Entscheidungsdatum
22.09.2021Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W151 2190479-1/31E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Doris KOHL, MCJ über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Mag. Robert Bitsche, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, vom 23.02.2018, Zl. XXXX , wegen §§ 3, 8, 10 und 57 AsylG 2005, sowie §§ 46, 52 und 55 FPG 2005 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A)
I. Das Verfahren wird hinsichtlich des Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wegen Zurückziehung der Beschwerde zu Spruchpunkt I. eingestellt.
II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX , geb. XXXX gemäß § 8 Abs. 1 des Asylgesetzes 2005, BGBl. I Nr. 100/2005, idgF, (AsylG) der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX , geb. XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr ab Datum der Entscheidung erteilt.
IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden auch: BF) reiste illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 10.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am selben Tag erfolgte eine Erstbefragung des Beschwerdeführers durch Organwalter der Landespolizeidirektion Burgenland.
2. Am 11.09.2017 erfolgte eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden auch: BFA oder belangte Behörde). Im Zuge dieser legte der Beschwerdeführer eine Kopie seiner Geburtsurkunde und seiner Tazkira sowie ein Konvolut an Unterlagen vor.
3. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab und erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.). Gegen den Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkte V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 2 Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
4. Gegen den Bescheid des BFA erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde und legte im Zuge dessen zwei ÖSD-Zertifikate vor.
5. Am 27.03.2018 wurde die Beschwerde dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.
6. Am 08.03.2021 langten beim BVwG Unterlagen des Beschwerdeführers ein.
7. Am 11.03.2021 wurde vor dem BVwG in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Pashto eine öffentlich mündliche Verhandlung durchgeführt. Im Zuge dieser zog der Beschwerdeführer die Beschwerde zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides zurück und legte ein weiteres Dokument vor. Die Verhandlung wurde zur Einholung eines Sachverständigen-Gutachtens unterbrochen.
8. Mit Beschluss vom 01.04.2021 bestellte das Gericht eine Sachverständige und ordnete eine Beweisaufnahme an. Dies nachdem den Parteien mit Schreiben vom 17.03.2021 Parteiengehör zur beabsichtigten Sachverständigenbestellung gewährt worden war.
9. Das Sachverständigengutachten langte am 28.04.2021 beim BVwG ein, worauf Parteiengehör gewährt wurde.
10. Mit Schreiben vom 29.04.2021 erstattete der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers eine Stellungnahme bezüglich des Gutachtens.
11. Am 30.04.2021 stellte das Gericht eine Anfrage an die Staatendokumentation. Die Anfragebeantwortung langte am 30.06.2021 beim BVwG ein. In der Folge wurde Parteiengehör gewährt.
12. Mit Schreiben vom 24.08.2021 teilte das BVwG dem BFA mit, dass es davon ausgehe, dem BF sei aufgrund der verschlechterten Sicherheitslage in Afghanistan ohne weitere mündliche Verhandlung subsidiärer Schutz zu gewähren. Im Rahmen einer aufgetragenen Stellungnahme wurde dem BFA diesbezüglich Parteiengehör gewährt.
13. Am 03.09.2021 langte beim BVwG eine Stellungnahme der Rechtsvertretung des Beschwerdeführers ein, dass es von Seiten des BF keine Einwände zur geplanten Vorgehensweise des Gerichtes gebe. Eine Stellungnahme des BFA, binnen der gewährten Frist, blieb aus.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger. Er stammt aus der Provinz Baghlan, Distrikt Baghlan-e-Jadeed, Dorf XXXX . Dort lebte er bis zu seiner Flucht gemeinsam mit seiner Familie. Er gehört der Volksgruppe der Pashtunen an und spricht Pashto als Muttersprache. Er ist sunnitischer Moslem. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.
Der Beschwerdeführer besuchte in Afghanistan acht Jahre lang die Grundschule. Er absolvierte keine Berufsausbildung und hat keine Berufserfahrung. Seine Familie lebte von der Landwirtschaft. Die Familie hatte Grundstücke im Ausmaß von ca. 10 Jirib.
Der Mutter und der älteste Bruder des Beschwerdeführers sind verstorben. Der Vater, drei seiner Brüder sowie seine drei Schwestern lebten zum Zeitpunkt der Einvernahme vor dem BFA seit etwa einem Jahr in der Stadt Baghlan. Zu diesem Zeitpunkt stand der Beschwerdeführer über einen Cousin mütterlicherseits mit seiner Familie in Kontakt. Ein Bruder des BF lebte zuletzt im Iran und ein weiterer in der Türkei.
1.2. Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und ist nach seinem Antrag auf internationalen Schutz vom 10.11.2015 in Österreich aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG rechtmäßig aufhältig gewesen.
Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über keine Familienangehörigen. Er verfügt über keine substantiellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens.
Der Beschwerdeführer nahm in den Jahren 2016, 2017 und 2020 an diversen Basisbildungs- und Deutschkursen teil. Im Jahr 2016 erwarb er das ÖSD-Zertifikate A1 und im Jahr 2017 das ÖSD-Zertifikat A2. Im Jahr 2019 bestand er die ÖIF-Prüfung auf Sprachniveau B1, bestehend aus Sprachkompetenz und Werte- und Orientierungswissen. Derzeit (Jänner bis November 2021) besucht der Beschwerdeführer den Vorbereitungskurs für den Pflichtschulabschluss des Unterstützungskomitees zur Integration von MigrantInnen.
Beim Beschwerdeführer wurde im März 2019 eine axiale Spondylarthritis mit peripherer Gelenkbeteiligung und beidseitiger Sacroileitis diagnostiziert. Zusätzlich wurde ein Zustand nach Hepatitis B (PCR negativ) festgestellt. Der Beschwerdeführer erhält derzeit eine Infusionstherapie (Infliximab) und nimmt einmal wöchentlich Oleovit D3 TR 40 ggt sowie bei Bedarf Xefo FTBL 4mg ein. Er befindet sich in Remission, seine Erkrankung ist nicht heilbar, jedoch behandelbar. Bei Einnahme der Medikamente/Infusionen ist der Beschwerdeführer erwerbsfähig. Würde er die Medikamente (oder vergleichbare Medikamente) nicht mehr einnehmen, ist ein erneuter Erkrankungsschub und eine damit einhergehende Progression der Erkrankung zu erwarten. Die vom BF benötigten Medikamente samt Behandlung standen zwar mit 30.06.2021 in Mazar-e Sharif zur Verfügung, aufgrund der geänderten Lage in Afghanistan seit August 2021 hat sich die (medizinische) Versorgungslage gänzlich verschlechtert und ist prognostisch davon auszugehen, dass nunmehr nicht die nötige medizinische Versorgung des BF im Falle einer Rückkehr gegeben ist, er daher nicht als erwerbsfähig angesehen werden kann.
