TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/19 W182 2227202-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.08.2021
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Entscheidungsdatum

19.08.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §7 Abs1
AsylG 2005 §7 Abs4
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §52 Abs2
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch


W182 2227202-2/21E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. PFEILER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.08.2020, Zl. 740883501/151870561, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I. Nr. 33/2013 idgF, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird gemäß §§ 7 Abs. 1 und Abs. 4, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1, 57 Asylgesetz 2005, BGBl. I. Nr. 100/2005 (AsylG 2005) idgF, § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl I. Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, §§ 52 Abs. 2, Abs. 9, 53 Abs. 1 iVm Abs. 3, 55 Abs. 1 - 3 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I. Nr. 100/2005 (FPG) idgF, mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass dass die Dauer des Einreiseverbotes auf fünf Jahre herabgesetzt wird.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz, BGBl. Nr. 1/1930 (B-VG) idgF, nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden auch BF), ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, reiste im Alter von XXXX Jahren zusammen mit seinen Eltern sowie seinem minderjährigen Bruder illegal in das Bundesgebiet ein und stellte über seine gesetzlichen Vertreter am 26.04.2004 einen Asylantrag, welcher zunächst mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 30.05.2005, Zl. 04 08.835-BAT, abgewiesen wurde.

Mit rechtskräftigem Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates (UBAS) vom 03.06.2008, Zl. 315.304-1/3E-IX/27/07, wurde der gegen diesen Bescheid eingebrachten Berufung stattgegeben und dem BF gemäß § 11 AsylG 1997 durch Erstreckung Asyl gewährt sowie gemäß § 12 leg. cit. festgestellt, dass diesem damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass dem Vater des Beschwerdeführers mit Bescheid desselben Tages Asyl gemäß § 7 AsylG zuerkannt worden sei, weshalb den Asylerstreckungsanträgen dessen Frau und Kindern ebenfalls stattzugeben wäre.

2. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX zur Zahl XXXX , rechtskräftig am XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB, des Verbrechens (seit der Strafrechtsnovelle 2015 Vergehens) des Diebstahls durch Einbruch nach § 129 Z 3 StGB, des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB, des Vergehens des versuchten Diebstahls gemäß §§ 15 iVm 127 StGB sowie des Vergehens des unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen gemäß § 136 Abs. 1 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe im Ausmaß von vier Monaten auf eine Probezeit von drei Jahren verurteilt.

Der Verurteilung liegt zugrunde, dass der BF am XXXX 2010 durch Aufbrechen der Halterungsvorrichtung des Vorhängeschlosses eine Zeitungskasse gestohlen hat, am XXXX 2010 eine Person durch die Äußerung: „ XXXX “ zumindest mit Verletzungen gefährlich bedroht hat, am XXXX 2010 ein Kleinkraftrad ohne Einwilligung des Berechtigten in Gebrauch genommen hat und am XXXX 2011 versucht hat, in einem Geschäft Waren im Gesamtwert von XXXX zu stehlen. Mildernd wurde das Geständnis, der bisherige ordentliche Lebenswandel, die problematische Entwicklung des Angeklagten, als erschwerend die Vielzahl der Tathandlungen eingeschätzt.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX zur Zahl XXXX , rechtskräftig am XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens der schweren Sachbeschädigung nach §§ 125 StGB, 126 Abs. 1 Z 5 und 6 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe im Ausmaß von sechs Monaten auf eine Probezeit von drei Jahren verurteilt, wobei unter einem die Probezeit aus seiner vorangegangenen Straftat auf insgesamt fünf Jahre ausgedehnt wurde.

Der Verurteilung liegt zugrunde, dass der BF mit Mittätern am XXXX .2010 das Glas von XXXX eingeschlagen, XXXX zerstört und bei einem PKW u.a. die Heckscheibe eingeschlagen sowie als Einzeltäter bei einem PKW einen Außenspiegel zerstört, bei einem zweiten PKW XXXX herbeigeführt, ein Fahrrad durch XXXX beschädigt und bei einem dritten PKW einen Außenspiegel heruntergetreten hat. Dabei ist ein Sachschaden von zusammengerechnet XXXX entstanden.

Als mildernd wurde das Geständnis und der bisherige ordentliche Lebenswandel, als erschwerend das Zusammentreffen von Verbrechen und Vergehen, die Tatwiederholungen und die Begehung einer weiteren Straftat trotz anhängigen Strafverfahrens gewürdigt.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX zur Zahl XXXX , rechtskräftig am XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB sowie des Verbrechens des Raubes gemäß § 142 Abs. 1 und 2 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe im Ausmaß von vier Monaten auf eine Probezeit von drei Jahren verurteilt, wobei unter einem die Probezeit aus seiner vorangegangenen Straftat auf insgesamt fünf Jahre ausgedehnt wurde.

Der Verurteilung liegt zugrunde, dass der BF mit Mittätern am XXXX .2010 in einem Regionalzug eine Person in eine Sitzgruppe gedrängt, den Weg versperrt, zwei Schläge in die Bauchgegend versetzt und ihm eine Schirmkappe im Wert von XXXX weggenommen hat. Am XXXX 2011 hat der BF im Zuge einer tätlichen Auseinandersetzung eine Person vorsätzlich am Körper verletzt, indem er ihr eine XXXX zugefügt hat.

Als mildernd wurde das Geständnis und die Schadensgutmachung, als erschwerend das Zusammentreffen von einem Verbrechen mit einem Vergehen angenommen.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX zur Zahl XXXX , rechtskräftig am XXXX , wurde der BF wegen des Verbrechens des teils vollendeten, teils versuchten gewerbsmäßig begangenen Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 129 Z 2, 130 4. Fall, 15 StGB, des Vergehens der versuchten Körperverletzung gemäß §§ 15, 83 Abs. 1 StGB, des Verbrechens des Raubes gemäß § 142 Abs. 1 StGB, des Vergehens der gefährlichen Drohung gemäß §§ 107 Abs. 1 und 2 StGB, des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von 18 Monaten, davon 12 Monate bedingt auf eine Probezeit von drei Jahren verurteilt.

