffer an Fällen weiterhin als sehr hoch geschätzt wird. Krankenhäuser kommen weiterhin an ihre Belastungsgrenze und es sind nicht genug Betten vorhanden um neue Covid-19 Patienten zu behandeln (DW 17.6.2021; vgl. USAID 11.6.2021) Gesundheitseinrichtungen berichten auch von Engpässen bei medizinischem Material und Sauerstoff (USAID 11.6.2021). Schulen und Universitäten sind weiterhin geschlossen (DW 17.6.2021; vgl. VOA 13.7.2021) und es gibt Berichte, wonach sich Menschen nicht streng an die Vorgaben halten und häufig keine Masken tragen (DW 17.6.2021; vgl. VOA 13.7.2021). Anfang Juli erreichten mehr als 1,4 Millionen Impfdosen des Herstellers Johnson & Johnson Afghanistan. Die Impfraten in Afghanistan sind nach wie vor extrem niedrig, weniger als 4% der Bevölkerung sind geimpft (UNICEF 9.7.2021).

Quellen:

AAN – Afghanistan Analysts Network (16.7.2021): Menace, Negotiation, Attack: The Taleban take more District Centres across Afghanistan, https://www.afghanistan-analysts.org/en/reports/war-and-peace/menace-negotiation-attackthe-taleban-take-more-district-centres-across-afghanistan/, Zugriff 15.7.2021

ACLED - Armed Conflict Location and Event Data (3.2020): ACLED Methodology and Coding Decisions around the Conflict in Afghanistan, https://acleddata.com/acleddatanew/wpcontent/uploads/dlm_uploads/2019/01/ACLED_Methodology-and-Coding-Decisions-Aroundthe-Conflict-in-Afghanistan_Mar2020_update.pdf Zugriff 29.10.2020

ACLED - Armed Conflict Location and Event Data (o.D.): ACLED Dashboard, https://acleddata.com/dashboard/#/dashboard, Zugriff 15.7.2021

AI - Amnesty International (16.6.2021): Afghanistan: Deliberate killing of civilians must be investigated following deadly attacks, https://www.amnesty.org/en/latest/news/2021/06/afghanistan-deliberate-killing-of-civiliansmust-be-investigated-following-deadly-attacks/, Zugriff 15.7.2021

AJ - Aljazeera (15.7.2021): Afghan gov’t claims it retook border crossing, Taliban denies, https://www.aljazeera.com/news/2021/7/15/afghan-govt-says-pakistan-border-crossingretaken-from-taliban, Zugriff 19.7.2021

AJ - Aljazeera (14.7.2021): Taliban claims capturing key Afghan border crossing with Pakistan, https://www.aljazeera.com/news/2021/7/14/taliban-claims-capturing-key-afghanborder-crossing-with-pakistan, Zugriff 15.7.2021

AJ - Aljazeera (2.7.2021): US forces leave Afghanistan’s Bagram airbase after 20 years, https://www.aljazeera.com/news/2021/7/2/us-bagram-airbase-afghanistan-taliban, Zugriff 15.7.2021

AJ - Aljazeera (27.6.2021): Afghanistan: Thousands flee fighting between government, Taliban, https://www.aljazeera.com/news/2021/6/27/thousands-displaced-as-governmenttaliban-fight-near-afghan-city, Zugriff 16.7.2021

AJ - Aljazeera (16.6.2021): Afghan deminers to „continue to save lives“ despite deadly attack, https://www.aljazeera.com/news/2021/6/16/afghanistan-deminers-save-lives-deadly-attack, Zugriff 15.7.2021

AP - Associated Press (15.7.2021): US, Afghan’s neighbors scramble to address Taliban surge, https://apnews.com/article/joe-biden-europe-middle-east-taliban-55fd9fcfdf898adf354c1205b53e9da7, Zugriff 19.7.2021