Der Beschwerdeführer ist strafgerichtlich unbescholten.
1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Im Falle einer Verbringung des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat Afghanistan droht ihm aufgrund der nunmehr herrschenden Situation in sämtlichen Teilen des Staates - auch in den Städten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif sowie auch in seiner Herkunftsprovinz Baghlan - ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (in der Folge EMRK), oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention.
Mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt am 15.08.21 haben die Taliban den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen.
Die Taliban haben inzwischen sämtliche afghanische Provinzen, somit auch die Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers, eingenommen und eine Übergangsregierung gebildet. Ihrer Ankündigung, eine „inklusive Regierung“ bilden zu wollen, wurden sie dabei nicht gerecht. So sind sämtliche 33 Regierungsmitglieder den Taliban sowie, abgesehen von zwei Tadschiken und einem Usbeken, der Volksgruppe der Paschtunen angehörig. Im Zuge der Machtübernahme kündigten die Taliban an, Menschenrechte wahren zu wollen und gaben zudem an, nicht so regieren zu wollen, wie in den Jahren 1996 bis 2001. Inwiefern diesen Ankündigungen geglaubt werden kann und ob Menschenrechte von den Taliban respektiert werden und gegebenenfalls in welchem Umfang, ist derzeit nicht absehbar. Auch ist nicht vorhersehbar, mit welchen Mitteln die Taliban die von ihnen eingeführten Regeln durchsetzen werden.
So erklärten die Taliban unter anderem, Frauenrechte gewähren zu wollen, soweit dies im Rahmen der Scharia möglich ist. Unlängst verkündete die Regierung der Taliban jedoch, Frauen und Männer würden an den Universitäten nur noch getrennt voneinander unterrichtet werden, um den Grundsätzen des Islams zu entsprechen. Studentinnen haben sich des Weiteren nun entsprechend den islamischen Kleidungsvorschriften zu kleiden.
Nachdem es zu mehreren Protesten, die sich indirekt gegen die Regierung der Taliban richtete, gekommen war, wurden diese untersagt und Bedingungen für zukünftige Proteste verkündet. Zuvor wurden Proteste mit Gewalt unterdrückt sowie den Medien die Berichterstattung über diese verboten.
Auch soll Berichten zufolge die von den Taliban angekündigte Amnestie für Beamte sowie Mitarbeiter von Botschaften und ausländischen Truppen nicht eingehalten worden sein und soll es im Zusammenhang damit zu Hausdurchsuchungen durch die Taliban gekommen sein.
Weiters häufen sich die Berichte, dass es an der Spitze der Taliban zu Machtkämpfen kommen soll, die Regierungsbildung ist unklar.
Somit ist die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan derzeit als volatil und gänzlich instabil anzusehen und es ist nicht abschätzbar, ob die Sicherheit gewährleistet ist und die Menschenrechte sowie die Rechtsstaatlichkeit von den Taliban gewahrt werden, wie dies von ihnen angekündigt wurde. Insbesondere aufgrund der aktuellen, oben festgestellten Entwicklungen, bleibt die Situation in Afghanistan weiter unvorhersehbar und ist in der Folge willkürliche Gewalt gegen die Zivilbevölkerung nicht auszuschließen.
Nicht zuletzt aufgrund des Umstandes, dass sich eine täglich ansteigende Zahl von Menschen als Vertriebene innerhalb von Afghanistan auf der Flucht befinden und der anhaltenden einschneidenden Auswirkungen der COVID-19-Pandemie. Zudem ist von einer aktuell extrem angespannten Wirtschafts- und Versorgungslage in ganz Afghanistan auszugehen. IOM musste die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration bis auf Widerruf mit sofortiger Wirkung aussetzen. Dementsprechend ist auch nicht mit der nötigen Sicherheit davon auszugehen, dass die vom BF benötigten Medikamente samt Behandlung, die am 30.06.2021 in Mazar-e Sharif verfügbar waren, derzeit verfügbar sind.
Aktuell steht ganz Afghanistan, dementsprechend auch die Städte Kabul, Herat und Mazar-e Sharif, unter Kontrolle der Taliban. Dem Beschwerdeführer ist es dementsprechend auch nicht möglich und nicht zumutbar, sich im Rückkehrfall in einer der bisher als sicher geltenden Großstädte Afghanistans wie Herat-Stadt und Mazar-e Sharif niederzulassen. Eine Rückkehr des Beschwerdeführers in seine Herkunftsprovinz kommt ebenfalls aufgrund der Machtübernahme der Taliban sowie der derzeitigen dortigen Sicherheitslage bzw. mangels sicherer Erreichbarkeit derzeit nicht in Betracht.
Im Falle einer Verbringung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat droht diesem ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK).
1.4. Zur Lage im Herkunftsstaat:
Dem Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht wurden zugrunde gelegt:
a) UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan, Stand August 2021 (Siehe unten II.1.5.1.);
b) Kurzinformation der Staatendokumentation, Aktuelle Entwicklungen und Informationen in Afghanistan, Stand 20.08.2021 (siehe unten II.1.5.2.);
c) Sonderkurzinformation der Staatendokumentation vom 17.08.2021 (siehe unten II.1.5.3.);
d) ACCORD: ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan, 12. August 2021 (siehe unten II.1.5.4.);
e) Kurzinformation der Staatendokumentation, Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan, Stand 19.07.2021 (siehe unten II.1.5.5.);
f) Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan (im Folgenden „LIB“), Stand 11.06.2021 (siehe unten II.1.5.6.);
g) UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchsuchender des hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) vom 30. August 2018 sowie den dazugehörigen Begleitbrief;
h) EASO Country Guidance: Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO);
i) EASO Afghanistan Security situation update vom September 2021 (siehe unten II.1.5.7.);
j) Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, eingelangt am 30.06.2021;
k) Zu den aktuellen Zahlen zu COVID-19 (siehe unten II.1.6.):
https://www.sozialministerium.at/Informationen-zum-Coronavirus.html [16.09.2021];
https://www.tagesschau.de/ausland/coronavirus-karte-101.html [16.09.2021].