Der Verurteilung liegt zugrunde, dass der BF am XXXX 2012 mit einem Mittäter einer Person durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben ein Mobiltelefon weggenommen hat, indem sie dieser zunächst nachliefen, abwechselnd XXXX , der Mittäter mit dem Arm um den Hals des Flüchtenden fasste und beide unter Androhung von Schlägen seine Wertsachen forderten. Weiters bedrohten sie das Opfer gefährlich mit dem Tod, indem sie nach der beschriebenen Tat mehrmals äußerten: „ XXXX “, wobei sie die Person vorsätzlich am Körper zu verletzen versuchten, indem sie ihr nach der beschriebenen Tat Tritte in den Rücken versetzten. Weiters hat der BF und ein Mittäter am XXXX 2012 zwei Getränkeautomaten aufgebrochen und sich dadurch Münzgeld in der Höhe von XXXX angeeignet. Zudem haben sie am XXXX 2012 in zwei Angriffen und am XXXX 2012 in einem Angriff getrachtet, Getränkeautomaten aufzubrechen. Letztlich hat der BF am XXXX 2012 eine Garnitur der österreichischen Bundesbahnen verunstaltet, indem er die Plastikverkleidung mit einem Filzstift beschmierte und dadurch einen Schaden von XXXX verursachte.

Als mildernd wurde das Geständnis, als erschwerend die einschlägigen Vorstrafen, der rasche Rückfall und das Zusammentreffen von Verbrechen und Vergehen beurteilt.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX zur Zahl XXXX , rechtskräftig am XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 und 2 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe im Ausmaß von 10 Monaten verurteilt.

Der bedingt nachgesehene Teil der Freiheitsstrafen des Urteils vom XXXX sowie die diesbezügliche (vorzeitige) bedingte Entlassung wurden mit Beschluss widerrufen.

Der Verurteilung liegt zugrunde, dass der BF am XXXX .2013 eine Person gefährlich mit dem Tod bedroht hat, indem er XXXX , sie an der Jacke gepackt, zu Boden gestoßen und dann geäußert hat: „ XXXX .“

Als mildernd wurde das Geständnis, als erschwerend die einschlägigen Vorstrafen und der rasche Rückfall gewertet.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom XXXX zur Zahl XXXX , rechtskräftig mit Urteil des Oberlabdesgerichtes XXXX vom XXXX , zur Zahl XXXX , wurde der BF wegen des Verbrechens (seit der Strafrechtsnovelle 2015 Vergehens) des Diebstahls durch Einbruch nach § 127, 129 Z 3 StGB sowie des Verbrechens des Diebstahls durch Einbruch nach § 127, 129 Z 2 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe im Ausmaß von 6 Monaten verurteilt. Mit Beschluss wurde die (vorzeitige) bedingte Entlassung zum Urteil vom XXXX widerrufen.

Der Verurteilung liegt zugrunde, dass der BF und ein Mittäter am XXXX 2012 zwei Fahrräder im Wert von insgesamt rund € XXXX durch Aufbrechen einer Sperrvorrichtung gestohlen haben, sowie am XXXX 2014 durch Einschlagen der Plexiglasscheibe von Getränkeautomaten eine Münzkasse samt Bargeld in der Höhe von XXXX sowie aus einem im Automaten befindlichen Geldsack Bargeld in Höhe von XXXX gestohlen haben. Als mildernd wurde die größtenteils geständige Verantwortung, die teilweise erfolgte Schadensgutmachung und die teilweise Begehung von der letzten Verurteilung, als erschwerend die zahlreichen einschlägigen Vorstrafen, der extrem rasche Rückfall nach der bedingten Entlassung und das Begehen innerhalb offener Probezeit gewertet.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom XXXX zur Zahl XXXX , rechtskräftig mit Urteil des Oberlandesgerichts XXXX vom XXXX , zur Zahl XXXX , wurde der BF wegen des Verbrechens (seit der Strafrechtsnovelle 2015 Vergehens) des teils durch Einbruch begangenen Diebstahls teils als Beitragstäter nach §§ 127, 129 Z 2, 12 dritter Fall StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe im Ausmaß von 11 Monaten verurteilt.

Der Verurteilung liegt zugrunde, dass der BF am XXXX .2015 als Beitragstäter aufpasste, um seine Mittäter, die einen Getränkeautomaten aufbrachen und Bargeld in der Höhe von XXXX wegnahmen, erforderlichenfalls zu warnen. Am XXXX 2015 hat der BF mit einem Mittäter in einem Geschäft versucht, Kleidung im Wert von XXXX zu stehlen.

Als mildernd wurde das Geständnis, der Versuch sowie der Umstand, dass er die Taten als junger Erwachsener unter 21 Jahren begangen hat, als erschwerend die Tatwiederholung, die Begehung der Taten innerhalb offener Probezeiten, der sofortige Rückfall nach der letzten Verurteilung am XXXX 2015 sowie die einschlägigen Vorstrafen gewürdigt.

Mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom XXXX zur Zahl XXXX , rechtskräftig am XXXX , wurde der BF wegen des Vergehens der Urkundenfälschung nach § 223 Abs. 2 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe im Ausmaß von 6 Monaten auf eine Probezeit von drei Jahren verurteilt.

Der Verurteilung liegt zugrunde, dass der BF am XXXX .2019 eine von ihm selbst am PC erstellte falsche Urkunde auf eine Plastikkarte geklebt hat, um im Zuge einer Fahrscheinkontrolle nachzuweisen, dass er als Lehrling beschäftigt ist.

Als mildernd wurde das Geständnis, als erschwerend kein Umstand gewertet.