AP - Associated Press (15.6.2021): Attacks target polio teams in east Afghanistan, 5 killed, https://apnews.com/article/islamic-state-group-afghanistan-healthabb11349fe3e901af49cd2f301ecbe1e, Zugriff 15.7.2021

BBC - British Broadcasting Corporation (10.7.2021): Taliban capture key Afghanistan border crossings, https://www.bbc.com/news/world-asia-57773120, Zugriff 15.7.2021 Dawn (18.7.2021): Pakistan reopens Afghan border at Chaman, https://www.dawn.com/news/1635735/pakistan-reopens-afghan-border-at-chaman, Zugriff 19.7.2021

DW - Deutsche Welle (17.6.2021): Die COVID-Tragödie in Afghanistan, https://www.dw.com/de/die-covid-tragödie-in-afghanistan/a-57935378, Zugriff 15.7.2021

DW - Deutsche Welle (14.7.2021): Taliban capture key Afghan border point - reports, https://www.dw.com/en/taliban-capture-key-afghan-border-point-reports/a-58258412, Zugriff 15.7.2021

France 24 (17.7.2021): Border crossing between Pakistan and Afghanistan reopens after Taliban seizure, https://www.france24.com/en/live-news/20210717-border-crossing-betweenpakistan-and-afghanistan-reopens-after-taliban-seizure, Zugriff 19.7.2021 LWJ – Long War Journal (13.7.2021): Mapping Taliban Contested and Controlled Districts in Afghanistan, https://www.longwarjournal.org/mapping-taliban-control-in-afghanistan, Zugriff 15.7.2021

REU - Reuters (14.7.2021): Afghan Taliban seize border crossing with Pakistan in major advance, https://www.reuters.com/world/asia-pacific/taliban-claims-control-key-afghan-bordercrossing-with-pakistan-2021-07-14/, Zugriff 15.7.2021

REU - Reuters (8.7.2021): Afghan forces say Taliban being driven out of western city, https://www.bbc.com/news/world-asia-57748695, Zugriff 19.7.2021

RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (7.7.2021): Some 600 Afghan Soldiers Repatriated After Fleeing To Tajikistan, https://www.ecoi.net/en/document/2055530.html, Zugriff 15.7.2021

RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (11.7.2021): Turkmenistan Sending Heavy Weaponry, Aircraft To Afghan Border Amid Deteriorating Security, https://www.ecoi.net/en/document/2055880.html, Zugriff 15.7.2021

RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (26.6.2021): Thousands Of Afghan Families Displaced As Fight For Kunduz Rages, https://gandhara.rferl.org/a/afghanistan-thousandsdisplace-kunduz-battle/ 31327577.html, Zugriff 15.7.2021

TN - Tolonews (13.7.2021): Taliban Restores Customs Activities in Key Border Areas, https://tolonews.com/business-173496, Zugriff 15.7.2021

TN - Tolonews (1.7.2021): June Deadliest Month in Afghanistan in Two Decades, https://tolonews.com/afghanistan-173225, Zugriff 15.7.2021

UNICEF - United Nations Children’s Fund (UNICEF 9.7.2021): 1.4 million doses of COVID-19 vaccine arrive in Afghanistan through COVAX global dose-sharing mechanism, https://www.unicef.org/press-releases/14-million-doses-covid-19-vaccine-arrive-afghanistanthrough-covax-global-dose, Zugriff 15.7.2021

USAID – United States Agency for International Development (11.6.2021): Afghanistan – Complex Emergency, https://www.usaid.gov/sites/default/files/documents/06.11.2021_-_USG_Afghanistan_Fact_Sheet_2.pdf, Zugriff 15.7.2021

VOA - Voice of America (13.7.2021): Pandemic Halts Schooling for Afghan Students, https://www.voanews.com/student-union/pandemic-halts-schooling afghan students, Zugriff 15.7.2021