1.4.1. UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan, Stand August 2021
„Einleitung
1. Als Folge des Rückzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan hat sich die Sicherheits- und Menschenrechtslage in großen Teilen des Landes rapide verschlechtert.1 Die Taliban haben in einer schnell wachsenden Anzahl an Provinzen die Kontrolle übernommen, wobei sich ihr Vormarsch im August 2021 nochmals beschleunigte, als sie 26 von 34 Provinzhauptstädten innerhalb von zehn Tagen einnahmen und schließlich den Präsidentenpalast in Kabul unter ihre Kontrolle brachten.2 Die stark zunehmende Gewalt hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern.3 UNHCR ist besorgt über die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern, sowie an Afghan*innen, bei denen die Taliban davon ausgehen, dass sie mit der afghanischen Regierung oder den internationalen Streitkräften in Afghanistan oder mit internationalen Organisationen im Land in Verbindung stehen oder standen.4
2. Aufgrund des Konflikts sind seit Anfang 2021 Schätzungen zufolge über 550.000 Afghan*innen innerhalb des Landes neu vertrieben worden, davon 126.000 neue Binnenvertriebene allein zwischen 7. Juli und 9. August 2021.5 Während es bis dato noch keine genauen Zahlen gibt, wie viele Afghan*innen das Land aufgrund der Kampfhandlungen und Menschenrechtsverletzungen verlassen haben, haben Berichten zufolge zehntausende Afghan*innen in den letzten Wochen die Landesgrenzen überschritten.6
Zugang zum Staatsgebiet und zu internationalem Schutz
3. Da die Situation in Afghanistan instabil und unsicher bleibt, fordert UNHCR alle Länder dazu auf, der aus Afghanistan fliehenden Zivilbevölkerung Zugang zu ihrem Staatsgebiet zu gewähren und die Einhaltung des Non-Refoulement-Grundsatzes durchgehend sicherzustellen. UNHCR weist auf die Notwendigkeit hin zu gewährleisten, dass das Recht, Asyl zu beantragen, nicht eingeschränkt wird, dass Grenzen offengehalten werden und dass Personen, die internationalen Schutzbedarf haben, nicht in Gebiete innerhalb ihres Herkunftslands zurückgedrängt werden, die möglicherweise gefährlich sind. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu berücksichtigen, dass Staaten auch gemäß Völkergewohnheitsrecht verpflichtet sind, die Grenzen für die vor dem Konflikt fliehende Zivilbevölkerung offen zu halten und Flüchtlinge nicht zwangsweise zurückzuführen. Der NonRefoulement-Grundsatz beinhaltet auch die Nicht-Zurückweisung an der Grenze.
4. Alle Anträge auf internationalen Schutz von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan sollten in fairen und effizienten Verfahren im Einklang mit internationalem und regionalem Flüchtlingsrecht behandelt werden. UNHCR ist besorgt, dass die jüngsten Entwicklungen in Afghanistan zu einem Anstieg des internationalen Schutzbedarfs von Personen, die aus Afghanistan fliehen, führen – sei es als Flüchtlinge gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention oder regionalen Flüchtlingsabkommen, sei es als anderweitig international Schutzberechtigte.7 Das gleiche gilt für diejenigen, die sich bereits vor der jüngsten Eskalation der Gewalt in Afghanistan in Aufnahmeländern befanden. Vor dem Hintergrund der volatilen Situation in Afghanistan begrüßt UNHCR den Schritt einiger Aufnahmeländer, Entscheidungen über den internationalen Schutzbedarf von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan auszusetzen, bis sich die Situation im Land stabilisiert hat und zuverlässige Informationen über die Sicherheits- und Menschenrechtslage verfügbar sind, um den internationalen Schutzbedarf der einzelnen Antragsteller*innen zu prüfen. Aufgrund der Unbeständigkeit der Situation in Afghanistan hält UNHCR es nicht für angemessen, afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan internationalen Schutz mit der Begründung einer internen Flucht- oder Neuansiedlungsperspektive zu verwehren.
5. Bei Personen, deren Asylgesuch vor den jüngsten Geschehnissen abgelehnt wurde, kann die aktuelle Situation in Afghanistan zu einer Änderung der Umstände führen, die im Rahmen eines Folgeantrags zu berücksichtigen sind.
6. Es kann Personen geben, die mit Taten in Verbindung stehen, aufgrund derer sie unter die Ausschlussklauseln von Artikel 1 F der Genfer Flüchtlingskonvention fallen.8 In diesen Fällen wird es notwendig sein, Fragen betreffend die persönliche Verantwortung für Verbrechen, die einen Ausschluss vom Flüchtlingsschutz begründen können, sorgfältig zu prüfen. Um den zivilen Charakter von Asyl zu bewahren, sollten Staaten zudem die Situation der Ankommenden sorgfältig prüfen, um bewaffnete Elemente zu identifizieren und diese von der geflüchteten Zivilbevölkerung zu trennen.9
Empfehlung eines Abschiebestopps
7. Aufgrund der volatilen Situation in Afghanistan, die noch für einige Zeit unsicher bleiben kann, sowie der sich abzeichnenden humanitären Notlage10 fordert UNHCR die Staaten dazu auf, zwangsweise Rückführungen von afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan auszusetzen – auch für jene, deren Asylanträge abgelehnt wurden. Ein Moratorium für zwangsweise Rückführungen nach Afghanistan sollte bestehen bleiben, bis sich die Situation im Land stabilisiert hat und geprüft wurde, wann die geänderten Umstände im Land eine Rückkehr in Sicherheit und Würde erlauben würden. Die Hemmung von zwangsweisen Rückführungen stellt eine Mindestanforderung dar, die bestehen bleiben muss, bis sich die Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtslage in Afghanistan signifikant verbessert haben, sodass eine Rückkehr in Sicherheit und Würde von Personen, bei denen kein internationaler Schutzbedarf festgestellt wurde, gewährleistet werden kann.
8. In Übereinstimmung mit den Zusagen der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen im Rahmen des Globalen Flüchtlingsforums, die Verantwortung für den internationalen Flüchtlingsschutz gerecht aufzuteilen, hält UNHCR es nicht für angemessen, afghanische Staatsangehörige und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan zwangsweise in Länder in der Region zurückzuführen, auch in Anbetracht der Tatsache, dass Länder wie der Iran und Pakistan jahrzehntelang großzügig die überwiegende Mehrheit der Gesamtzahl afghanischer Flüchtlinge weltweit aufgenommen haben.11
9. UNHCR wird die Situation in Afghanistan weiterhin beobachten, um den internationalen Schutzbedarf, der sich aus der aktuellen Situation ergibt, zu prüfen.