Der BF hat sich vom XXXX 2012 bis XXXX .2012, vom XXXX 2013 bis XXXX 2014 und vom XXXX 2016 bis XXXX 2018 in Justizhaft befunden.

Seit XXXX 2021 befindet der BF sich wieder in Untersuchungshaft.

Am 17.05.2021 übermittelte die LPD XXXX ein Straferkenntnis, in welchem über den BF aufgrund des Lenkens eines Fahrzeugs in einem durch Suchtgift beeinträchtigten Zustand und ohne Besitz einer entsprechenden Lenkerberechtigung sowie der Nichtbefolgung der Anhalteaufforderung durch ein Straßenaufsichtsorgan die Zahlung einer Geldstrafe von € XXXX verhängt worden ist.

Am 07.06.2021 wurde seitens der LPD XXXX ein Abschlussbericht an die Staatsanwaltschaft vom XXXX 2021 übermittelt, aus dem hervorgeht, dass der Beschwerdeführer im Verdacht stehe, einer Person mit Gewalt und unter Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben Drogen ( XXXX ) und Bargeld im Gesamtwert von XXXX abgenommen sowie das Opfer und eine weitere Person dazu bestimmt zu haben, vor der Kriminalpolizei falsch auszusagen. Am 29.06.2021 wurde ein weiterer Abschlussbericht der LPD XXXX an die Staatsanwaltschaft vom XXXX 2021 übermittelt, wonach gegen den BF der Verdacht bestehe, dass dieser eine Person in einem Park gefährlich bedroht habe.

3. Aufgrund der rechtskräftigen Verurteilungen des Beschwerdeführers leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein Aberkennungsverfahren gegen diesen ein.

In einer Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 05.12.2019 wurde der BF im Wesentlichen zu seinen Befürchtungen bei einer Rückkehr ins Herkunftsland sowie seinen persönlichen Verhältnissen in der Russischen Föderation und in Österreich befragt.

Mit Bescheid vom 09.12.2019 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem BF den ihm mit Bescheid des UBAS vom 03.06.2008 zuerkannten Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, ab und stellte gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 fest, dass dem Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012, wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005, erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.). Für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 5 FPG wurde gegen den Beschwerdeführer ein Einreiseverbot im Ausmaß von zehn Jahren erlassen (Spruchpunkt VII.). Das Bundesamt begründete seine Entscheidung mit der in Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK vorgesehenen "Wegfall der Umstände"-Klausel, wobei es ausschließlich auf Umstände Bezug nahm, die unmittelbar den BF betrafen.

Einer dagegen erhobenen Beschwerde wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29.04.2020, Zl. W182 2227202-1/2E, stattgegeben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) BGBl. I Nr. 33/2013 idgF zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Erstinstanz zurückverwiesen. Begründend wurde im Wesentlichen dargelegt, dass das Ermittlungsverfahren der belangten Behörde sich unter Zugrundelegung der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes vom 23.10.2019, Zl. Ra 2019/19/0059, als gänzlich ungeeignet erweist, um die Entscheidung zu stützen, da keine nachvollziehbaren Ermittlungen hinsichtlich der konkreten ursprünglichen Fluchtgründe des Vater des BF, von dem sich über Erstreckung der Asylstatus des BF ableitet, vorgenommen wurden und dieser auch nicht dazu befragt wurde.

4. Am 08.06.2020 wurde der Vater des BF beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen.

5. Mit obgenanntem, gegenständlich angefochtenem Bescheid vom 05.08.2020 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem BF den ihm mit Bescheid des UBAS vom 03.06.2008 zuerkannten Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 2 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, ab und stellte gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 fest, dass dem Beschwerdeführer die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 wurde dem BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012, wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005, erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.). Für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 5 FPG wurde gegen den Beschwerdeführer ein Einreiseverbot im Ausmaß von zehn Jahren erlassen (Spruchpunkt VII.). Die Behörde hielt in der Begründung im Wesentlichen an der Argumentation, der sie sich bereits im Bescheid vom 09.12.2019 bediente, fest. Entgegen der ihr mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29.04.2020 zu Kenntnis gebrachten Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes vom 23.10.2019, Zl. Ra 2019/19/0059, vertrat die Behörde die Ansicht, dass die Straffälligkeit des BF ein Berufen auf ein weiter bestehendes Familienverfahren unzulässig mache, sodass die früher bestehenden Voraussetzungen für eine Schutzgewährung aufgrund eines Familienverfahrens nicht mehr gegeben seien, weshalb dem BF der Status des Asylberechtigten nach § 7 Abs. 1 Z 2 abzuerkennen sei.

6. Gegen diesen Bescheid erhob der BF fristgerecht Beschwerde in vollem Umfang. Darin wurden der Behörde im Wesentlichen grobe Ermittlungsmängel angelastet. So wurde etwa bemängelt, dass das Bundesamt keine ergänzende Einvernahme des BF durchgeführt habe. Auch sonst habe vor der Zustellung des teilweise mit dem durch Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29.04.2020 behobenen Bescheid identen nunmehrigen Bescheid kein für den Beschwerdeführer wahrnehmbares Ermittlungsverfahren stattgefunden. Auch die Länderinformationen zum Herkunftsstaat seien seitens der Behörde nicht aktualisiert worden. Weiters wurde auf die ständige Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes hingewiesen, wonach es für die Gefährdungsannahme nicht ausreiche, wie im bekämpften Bescheid im Wesentlichen nur die Urteilsdaten der Strafregisterauskunft folgend festzustellen. Es wurde u.a. die Durchführung einer Beschwerdeverhandlung beantragt.

7. Am 05.05.2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung statt. Das Beschwerdeverfahren des BF wurde mit jenem seines Vaters zur Zl. W182 1261319-3 zur gemeinsamen Verhandlung zusammengezogen und beide im Beisein einer Dolmetscherin für die russische Sprache befragt.