VOA - Voice of America (15.6.2021): Gunmen Kill 5 Polio Vaccinators in Afghanistan, https://www.voanews.com/south-central-asia/gunmen-kill-5-polio-vaccinators-afghanistan, Zugriff 15.7.2021

WH - White House, The [USA] (8.7.2021): Remarks by President Biden on the Drawdown of U.S. Forces in Afghanistan, https://www.whitehouse.gov/briefing-room/speechesremarks/2021/07/08/remarks-by-president-biden-on-the-drawdown-of-u-s-forces-inafghanistan/, Zugriff 19.7.2021

Entwicklung der COVID-19 Pandemie in Afghanistan

Der erste offizielle Fall einer COVID-19 Infektion in Afghanistan wurde am 24.2.2020 in Herat festgestellt (RW 9.2020; vgl UNOCHA 19.12.2020). Laut einer vom afghanischen Gesundheitsministerium (MoPH) durchgeführten Umfrage hatten zwischen März und Juli 2020 35% der Menschen in Afghanistan Anzeichen und Symptome von COVID-19. Laut offiziellen Regierungsstatistiken wurden bis zum 2.9.2020 in Afghanistan 103.722 Menschen auf das COVID-19-Virus getestet (IOM 23.9.2020). Aufgrund begrenzter Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der Testkapazitäten, der Testkriterien, des Mangels an Personen, die sich für Tests melden, sowie wegen des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle von und Todesfälle durch COVID-19 in Afghanistan wahrscheinlich insgesamt unterrepräsentiert (HRW 14.1.2021; vgl. UNOCHA 18.2.2021, USAID 12.1.2021, UNOCHA 19.12.2020, RFE/RL 23.2.2021a).

Die fortgesetzte Ausbreitung der Krankheit in den letzten Wochen des Jahres 2020 hat zu einem Anstieg der Krankenhauseinweisungen geführt, wobei jene Einrichtungen die als COVID-19- Krankenhäuser in den Provinzen Herat, Kandahar und Nangarhar gelten, nach Angaben von Hilfsorganisationen seit Ende Dezember voll ausgelastet sind. Gesundheitseinrichtungen sehen sich auch zu Beginn des Jahres 2021 großen Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung oder Erweiterung ihrer Kapazitäten zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 sowie bei der Aufrechterhaltung grundlegender Gesundheitsdienste gegenüber, insbesondere, wenn sie in Konfliktgebieten liegen (BAMF 8.2.2021; vgl. IOM 18.3.2021).

Die WHO äußerte ihre Besorgnis über die Gefahr der Verbreitung mutierter Viren in Afghanistan. In Pakistan ist bereits ein deutlicher Anstieg der Infektionen mit einer neuen Variante, die potenziell ansteckender ist und die jüngere Bevölkerung trifft, festgestellt worden. Das afghanische Gesundheitsministerium bereite sich auf eine potenzielle dritte Welle vor. Die Überwachung an der Grenze soll ausgeweitet und Tests verbessert werden. Angesichts weiterer Berichte über unzureichende Testkapazitäten im Land bleibt die Wirkung der geplanten Maßnahmen abzuwarten (BAMF 29.3.2021).

Laut Meldungen von Ende Mai 2021 haben afghanische Ärzte Befürchtungen geäußert, dass sich die erstmals in Indien entdeckte COVID-19-Variante nun auch in Afghanistan verbreiten könnte. Viele der schwerkranken Fälle im zentralen Krankenhaus für COVID-Fälle in Kabul, wo alle 100 Betten belegt seien, seien erst kürzlich aus Indien zurückgekehrte Personen (BAMF 31.5.2021; vgl. TG 25.5.2021, DW 21.5.2021, UNOCHA 3.6.2021). Seit Ende des Ramadans und einige Woche nach den Festlichkeiten zu Eid al-Fitr konnte wieder ein Anstieg der COVID- 19 Fälle verzeichnet werden. Es wird vom Beginn einer dritten Welle gespro

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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