1 CNN, Intelligence Assessments Warn Afghan Capital Could Be Cut Off and Collapse in Coming Months, 12 August 2021, https://edition.cnn.com/2021/08/11/politics/afghanistan-intelligence-assessments-kabul-taliban/index.html; New York Times, Could the Taliban Take Over Afghanistan? Here’s What We Know., 11 August 2021, www.nytimes.com/2021/08/11/world/asia/taliban-afghanistan-troops-explainer.html; UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA), Under-Secretary-General for Humanitarian Affairs and Emergency Relief Coordinator Martin Griffiths Statement on Afghanistan, 9 August 2021, https://reliefweb.int/report/afghanistan/under-secretary-generalhumanitarian-affairs-and-emergency-relief-coordinator.
2 AP, Taliban Sweep into Afghan Capital after Government Collapses, 16 August 2021, https://apnews.com/article/afghanistantaliban-kabul-bagram-e1ed33fe0c665ee67ba132c51b8e32a5; Aljazeera, Taliban Says Afghanistan War Over as President Flees: Live, 16 August 2021, www.aljazeera.com/news/2021/8/16/taliban-says-afghanistan-war-over-as-president-diplomatsflee; Aljazeera, Afghanistan: Mapping the Advance of the Taliban, 15 August 2021, www.aljazeera.com/news/2021/8/15/afghanistan-mapping-the-advance-of-the-taliban-interactive; CNN, Taliban Takes Control of Kabul's Presidential Palace, 15 August 2021, https://edition.cnn.com/world/live-news/afghanistan-taliban-us-troops-intl-08-15- 21/index.html; Aljazeera, Afghanistan: Mapping the Advance of the Taliban, 15 August 2021, www.aljazeera.com/news/2021/8/15/afghanistan-mapping-the-advance-of-the-taliban-interactive; Reuters, Timeline: The Taliban's Rapid Advance across Afghanistan, 16 August 2021, www.reuters.com/world/timeline-talibans-rapid-advance-acrossafghanistan-2021-08-15/.
3 UNHCR, UNHCR Warns Afghanistan’s Conflict Taking the Heaviest Toll on Displaced Women and Children, 13 August 2021, www.unhcr.org/news/briefing/2021/8/611617c55/unhcr-warns-afghanistans-conflict-taking-heaviest-toll-displaced-women.html; BBC, Afghanistan War: At Least 27 Children Killed in Three Days, UN Says, 10 August 2021, www.bbc.com/news/world-asia58142983; UNICEF, At Least 27 Children Killed and 136 Injured in Past 72 Hours as Violence Escalates in Afghanistan, 9 August 2021, www.unicef.org/press-releases/least-27-children-killed-and-136-injured-past-72-hours-violence-escalates. Between 1 January and 30 June 2021, UNAMA documented 5,183 civilian casualties (1,659 killed and 3,524 injured), representing an increase of 47 per cent compared with the first half of 2020. UNAMA reported a steep increase in the number of civilian casualties toward to end of this period: between 1 May and 30 June 2021, UNAMA recorded 2,392 civilian casualties, nearly as many as were documented in the entire four preceding months. UNAMA, Afghanistan Protection of Civilians in Armed Conflict – Midyear Update: 1 January to 30 June 2021, July 2021, https://unama.unmissions.org/sites/default/files/unama_poc_midyear_report_2021_26_july.pdf.
4 See for example, Sky News, Afghanistan: 'They Are in Grave Danger' - Fears for Influential Women Who 'Spearheaded Change' in Country, 16 August 2021, https://news.sky.com/story/afghanistan-they-are-in-grave-danger-fears-for-influential-women-whospearheaded-change-in-country-12382778; NBC, Afghan Women Fear 'Dark' Future, Loss of Rights as Taliban Gain Ground, 15 August 2021, www.nbcnews.com/news/world/afghan-women-fear-dark-future-loss-rights-taliban-gains-ground-n1276636; National Geographic, As the Taliban Return, Afghanistan's Past Threatens its Future, 15 August 2021, www.nationalgeographic.com/history/article/as-the-taliban-rise-again-afghanistans-past-threatens-its-present; ABC, Taliban Fighters Executing Surrendering Troops, Which Could Amount to War Crimes, U.S. Officials Say, 12 August 2021, https://abcnews.go.com/Politics/us-warning-taliban-fighters-committing-atrocities-amount-war/story?id=79424000; Wall Street Journal, Afghans Tell of Executions, Forced ‘Marriages’ in Taliban-Held Areas, 12 August 2021, www.wsj.com/articles/afghanstell-of-executions-forced-marriages-in-taliban-held-areas-11628780820; USA Today, ‘No Possible Life’ Under Taliban Rule: Afghan Women Fear Murder, Oppression after US Withdrawal, 5 August 2021, https://eu.usatoday.com/indepth/news/world/2021/08/05/afghanistan-withdrawal-taliban-takeover-leaves-women-constant-risk/7426022002/; Human Rights Watch (HRW), Afghanistan: Advancing Taliban Execute Detainees, 3 August 2021, www.hrw.org/news/2021/08/03/afghanistan-advancing-taliban-execute-detainees; HRW, Afghanistan: Threats of Taliban Atrocities in Kandahar, 23 July 2021, www.hrw.org/news/2021/07/23/afghanistan-threats-taliban-atrocities-kandahar; ABC News, Afghanistan's Embassy Says Videos Show Afghan Civilians Being Tortured, Murdered by Taliban, 16 July 2021, www.abc.net.au/news/2021-07-16/taliban-militants-afghanistan-civilian-torture/100300730; Wall Street Journal, A Generation of Afghan Professionals Flees Ahead of Taliban Advance, 7 July 2021, www.wsj.com/articles/a-generation-of-afghan-youthafghanistan-american-troops-pullout-taliban-biden-11625667435.
5 OCHA, Afghanistan: Conflict Induced Displacements, accessed 16 August 2021, www.humanitarianresponse.info/en/operations/afghanistan/idps. See also, UNHCR, Afghan Refugees Reach Iran as Violence Escalates, 9 August 2021, www.unhcr.org/news/press/2021/8/611141ec4/afghan-refugees-reach-iran-violence-escalates.