Der BF gab dabei u.a. an, ledig und kinderlos zu sein. Im Bundesgebiet würden sich seine drei Brüder und seine Eltern aufhalten, mit denen er nach wie vor zusammenwohne. Sein Vater sei aktuell bei einer Reinigungsfirma tätig, seine Mutter arbeitslos. Sein ältester Bruder sei gegenwärtig auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Von seiner bisherigen Freundin habe sich der BF getrennt. Kontakt zu seinen im Heimatland lebenden Verwandten habe er seit seiner Ausreise kaum mehr gehabt. Insgesamt verfüge der BF in Tschetschenien neben seiner Großmutter noch über diverse Onkel, Tanten Cousins und Cousinen. Er habe in Österreich weder die Schule noch eine Berufsausbildung erfolgreich abgeschlossen. Eine während der Strafhaft begonnene Ausbildung zum Maurer habe er aufgrund seiner Entlassung nach neun Monaten abgebrochen und nicht weiterverfolgt. Im Herkunftsland habe der Beschwerdeführer glaublich die erste Klasse Volkschule besucht. In Österreich habe er Berufspraxis als Hilfsarbeiter am Bau sammeln können. Aktuell befinde er sich in Untersuchungshaft und plane für die Zeit nach seiner Entlassung eine Ausbildung zum Tischler zu absolvieren. Im Falle seiner Rückkehr nach Tschetschenien befürchte er Probleme aufgrund seiner bloß mangelhaften Kenntnis der Landessprache. Vermutlich könne er dort weder leben noch überleben. Generell würden Rückkehrer vor Ort nicht willkommen sein. Sie würden von der Polizei provoziert und misshandelt werden. Auch würde man dort wegen seines Vaters, der im Krieg Verletzte mit Nahrungsmittel und anderen Dingen versorgt habe, die Wut am BF auslassen. Auch außerhalb von Tschetschenien müsste er sich an jene anpassen, die sich mit Russen gut verstehen. Damit meine er die Parteigänger Kadyrows. Dies wolle er nicht. Abschließend wies der BF darauf hin, dass ihm die in Österreich begangenen Straftaten aufrichtig leid täten. Er ersuche er um eine allerletzte Chance, damit er beweisen könne, dass er sich bessern werde.

Als Beweismittel brachte der Beschwerdeführer eine Einladung des AMS vom XXXX 2021 zur Facharbeiterausbildung „Tischler“ sowie zwei Seiten eines Ausbildungsvertrages des XXXX vor.

In der Beschwerdeverhandlung wurden dem BF nach der Befragung aktuelle Feststellungen zur Situation in der Russischen Föderation zu Kenntnis gebracht und ihm dazu eine Frist für eine schriftliche Stellungnahme binnen zwei Wochen eingeräumt, von der bis dato kein Gebrauch gemacht wurde.

8. Hinsichtlich des Vaters des BF wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom heutigen Tag, Zl. W182 1261319-3, u.a. die Aberkennung des Status des Asylberechtigten gemäß §§ 7 Abs. 1 und Abs. 4 AsylG 2005, die Nicht-Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 leg.cit., eine Rückkehrentscheidung hinsichtlich des Herkunftsstaates Russische Föderation sowie ein Einreiseverbot rechtskräftig bestätigt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe und bekennt sich zum sunnitischen Glauben. Seine Identität steht fest.

Der Beschwerdeführer ist in Tschetschenien geboren, wo er bis zu seiner Ausreise im Jahr 2004 (im Alter von XXXX Jahren) im Familienverband mit seinen Eltern und seinen beiden Geschwistern aufwuchs. Er besuchte dort die Volkschule. Er spricht Deutsch, Tschetschenisch und ein wenig Russisch. In Tschetschenien leben zumindest seine Großmutter, Onkeln, Tanten sowie deren Kinder.

In Österreich hält sich der Beschwerdeführer seit seiner Einreise im Jahr 2004 – mit Ausnahme eines längeren Aufenthalts in XXXX in den Jahren 2013 und 2014 – durchgehend auf. Er besuchte hier mehrere Jahre die Volks- und Hauptschule, ohne jedoch einen regulären Pflichtschulabschluss zu erlangen. Abgesehen von gelegentlichen kurzfristigen Tätigkeiten auf Hilfsarbeiterniveau bestritt der gesunde und uneingeschränkt arbeitsfähige BF seinen Lebensunterhalt primär aus Leistungen der öffentlichen Hand. Anhaltspunkte für gemeinnützige Tätigkeiten liegen nicht vor. Der BF, der offiziell im selben Haushalt mit seinen beiden geschiedenen Eltern und den drei Brüdern lebt, befindet sich aktuell seit XXXX 2021 in Untersuchungshaft. Er ist ledig und kinderlos.

Sämtlichen Brüdern wie auch der Mutter des BF kommt in Österreich der Status von Asylberechtigten in Bezug auf die Russische Föderation zu. Dem Vater des BF wurde mit rechtskräftigen Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom heutigen Tag u.a. der Status des Asylberechtigten aberkannt und gegen ihn eine Rückkehrentscheidung samt fünfjährigen Einreisverbot hinsichtlich des Herkunftsstaates Russische Föderation erlassen.

Der Beschwerdeführer wurde in Österreich zwischen 2011 und 2019 bereits acht Mal rechtskräftig u.a. wegen Verbrechen wie Raub sowie diverser Vergehen (zu den Straftaten im Detail vgl. Punkt I.2.) in Summe zu unbedingten Freiheitsstrafen im Ausmaß von drei Jahren und neun Monaten rechtskräftig verurteilt.

Er befand sich insgesamt über drei Jahre hindurch in Strafhaft und befindet sich aktuell seit XXXX 2021 erneut u.a. wegen des Verdachts auf Raub in Untersuchungshaft.

Die Umstände, auf Grund derer dem Vater des Beschwerdeführers und damit in weiterer Folge auch ihm selbst über Erstreckung im Familienverfahren der Status eines Asylberechtigten zuerkannt wurde, bestehen aufgrund einer dauerhaften und grundlegenden Änderung der Lage in der Russischen Föderation nicht mehr.

Er besteht im Fall der Rückkehr in die Russische Föderation bzw. nach Tschetschenien auch keine maßgebliche Wahrscheinlichkeit, dass der BF dort einer asylrelevanten Verfolgung, oder sonst einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wäre bzw. in eine existenzgefährdende Notlage geraten würde.

Im Übrigen wird der unter Punkt I. wiedergegebene Verfahrensgang der Entscheidung zugrundgelegt.

1.2. Zur Situation im Herkunftsland wird von den vom Bundesverwaltungsgericht ins Verfahren eingeführten Länderinformationen zur Russischen Föderation bzw. Tschetschenien ausgegangen:

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 09.04.2020

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, GIZ 2.2020d, EDA 19.3.2020). Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 19.3.2020a, vgl. BMeiA 19.3.2020, EDA 19.3.2020). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 19.3.2020).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem ägyptischen Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

?        AA – Auswärtiges Amt (19.3.2020a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 19.3.2020

?        BMeiA (19.3.2020): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 19.3.2020

?        Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 19.3.2020

?        EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.3.2020): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 19.3.2020

?        GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (2.2020d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Nordkaukasus

Letzte Änderung: 09.04.2020

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt (SWP 10.2015, vgl. ÖB Moskau 12.2019). Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein „Wilajat Kavkaz“, eine „Provinz Kaukasus“, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem „Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich etwa ab 2014 die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem IS zuzurechnen waren. Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist (ÖB Moskau 12.2019). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In der ersten Hälfte des Jahres 2019 nahm die Anzahl bewaffneter Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr weiter ab. Der größte Anteil an Gewalt im Nordkaukasus entfällt weiterhin auf Dagestan und Tschetschenien (ÖB Moskau 12.2019).

Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz (Caucasian Knot 30.8.2019).

Im Jahr 2019 liegt die Gesamtopferzahl des Konfliktes im Nordkaukasus [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] bei 44 Personen, davon wurden 31 getötet (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

?        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Tschetschenien

Letzte Änderung: 09.04.2020

Als Epizentrum der Gewalt im Kaukasus galt lange Zeit Tschetschenien. Die Republik ist in der Topographie des bewaffneten Aufstands mittlerweile aber zurückgetreten; angeblich sind dort nur noch kleinere Kampfverbände aktiv. Dafür kämpfen Tschetschenen in zunehmender Zahl an unterschiedlichen Fronten außerhalb ihrer Heimat – etwa in der Ostukraine sowohl auf Seiten pro-russischer Separatisten als auch auf der ukrainischen Gegenseite, sowie in Syrien und im Irak (SWP 4.2015). In Tschetschenien konnte der Kriegszustand überwunden und ein Wiederaufbau eingeleitet werden. In einem Prozess der „Tschetschenisierung“ wurde die Aufstandsbekämpfung im zweiten Tschetschenienkrieg an lokale Sicherheitskräfte delegiert, die sogenannten Kadyrowzy. Diese auf den ersten Blick erfolgreiche Strategie steht aber kaum für nachhaltige Befriedung (SWP 4.2017).

Im Jahr 2018 wurden in Tschetschenien mindestens 35 Menschen Opfer des bewaffneten Konflikts, von denen mindestens 26 getötet und neun weitere verletzt wurden. Unter den Opfern befanden sich drei Zivilisten (zwei getötet, einer verletzt), elf Exekutivkräfte (drei getötet, acht verletzt) und 21 Aufständische (alle getötet). Im Vergleich zu 2017, als es 75 Opfer gab, sank die Gesamtopferzahl 2018 um 53,3% (Caucasian Knot 30.8.2019). 2019 wurden in Tschetschenien im Rahmen des bewaffneten Konflikts sechs Personen getötet und fünf verletzt [Anm.: durch Addieren aller Quartalsberichte von Caucasian Knot] (Caucasian Knot 9.9.2019, Caucasian Knot 14.9.2019, Caucasian Knot 18.12.2019, Caucasian Knot 11.3.2020).

Quellen:

?        Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (9.9.2019): 21 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus in Q1 of 2019, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48385/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (14.9.2019): In Quarter 2 of 2019, 10 people fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/48465/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (18.12.2019): In 3rd quarter of 2019, seven persons fell victim to armed conflict in Northern Caucasus, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/49431/, Zugriff 19.3.2020

?        Caucasian Knot (11.3.2020): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 4 of 2019 under the data of Caucasian Knot, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/50267/, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan: Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 19.3.2020

?        SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 19.3.2020

Sicherheitsbehörden

Letzte Änderung: 09.04.2020

Das Innenministerium (MVD), der Föderale Sicherheitsdienst (FSB), das Untersuchungskomitee und die Generalstaatsanwaltschaft sind auf allen Regierungsebenen für den Gesetzesvollzug zuständig. Der FSB ist mit Fragen der Sicherheit, Gegenspionage und der Terrorismusbekämpfung betraut, aber auch mit Verbrechens- und Korruptionsbekämpfung. Die nationale Polizei untersteht dem Innenministerium und bekämpft Kriminalität. Die Aufgaben der Föderalen Nationalgarde sind die Sicherung der Grenzen gemeinsam mit der Grenzwache und dem FSB, die Administrierung von Waffenbesitz, der Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität, der Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Schutz von wichtigen staatlichen Einrichtungen. Weiters nimmt die Nationalgarde an der bewaffneten Verteidigung des Landes gemeinsam mit dem Verteidigungsministerium teil. Zivile Behörden halten eine wirksame Kontrolle über die Sicherheitskräfte aufrecht. Obwohl das Gesetz Mechanismen für Einzelpersonen vorsieht, um Klagen gegen Behörden wegen Menschenrechtsverletzungen einzureichen, funktionieren diese Mechanismen oft nicht gut. Gegen Beamten, die Missbräuche begangen haben, werden nur selten strafrechtliche Schritte unternommen, um sie zu verfolgen oder zu bestrafen, was zu einem Klima der Straflosigkeit führte (US DOS 11.3.2020), Ebenso wendet die Polizei häufig übermäßige Gewalt an (FH 4.3.2020).