6 The Independent, Iran Sets Up Refugee Camps along Border as Afghans Flee Taliban Rule, 16 August 2021, www.independent.co.uk/asia/south-asia/iran-afghanistan-refugee-camps-taliban-b1902953.html; Sky News, Afghanistan: Chaos as Crowds Descend on Pakistan Border after Fleeing Taliban, 13 August 2021, https://news.sky.com/video/afghanistan-chaosas-crowds-descend-on-pakistan-border-after-fleeing-taliban-12380717; New York Times, As Fears Grip Afghanistan, Hundreds of Thousands Flee, 31 July 2021 (updated 9 August 2021), www.nytimes.com/2021/07/31/world/asia/afghanistan-migrationtaliban.html; Gandhara, 'We Don't Have A Choice': Thousands Of Afghans Fleeing Abroad Daily As Taliban Violence Soars, 26 July 2021, https://gandhara.rferl.org/a/afghan-refugees-taliban-violence/31378092.html. “The irregular entry of Afghans into Iran is currently estimated by the Government of Iran at approximately 5,000 per day, or up to three times the previously estimated daily average of 1,400-2,500.” UNHCR, Afghanistan Situation: Emergency Preparedness and Response in Iran, 20 July 2021, https://bit.ly/3lWZaG0.
7 Applicable frameworks include that of the 1951 Refugee Convention and its 1967 Protocol; the EU Qualification Directive [European Union, Directive 2011/95/EU of the European Parliament and of the Council on Standards for the Qualification of Third-Country Nationals or Stateless Persons as Beneficiaries of International Protection, for a Uniform Status for Refugees or for Persons Eligible for Subsidiary Protection, and for the Content of the Protection Granted (recast) (“Qualification Directive”), 13 December 2011, www.refworld.org/docid/4f06fa5e2.html]; or other applicable regional frameworks, including the 1969 OAU Convention and the Cartagena Declaration [Cartagena Declaration on Refugees, Colloquium on the International Protection of Refugees in Central America, Mexico and Panama, 22 November 1984, www.refworld.org/docid/3ae6b36ec.html].
8 UNHCR, Guidelines on International Protection No. 5: Application of the Exclusion Clauses: Article 1F of the 1951 Convention Relating to the Status of Refugees, 4 September 2003, CR/GIP/03/05, www.unhcr.org/refworld/docid/3f5857684.html.
9 See UNHCR, Operational Guidelines on Maintaining the Civilian and Humanitarian Character of Asylum, September 2006, www.refworld.org/docid/452b9bca2.html.
10 UNHCR, UNHCR Warns of Imminent Humanitarian Crisis in Afghanistan, 13 July 2021, www.unhcr.org/news/briefing/2021/7/60ed3ba34/unhcr-warns-imminent-humanitarian-crisis-afghanistan.html.
11 By the end of 2020, there were 2,215,445 registered Afghan refugees in Iran and Pakistan. UNHCR, Data Portal: Afghanistan Situation, https://data.unhcr.org/en/situations/afghanistan (accessed 12 August 2021).“
1.4.2. Kurzinformation der Staatendokumentation, Aktuelle Entwicklungen und Informationen in Afghanistan, Stand 20.08.2021:
„Aktuelle Lage
Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (bbc.com o.D.a).
Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (orf.at o.D.a).
Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.8.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die heute von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (bbc.com o.D.b).
Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (orf.at o.D.c).
Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach "Kollaborateuren". In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens 12 Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (bbc.com o.D.d).
Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen aufträten. Dazu kämen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (zdf.de 18.8.2021).
Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (? Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-SRVerlängerung des UNAMA-Mandats am 17. September 2021 (VN 18.8.2021).
Exkurs:
Die Anführer der Taliban
Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen Taliban-Führer auch nach außen auf. Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu’minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des SchariaGerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird. Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben. Vermutet wird, dass es die Taliban-Einsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in den Führungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jährige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht. Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der Taliban-Regierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde er unter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an. Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an (orf.at o.D.b; vgl. bbc.com o.D.c).
Stärke der Taliban-Kampftruppen
Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konnten die Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind (orf.at o.D.b).
[…]“
1.4.3. Sonderkurzinformation der Staatendokumentation vom 17.08.2021:
„Aktuelle Lage in Afghanistan:
Anbei eine Zusammenfassung zur derzeitigen Lage in Afghanistan.
Diese kann sich aufgrund der derzeit sehr volatilen Lage im Land jederzeit rasch ändern!
Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ist angesichts des Vormarsches der Taliban auf Kabul außer Landes geflohen. Laut al-Jazeera soll das Ziel Taschkent in Usbekistan sein. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über den Präsidentenpalast in Kabul übernommen. Suhail Schahin, ein Unterhändler der Taliban bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, versicherte den Menschen in Kabul eine friedliche Machtübernahme und keine Racheakte an irgendjemanden zu begehen (tagesschau.de 15.8.2021).
Am 15.08.21 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von welchem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen. In einigen der Städte seien Gefängnisse gestürmt und Insassen befreit worden (BAMF 16.8.2021; vgl. bbc.com o.D., orf.at 16.8.2021).
Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen (orf.at 16.8.2021a).
Schätzungen zufolge wurden seit Anfang 2021 über 550.000 Afghanen durch den Konflikt innerhalb des Landes vertrieben, darunter 126.000 neue Binnenvertriebene zwischen dem 7. Juli 2021 und dem 9. August 2021. Es gibt zwar noch keine genauen Zahlen über die Zahl der Afghanen, die aufgrund der Feindseligkeiten und Menschenrechtsverletzungen aus dem Land geflohen sind, es deuten aber Quellen darauf hin, dass Zehntausende von Afghanen in den letzten Wochen internationale Grenzen überquert haben (UNHCR 8.2021).
Der Iran richtete angesichts des Eroberungszugs der militant-islamistischen Taliban im Nachbarland Pufferzonen für Geflüchtete aus dem Krisenstaat ein. Die drei Pufferzonen an den Grenzübergängen im Nord- sowie Südosten des Landes sollen afghanischen Geflüchteten vorerst Schutz und Sicherheit bieten. Indes schloss Pakistan am Sonntag einen wichtigen Grenzübergang zu seinem Nachbarland. Innenminister Sheikh Rashid verkündete die Schließung des Grenzübergangs Torkham im Nordwesten Pakistans am Sonntag, ohne einen Termin für die Wiedereröffnung zu nennen. Tausende Menschen säßen auf beiden Seiten der Grenze fest (orf.at 16.8.2021b).
Mittlerweile baut die Türkei an der Grenze zum Iran weiter an einer Mauer. Damit will die Türkei die erwartete Ankunft von afghanischen Flüchtlingen verhindern (Die Presse 17.8.2021).
Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge (bisherige Ausnahme: Flughafen Kabul). Seit Besetzung der strategischen Stadt Jalalabad durch die Taliban, wurde eine Fluchtbewegung in den Osten (Richtung Pakistan) deutlich erschwert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen aus dem westlichen Teil des Landes oder aus Kabul nach Pakistan gelangen ist gegenwärtig eher gering einzuschätzen. Es ist naheliegender, dass Fluchtrouten ins Ausland über den Iran verlaufen. Es ist jedoch auch denkbar, dass die mehrheitlich sunnitische Bevölkerung Afghanistans (statt einer Route über den schiitisch dominierten Iran) stattdessen die nördliche, alternative Route über Tadschikistan oder auch Turkmenistan wählt. Bereits vor zwei Monaten kam es laut EU-Kollegen zu einem Anstieg von Ankünften afghanischer Staatsbürger in die Türkei. Insofern ist davon auszugehen, dass eine erste Migrationsbewegung bereits stattgefunden hat. Pakistan gibt laut Medienberichten an, dass der Grenzzaun an der afghanisch-pakistanischen Grenze halte (laut offiziellen Angaben sind etwa 90 Prozent fertiggestellt) (VB 17.8.2021).
Laut Treffen mit Frontex, kann zur Türkei derzeit noch keine Veränderung der Migrationsströme festgestellt werden. Es finden täglich nach Schätzungen ca. max. 500 Personen ihren Weg (geschleust) vom Iran in die Türkei. Dies ist aber keine außergewöhnlich hohe Zahl, sondern eher der Durchschnitt. Der Ausbau der Sicherung der Grenze zum Iran mit Mauer und Türmen schreitet immer weiter voran, und nach einstimmiger Meinung von Mig VB und anderen Experten kann die Türkei mit ihrem Militär (Hauptverantwortlich für die Grenzsicherung) und Organisationen (Jandarma, DCMM) jederzeit, je nach Bedarf die illegale Einreise von Flüchtlingen aus dem Iran kontrollieren. Die Türkei ist jedoch - was Afghanistan angeht - mit sehr hohem Interesse engagiert. Auch die Türkei möchte keine neunen massiven Flüchtlingsströme über den Iran in die Türkei (VB 17.8.2021a).
IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf (IOM 16.8.2021).
Während die radikalislamischen Taliban ihren Feldzug durch Afghanistan vorantreiben, gehören Frauen und Mädchen zu den am meisten gefährdeten Gruppen. Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996–2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß. Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban (orf.at 17.8.2021).
[…]“
1.4.4. ACCORD: ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan: Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan, 12. August 2021:
„Aktuelle sicherheitsrelevante Entwicklungen [Stand 23. August 2021]:
Anmerkung: Dieser Abschnitt wird mindestens wöchentlich aktualisiert. Die übrigen Kapitel werden seltener aktualisiert.
Al Jazeera berichtet am 23. August 2021, dass die Taliban vor den Konsequenzen einer etwaigen Verzögerung des ausländischen Truppenabzuges warnen und einer Verlängerung der Evakuierungsmission aus Afghanistan nicht zustimmen werden. (Al Jazeera, 23. August 2021) Währenddessen hält das Chaos am Kabuler Flughafen, wo westliche Länder versuchen eigene StaatsbürgerInnen und afghanische Ortskräfte zu evakuieren, an. (BBC, 19. August 2021) Einem UNO-Dokument zufolge intensivieren die Taliban die Verfolgung von Personen, die für die NATO und die US-Streitkräfte gearbeitet haben. (BBC, 19. August 2021)
Die internationale Nachrichtenagentur Inter Press Service (IPS) berichtet, dass Afghanistan seit der Übernahme durch die Taliban wieder zu einem sehr gefährlichen Ort für Frauen geworden ist (IPS, 17. August 2021) sowie von der Angst und den Befürchtungen vieler JournalistInnen. (IPS, 19. August 2021)
Anmerkung: Die folgenden Inhalte dieses Themendossiers werden monatlich aktualisiert.
1. Sicherheitslage im Land [Stand: 11. August 2021]
2021
Die Vereinten Nationen verzeichneten zwischen dem 13. November und dem 11. Februar 7.138 sicherheitsrelevante Vorfälle, ein Anstieg um 46,7 Prozent im Vergleich zum selben Zeitraum im Jahr 2020 und im Gegensatz zu den traditionell niedrigeren Zahlen während der Wintersaison. Die etablierten Trends der Art der Vorfälle blieben unverändert, wobei bewaffnete Zusammenstöße 63,6 Prozent aller Vorfälle ausmachten. Regierungsfeindliche Elemente waren für 85,7 Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle verantwortlich, einschließlich 92,1 Prozent der bewaffneten Zusammenstöße. Die südlichen, gefolgt von den östlichen und nördlichen Regionen, verzeichneten die meisten sicherheitsrelevanten Vorfälle. Auf diese Regionen entfielen zusammen 68,9 Prozent aller registrierten Vorfälle, wobei die meisten Vorfälle in den Provinzen Helmand, Kandahar, Nangarhar und Balkh verzeichnet wurden. [...] Keine Konfliktpartei konnte nennenswerte Gebietsgewinne erzielen. Die Taliban hielten den Druck auf wichtige Verkehrsachsen und städtische Zentren aufrecht, darunter auch gefährdete Provinzhauptstädte wie in den Provinzen Farah, Kunduz, Helmand und Kandahar. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen durch, um wichtige Fernstraßen zu sichern und Taliban-Gewinne wieder zurückzubringen, insbesondere im Süden nach den jüngsten Offensiven der Taliban auf die Städte Lashkar Gah und Kandahar. (UNGA, 12. März 2021, S. 5)[i]
Am 15. Jänner gaben die Vereinigten Staaten bekannt, dass ihre Streitkräfte in Afghanistan auf 2.500 reduziert wurden. (UNGA, 12. März 2021, S. 3)
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg gab bekannt, dass die Verteidigungsminister beschlossen haben, eine endgültige Entscheidung über die Zukunft der NATO-Präsenz in Afghanistan bis zu weiteren Konsultationen vor dem Stichtag 1. Mai 2021 aufzuschieben. (UNGA, 12. März 2021, S. 4)
Am 14. April kündigte US-Präsident Joe Biden den Truppenabzug der USA wie auch der NATO-Verbündeten bis 11. September 2021 an. Zwar kam diese Ankündigung aufgrund des im Februar 2020 in Doha unterzeichneten Abkommens zwischen den USA und den Taliban nicht ganz unerwartet, allerdings doch mit deutlichen Abweichungen von dem, was ursprünglich erwartet wurde. Auf der Grundlage des Doha-Abkommens zwischen den USA und den Taliban wurde davon ausgegangen, dass die Bedingungen für einen vollständigen Abzug ausländischer Streitkräfte ein deutlicher Rückgang der Gewalt und zumindest die Schaffung eines Rahmens für die politische Einigung zwischen der Regierung und den Taliban wären. Biden stellte jedoch klar, dass dies nicht der Fall sei, indem er darauf verwies, dass amerikanische Truppen nicht als Druckmittel zwischen Kriegsparteien in anderen Ländern benutzt werden sollten. Die Ankündigung des Truppenabzuges löste eine Reihe an Reaktionen aus, die sich auf die politische und sicherheitspolitische Situation Afghanistans auswirken. Die Entscheidung, den Truppenabzug vollständig und bedingungslos durchzuführen, hat in Verbindung mit der anhaltenden Weigerung der Taliban, mit der Regierung ernsthaft in Verhandlungen zu treten, den Eindruck erweckt, dass die Taliban nach dem vollständigen Abzug der ausländischen Truppen im September auf eine militärische Übernahme des Landes drängen werden. Besonders hervorzuheben ist, dass Machthaber zum ersten Mal seit 20 Jahren öffentlich über die Mobilisierung bewaffneter Kräfte außerhalb der ANSF- und Regierungsstrukturen sprechen. Während die Existenz von Milizen für viele Afghanen seit Jahren auf lokaler Ebene eine Realität darstellt, wurden noch nie öffentliche Äußerungen über die Notwendigkeit einer Mobilisierung oder der Wunsch, autonome Einflusssphären zu schaffen, so deutlich bekundet. (AAN, 10. Juni 2021)[ii]
UNAMA warnt in einer Presseaussendung im Juli 2021, dass die Zahl der zivilen Opfer im Jahr 2021 droht einen noch nie dagewesenen Höchststand zu erreichen, wenn nicht dringend Maßnahmen zur Eindämmung der Gewalt ergriffen werden. (UNAMA, 26. Juli 2021)[iii]
Zwischen dem 1. Januar und dem 30. Juni 2021 dokumentierte die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) 5.183 zivile Opfer (1.659 Tote und 3.524 Verletzte). Die Gesamtzahl der getöteten und verletzten ZivilistInnen stieg im Vergleich zur ersten Jahreshälfte 2020 um 47 Prozent und drehte damit den Trend der letzten vier Jahre um, wonach die Zahl der zivilen Opfer in den ersten sechs Monaten des Jahres kontinuierlich zurückging. Die Zahl der zivilen Opfer stieg wieder auf das Rekordniveau der ersten sechs Monate der Jahre 2014 bis 2018 und umfassten sowohl Frauen, Mädchen, Jungen als auch Männer. Besonders besorgniserregend ist, dass die UNAMA eine Rekordzahl von getöteten und verletzten Mädchen und Frauen sowie eine Rekordzahl von Opfern bei Kindern insgesamt verzeichnete. (UNAMA, Juli 2021, S. 1)
Der UNAMA-Bericht über zivile Opfer in den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 enthält das folgende Diagramm zu zivilen Opferzahlen:
(UNAMA, Juli 2021, S. 1)
In den ersten sechs Monaten des Jahres 2021 und im Vergleich zum Vorjahreszeitraum dokumentierte die UNAMA einen durch improvisierte Sprengsätze (IEDs), die keine Selbstmordattentate darstellten, verursachten Anstieg der zivilen Opfer um fast das Dreifache. Dies waren die meisten zivilen Opfer, die durch derartige Sprengsätze in den ersten sechs Monaten eines Jahres verursacht wurden, seit die UNAMA im Jahr 2009 mit der systematischen Dokumentation ziviler Opfer in Afghanistan begann. Die Zahl der zivilen Opfer bei Bodenkämpfen, die hauptsächlich den Taliban und den afghanischen Sicherheitskräften zugeschrieben werden, stieg ebenfalls erheblich. Gezielte Tötungen durch regierungsfeindliche Kräfte blieben auf ähnlich hohem Niveau. Luftangriffe von regierungsfreundlichen Kräften führten zu einem Anstieg der Zahl der zivilen Opfer, der hauptsächlich der afghanischen Luftwaffe zugeschrieben wird. (UNAMA, Juli 2021, S. 1)
Regierungsfeindliche Kräfte waren für fast 64 Prozent der gesamten zivilen Opfer verantwortlich: 39 Prozent entfielen auf die Taliban, fast neun Prozent auf den Islamischen Staat in der Provinz Khorasan (ISKP) und 16 Prozent auf nicht näher definierte regierungsfeindliche Kräfte. Regierungsnahe Kräfte waren für 25 Prozent der zivilen Opfer verantwortlich: 23 Prozent durch nationale afghanische Sicherheitskräfte und fast zwei Prozent durch regierungsnahe bewaffnete Gruppen und nicht näher definierte regierungsnahe Kräfte. Die verbleibenden 11 Prozent der zivilen Opfer führte die UNAMA auf „Kreuzfeuer“ bei Bodenkämpfen zurück, hauptsächlich zwischen afghanischen Sicherheitskräften und Taliban, bei denen die genaue verantwortliche Partei nicht ermittelt werden konnte (9 Prozent), sowie auf andere, hauptsächlich explosive Kampfmittelrückstände, bei denen die verantwortliche Partei nicht ermittelt werden konnte (2 Prozent). Die Zahl der zivilen Opfer, die regierungsfeindlichen Elementen zugeschrieben wurden, stieg im Vergleich zum gleichen Zeitraum im Jahr 2020 um 63 Prozent, während die Zahl der zivilen Opfer, die regierungsfreundlichen Kräften zugeschrieben wurden, um 30 Prozent zunahm. (UNAMA, Juli 2021, S. 3-4)
Der Afghanistan Independent Human Rights Commission (AIHRC) folgend, hat die Eskalation von Krieg und Gewalt in verschiedenen Teilen Afghanistans, insbesondere in den letzten zwei Monaten, das Leben der afghanischen Bevölkerung schwer beeinträchtigt. Nach den Erkenntnissen der AIHRC haben die Anzahl ziviler Opfer, die Vertreibung der Bevölkerung und die verheerenden Auswirkungen der Gewalt in verschiedenen Provinzen zugenommen, weil die Konfliktparteien das humanitäre Völkerrecht nicht einhalten. Der Kommission zufolge schränken die Taliban nachdem sie Bezirke eingenommen haben, die Grundrechte und Grundfreiheiten der Bevölkerung in mehreren Provinzen ein, insbesondere jene von Frauen, wie z. B. den Zugang zu Gesundheits- und Bildungsdienstleistungen. (AIHRC, 17. Juli 2021)[iv] Weitere Informationen über den Umgang der Taliban mit der Zivilbevölkerung in den von ihnen eingenommenen Gebieten finden sich in Abschnitt 2.2.