Nach dem Gesetz können Personen bis zu 48 Stunden ohne gerichtliche Zustimmung inhaftiert werden, vorausgesetzt es gibt Beweise oder Zeugen. Ansonsten ist ein Haftbefehl notwendig. Verhaftete müssen von der Polizei über ihre Rechte aufgeklärt werden, und die Polizei muss die Gründe für die Festnahme dokumentieren. Der Verhaftete muss innerhalb von 24 Stunden einvernommen werden, davor hat er das Recht, für zwei Stunden einen Anwalt zu treffen. Spätestens 12 Stunden nach der Inhaftierung muss die Polizei den Staatsanwalt benachrichtigen. Die Behörden müssen dem Inhaftierten auch die Möglichkeit geben, seine Angehörigen telefonisch zu benachrichtigen, es sei denn, ein Staatsanwalt stellt einen Haftbefehl aus, um die Inhaftierung geheim zu halten. Die Polizei ist verpflichtet, einen Häftling nach 48 Stunden unter Kaution freizulassen, es sei denn, ein Gericht beschließt in einer Anhörung, den von der Polizei eingereichten Antrag mindestens acht Stunden vor Ablauf der 48-Stunden-Haft zu verlängern. Der Angeklagte und sein Anwalt müssen bei der Gerichtsverhandlung entweder persönlich oder über einen Videolink anwesend sein. Im Allgemeinen werden die rechtlichen Einschränkungen betreffend Inhaftierungen eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus (US DOS 11.3.2020).

Nach überzeugenden Angaben von Menschenrechtsorganisationen werden insbesondere sozial Schwache und Obdachlose, Betrunkene, Ausländer und Personen „fremdländischen“ Aussehens Opfer von Misshandlungen durch die Polizei und Untersuchungsbehörden. Nur ein geringer Teil der Täter wird disziplinarisch oder strafrechtlich verfolgt. Die im Februar 2011 in Kraft getretene Polizeireform hat bislang nicht zu spürbaren Verbesserungen in diesem Bereich geführt (AA 13.2.2019).

Die zivilen Behörden auf nationaler Ebene haben bestenfalls eine begrenzte Kontrolle über die Sicherheitskräfte in der Republik Tschetschenien, die nur dem Republiksoberhaupt, Kadyrow, unterstellt sind (US DOS 11.3.2020). Kadyrows Macht wiederum gründet sich hauptsächlich auf die ihm loyalen „Kadyrowzy“. Diese wurden von Kadyrows Familie in der Kriegszeit gegründet; ihre Mitglieder bestehen hauptsächlich aus früheren Kämpfern der Rebellen (EASO 3.2017). Vor allem tschetschenische Sicherheitsbehörden können Menschenrechtsverletzungen straffrei begehen (HRW 7.2018, vgl. AI 22.2.2018). Die Angaben zur zahlenmäßigen Stärke tschetschenischer Sicherheitskräfte fallen unterschiedlich aus. Auf Seiten des tschetschenischen Innenministeriums sollen in der Tschetschenischen Republik rund 17.000 Mitarbeiter tätig sein. Diese Zahl dürfte jedoch nach der Einrichtung der Nationalgarde der Föderation im Oktober 2016 auf 11.000 gesunken sein. Die Polizei hat angeblich 9.000 Angehörige. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind ethnische Tschetschenen. Nach Angaben des Carnegie Moscow Center wurden die Reihen von Polizei und anderen Sicherheitskräften mit ehemaligen tschetschenischen Separatisten aufgefüllt, die nach der Machtübernahme von Ramzan Kadyrow und dem Ende des Krieges in die Sicherheitskräfte integriert wurden. Bei der tschetschenischen Polizei grassieren Korruption und Missbrauch, weshalb die Menschen bei ihr nicht um Schutz ansuchen. Die Mitarbeiter des Untersuchungskomitees (SK) sind auch überwiegend Tschetschenen und stammen aus einem Pool von Bewerbern, die höher gebildet sind als die der Polizei. Einige Angehörige des Untersuchungskomitees versuchen, Beschwerden über tschetschenische Strafverfolgungsbeamte zu untersuchen, sind jedoch „ohnmächtig, wenn sie es mit der tschetschenischen OMON [Spezialeinheit der Polizei] oder anderen, Kadyrow nahestehenden ‚unantastbaren Polizeieinheiten‘ zu tun haben“ (EASO 3.2017).

Die regionalen Strafverfolgungsbehörden können Menschen auf der Grundlage von in ihrer Heimatregion erlassenen Rechtsakten auch in anderen Gebieten der Russischen Föderation in Gewahrsam nehmen und in ihre Heimatregion verbringen. Kritiker, die Tschetschenien aus Sorge um ihre Sicherheit verlassen mussten, fühlen sich häufig auch in russischen Großstädten vor Ramzan Kadyrow nicht sicher. Sicherheitskräfte, die Kadyrow zuzurechnen sind, sind auch in Moskau präsent (AA 13.2.2019).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        AI – Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Russian Federation, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425086.html, Zugriff 10.3.2020

?        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

?        HRW – Human Rights Watch (7.2018): Human Rights Watch Submission to the United Nations Committee Against Torture on Russia, https://www.ecoi.net/en/file/local/1439255/1930_1532600687_int-cat-css-rus-31648-e.docx, Zugriff 7.8.2019