UNICEF berichtet 2021 von einer raschen Eskalation der schweren Übergriffe auf Kinder in Afghanistan. Im Zeitraum zwischen 6. und 9. August wurden in der Provinz Kandahar 20 Kinder getötet und 130 Kinder verletzt, in der Provinz Chost wurden 2 Kinder getötet und 3 verletzt und in der Provinz Paktia wurden 5 Kinder getötet und 3 verletzt. (UNICEF, 9. August 2021)[v]
Die Jamestown Foundation (JF) berichtete, dass infolge des kontinuierlichen Abzugs der amerikanischen Streitkräfte und der daraus resultierenden Schwächung der afghanischen Regierung, die Taliban nun einen Großteil des afghanischen Territoriums sowie die meisten der nördlichen Grenzen kontrollieren. Die Situation bleibt unbeständig und unvorhersehbar, unter anderem weil der Fall Nordafghanistans durch die Taliban so unerwartet und schnell kam. In den letzten 20 Jahren, so der in Kabul lebende Journalist Fakhim Sabir, war der afghanische Norden immer das Zentrum des Widerstands gegen die Taliban. Die Bevölkerung im Norden spielte eine zentrale Rolle beim Sturz der früheren Taliban-Herrschaft und westliche Streitkräfte haben dort nur selten gekämpft und sich stattdessen auf den Süden, dem traditionellen Stützpunkt der Taliban, konzentriert. (JF, 13. Juli 2021)[vi]
Laut dem Afghanistan Analyst Network (AAN) hat die afghanische Regierung weitere Distriktzentren an die Taliban verloren. Mit Stand Mitte Juli haben die Aufständischen seit dem 1. Mai die Kontrolle über fast 200 Distriktzentren erlangt, die meisten davon seit Mitte Juni. Zusammen mit den bereits von ihnen kontrollierten Distriktzentren halten die Aufständischen damit etwas mehr als die Hälfte aller afghanischen Distriktzentren unter ihrer Kontrolle. Die Lage der eroberten Distrikte zeigt, dass sich die Strategie der Taliban anfänglich auf einen Vorstoß im Norden, wo der Widerstand gegen ihre Herrschaft Ende der 1990er/Anfang der 2000er Jahre am stärksten war, sowie auf Grenzübergänge und andere lukrative Orte fokussiere. (AAN, 16. Juli 2021)
Am 10. August 2021 berichteten BBC und Al Jazeera von der Einnahme der Provinzhauptstädte Kundus, Sar-i Pul, Taloqan, Scherberghan, Samangan und Faizabad, Pol-e Chomri im Norden sowie von Sarandsch und Farah im Südwesten innerhalb von nur vier Tagen durch die Taliban. (BBC, 10. August 2021; Al Jazeera, 10. August 2021)[vii].
Nach Recherchen des afghanischen BBC-Dienstes sind die Taliban nun im ganzen Land stark vertreten, auch im Norden und Nordosten sowie in zentralen Provinzen wie Ghazni und Maidan Wardak. Sie nähern sich auch Herat im Westen und den südlichen Städten Kandahar und Lashkar Gah. (BBC, 10. August 2021)[viii]
Die folgende von BBC zur Verfügung gestellte Karte zeigt die Verteilung der Distriktkontrolle mit Stand vom 10. August 2021. (Als von den Taliban kontrolliert definiert BBC jene Distrikte, in denen das Polizeipräsidium und alle anderen Regierungseinrichtungen von den Taliban gehalten werden):
Mit Stand vom 25. Juli 2021 meldete UNOCHA 359.002 konfliktbedingte Vertriebene innerhalb Afghanistans. (UNOCHA, 5. August 2021, S. 1)[ix] Anfang August berichtete The New Humanitarian (TNH) von schätzungsweise 500 bis 2.000 täglich in der Türkei ankommenden afghanischen Flüchtlingen. Es wird erwartet, dass diese Zahl momentan im Steigen begriffen ist. (TNH, 3. August 2021)[x]
Im Mai wurden in Afghanistan 260 zivile Opfer und 405 Opfer unter den Regierungskräften verzeichnet, die höchste Anzahl an Todesopfer in einem einzelnen Monat seit Juli 2019. (NYT, 3. Juni 2021)[xi]
Im Juni starben 206 ZivilistInnen und 703 Mitglieder der afghanischen Sicherheitskräfte, dies stellt die höchste Opferzahl unter Sicherheitskräften seit Beginn der Aufzeichnungen der New York Times im September 2018 dar. (NYT, 1. Juli 2021)
Im Juli 2021 verzeichnete die New York Times 335 Todesopfer unter den afghanischen Sicherheitskräften und 189 zivile Opfer in Afghanistan. (NYT, 5. August 2021)
[Anmerkung: Die Zahlen der New York Times (NYT) sind aus methodischen Gründen niedriger als die der UNAMA. Der zitierte NYT Afghan War Casualty Report enthält alle signifikanten Sicherheitsvorfälle, die von New York Times-Reportern bestätigt wurden. Die Zahlen sind nach Angaben der NYT unvollständig, da viele lokale Beamte die Angaben zu den Opfern nicht bestätigen.]
Informationen zur Sicherheitslage in Afghanistan im Zeitraum Jänner 2010 bis September 2018 finden sich in einem von ACCORD zusammengestellten im Dezember 2018 veröffentlichten Bericht zur Entwicklung der wirtschaftlichen Situation, der Versorgungs- und Sicherheitslage. (ACCORD, 7. Dezember 2018)
2. Staatliche und nicht-staatliche Akteure [Stand: 11. August 2021]
2.1. Afghanische Regierung und Sicherheitskräfte
Laut dem Menschenrechtsbericht des US-amerikanischen Außenministeriums (US Department of State, USDOS) für das Jahr 2020 teilen sich drei Regierungsstellen die Verantwortung für die Durchsetzung der Gesetze und die Aufrechterhaltung der Ordnung im Land: das Innenministerium, das Verteidigungsministerium und das Nationale Direktorat für Sicherheit. Die afghanische Nationalpolizei [Afghan National Police], die dem Innenministerium unterstellt ist, trägt die Hauptverantwortung für die innere Ordnung und für die afghanische Lokalpolizei [Afghan Local Police], eine gemeindebasierte Selbstverteidigungstruppe, die rechtlich nicht befugt ist, Verhaftungen vorzunehmen oder Verbrechen unabhängig zu untersuchen. Im Juni kündigte Präsident Ghani Pläne an, die afg