?        US DOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020

Folter und unmenschliche Behandlung

Letzte Änderung: 04.09.2020

Im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sind Folter sowie unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und Strafen in Russland auf Basis von Artikel 21.2 der Verfassung und Art. 117 des Strafgesetzbuchs verboten. Die dort festgeschriebene Definition von Folter entspricht jener des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Russland ist Teil dieser Konvention, hat jedoch das Zusatzprotokoll (CAT-OP) nicht unterzeichnet. Trotz des gesetzlichen Rahmens werden immer wieder Vorwürfe über polizeiliche Gewalt bzw. Willkür gegenüber Verdächtigen laut. Verlässliche öffentliche Statistiken über das Ausmaß der Übergriffe durch Polizeibeamte gibt es nicht. Innerhalb des Innenministeriums gibt es eine Generalverwaltung der internen Sicherheit, die eine interne und externe Hotline für Beschwerden bzw. Vorwürfe gegen Polizeibeamte betreibt. Der Umstand, dass russische Gerichte ihre Verurteilungen in Strafverfahren häufig nur auf Geständnisse der Beschuldigten stützen, scheint in vielen Fällen Grund für Misshandlungen im Rahmen von Ermittlungsverfahren oder in Untersuchungsgefängnissen zu sein. Foltervorwürfe gegen Polizei- und Justizvollzugbeamte werden laut russischen NGO-Vertretern häufig nur unzureichend untersucht (ÖB Moskau 12.2019; vgl. EASO 3.2017).

Immer wieder gibt es Berichte über Folter und andere Misshandlungen in Gefängnissen und Hafteinrichtungen im gesamten Land (AI 16.4.2020; vgl. HRW 14.1.2020). Laut Amnesty International und dem russischen 'Komitee gegen Folter' kommt es vor allem in Polizeigewahrsam und in den Strafkolonien zu Folter und grausamer oder erniedrigender Behandlung (AA 13.2.2019). Momentan etabliert sich eine Tendenz, Betroffene, die vor Gericht Foltervorwürfe erheben, unter Druck zu setzen, z.B. durch Verleumdungsvorwürfe. Die Dauer von Gerichtsverfahren zur Überprüfung von Foltervorwürfen ist zwar kürzer (früher fünf bis sechs Jahre) geworden, Qualität und Aufklärungsquote sind jedoch nach wie vor niedrig (AA 13.2.2019). Untersuchungen von Foltervorwürfen bleiben häufig folgenlos (AA 13.2.2019; vgl. USDOS 11.3.2020). Unter Folter erzwungene 'Geständnisse' werden vor Gericht als Beweismittel anerkannt (AA 13.2.2019). Physische Misshandlung von Verdächtigen durch Polizisten geschieht für gewöhnlich in den ersten Tagen nach der Inhaftierung (USDOS 11.3.2020). Im August 2018 publizierte das unabhängige Online-Medienportal Meduza Daten über mehr als 50 öffentlich gemeldete Folterfälle im Jahr 2018. Zu den mutmaßlichen Tätern gehörten Polizei, Ermittler, Sicherheitsbeamte und Strafvollzugsbeamte. Die Behörden haben nur wenige strafrechtliche Ermittlungen zu den Vorwürfen eingeleitet, und nur ein Fall wurde vor Gericht gebracht (HRW 17.1.2019). Vor allem der Nordkaukasus ist von Gewalt betroffen, wie z.B. außergerichtlichen Tötungen, Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 11.3.2020).

Ab 2017 wurden Hunderte von homosexuellen Männern von tschetschenischen Behörden entführt und gefoltert, einige wurden getötet. Viele flohen aus der Republik und dem Land. In einem im Dezember 2018 veröffentlichten OSZE-Bericht wurde festgestellt, dass in Tschetschenien schwere Menschenrechtsverletzungen, einschließlich des scharfen Vorgehens gegen LGBTI-Personen, begangen wurden, und Russland wurde aufgefordert, eine umfassende Untersuchung durchzuführen [vgl. hierzu Kapitel 19.4 Homosexuelle] (FH 4.2.2019; vgl. Standard.at 3.11.2017).

Ein zehnminütiges Video der Körperkamera eines Wächters in der Strafkolonie Nr. 1 in Jaroslawl zeigt einen Insassen, wie er von Wächtern gefoltert wird. Das Video vom Juni 2017 wurde am 20.7.2018 von der unabhängigen russischen Zeitung Nowaja Gazeta veröffentlicht. Das Ermittlungskomitee leitete ein Strafverfahren wegen Amtsmissbrauch mit Gewaltanwendung ein (NZZ 23.7.2018). Als Reaktion auf die öffentliche Empörung verhaftete die russische Kriminalpolizei bis November 2018 15 Verdächtige. Ein Verdächtiger sagte aus, dass die Mitarbeiter das Video aufgezeichnet haben, um zu zeigen, dass sie einen Befehl von hohen Beamten ausgeführt haben, den Gefangenen zu bestrafen. Die schnelle und effektive Untersuchung war beispiellos in Russland, wo die Behörden typischerweise die Beschwerden von Gefangenen über Misshandlungen ablehnen (HRW 17.1.2019). Das Gerichtsverfahren gegen das Gefängnispersonal ist noch anhängig (HRW 14.1.2020).

Quellen:

?        AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        AI – Amnesty International (16.4.2020): Bericht zur Menschenrechtslage (Berichtszeitraum 2019), https://www.ecoi.net/de/dokument/2028170.html, Zugriff 16.7.2020

?        EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 10.3.2020

?        FH – Freedom House (4.3.2020): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2019 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2025879.html, Zugriff 5.3.2020

?        HRW – Human Rights Watch (17.1.2019): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2018 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002220.html, Zugriff 10.3.2020

?        HRW – Human Rights Watch (14.1.2012): Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2022681.html, Zugriff 2.3.2020

?        ÖB Moskau (12.2019): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2025975/RUSS_%C3%96B_Bericht_2019_12.pdf, Zugriff 10.3.2020

?        NZZ – Neue Zürcher Zeitung (23.7.2018): Ein Foltervideo setzt Ermittlungen gegen Russlands Strafvollzug in Gang, https://www.nzz.ch/international/foltervideo-setzt-ermittlungen-gegen-russlands-strafvollzug-in-gang-ld.1405939, Zugriff 10.3.2020

?        Standard.at (3.11.2017): Putins Beauftragte will Folter in Tschetschenien aufklären, https://derstandard.at/2000067068023/Putins-Beauftragte-will-Folter-in-Tschetschenien-aufklaeren, Zugriff 10.3.2020

?        USDOS – United States Department of State (11.3.2020): Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019 – Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026343.html, Zugriff 12.3.2020

Wehrdienst und Rekrutierungen

Letzte Änderung: 09.04.2020

Alle männlichen russischen Staatsangehörigen zwischen 18 und 27 Jahre werden zur Stellung für den Pflichtdienst in der russischen Armee einberufen. Die Pflichtdienstzeit beträgt ein Jahr (ÖB Moskau 12.2019, vgl. AA 13.2.2019). Der Präsident legt jährlich fest, wie viele der Stellungspflichtigen tatsächlich zum Wehrdienst eingezogen werden. In der Regel liegt die Quote bei etwa einem Drittel bzw. rund 300.000 Rekruten (ÖB Moskau 12.2019). Es gibt in Russland zweimal im Jahr eine Stellung – eine im Frühling, eine im Herbst (Global Security 31.5.2019). Über die regionale Aufteilung der Wehrpflichtigen entscheidet das Verteidigungsministerium, wobei die Anzahl der Wehrpflichtigen aus den jeweiligen Regionen stark variiert (ÖB Moskau 12.2019). Im Jahr 2019 wurden russlandweit 267.000 Wehrpflichtige zum Militärdienst eingezogen (Global Security 2.10.2019).

Neben dem Grundwehrdienst gibt es auch die Möglichkeit, freiwillig auf Basis eines Vertrags in der Armee zu dienen (dies steht auch weiblichen Staatsangehörigen offen). Nachdem vermehrt vertraglich verpflichtete Soldaten herangezogen werden (ÖB Moskau 12.2019), sinkt die Bedeutung der allgemeinen Wehrpflicht für die russischen Streitkräfte (ÖB Moskau 12.2019, vgl. Jamestown 10.4.2018), bzw. weisen die derzeitigen Kohorten extrem niedrige Geburtenraten auf (Jamestown 10.4.2018). Mitte April 2019 sagte Präsident Putin, dass die Wehrpflicht in Russland allmählich der Vergangenheit angehört. Ende 2018 verlautbarte der Generalstab, dass 384.000 Kontraktniki (Vertragssoldaten) in den russischen Streitkräften dienen. Der Rest sind Wehrpflichtige und Offiziere. Der Verteidigungsminister stellte die Aufgabe, die Zahl der Vertragssoldaten bis 2025 auf 475.000 zu erhöhen (RBTH 22.4.2019).

Staatsangehörige, die aus gesundheitlichen Gründen nicht zum Wehrdienst geeignet sind, werden von der Dienstpflicht befreit. Darüber hinaus kann ein Antrag auf Aufschub des Wehrdienstes gestellt werden, etwa durch Personen, die ein Studium absolvieren oder die einen nahen Verwandten pflegen müssen, oder durch Väter mehrerer Kinder. Versuche, sich dem Wehrdienst zu entziehen, sind verbreitet, aber rückläufig. Diese Versuche konzentrieren sich vor allem auf das Stadium vor der Einberufung, da nur ein Drittel der jungen Männer, die jährlich das wehrfähige Alter erreichen, tatsächlich eingezogen werden. Etwa ein Drittel ist untauglich, ein Drittel erhält keine Aufforderung bei der Einberufungskommission vorstellig zu werden. Grundsätzlich gibt es aber keine Rekrutierungsprobleme, da genug junge Männer Grundwehrdienst leisten wollen. Neben einer patriotischen Gesinnung ist ein Grund dafür auch die Tatsache, dass die Ableistung des Grundwehrdienstes Voraussetzung für bestimmte (v.a. staatliche) berufliche Laufbahnen ist. Nichtsdestotrotz gibt es jedes Jahr einige Hundert junge Männer, denen der Stellungsbefehl zugestellt wurde, die Stellungskommission durchlaufen, die Entscheidung der Stellungskommission zur Einberufung auch nicht beeinspruchen, aber dann dem Einberufungsbefehl nicht Folge geleistet haben. In diesen Fällen gibt es jährlich einige hundert strafrechtliche Verfahren bzw. Verurteilungen wegen Wehrdienstverweigerung (ÖB Moskau 12.2019).

Wehrpflichtige erhalten zurzeit 2.000 Rubel [ca. 27€] Monatssold plus Gefahrenzulagen sowie einen Zuschuss für die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Die im Jahr 2013 eingeleiteten Maßnahmen zur „Humanisierung“ und Attraktivitätssteigerung des Wehrdienstes wurden weiter umgesetzt. Diese Maßnahmen umfassen u.a. die Möglichkeit der heimatnahen Einberufung für Verheiratete und Wehrpflichtige mit Kindern oder Eltern im Rentenalter. Verbesserungen bei der Verpflegung, längere Ruhezeiten sowie die Erlaubnis zur Benutzung privater Mobiltelefone wurden ebenfalls eingeführt (AA 13.2.2019). 2017 gab es keine offiziellen Verlautbarungen zu Menschenrechtsverletzungen in den Streitkräften der Russischen Föderation (AA 21.5.2018). Dies gilt auch für das Jahr 2018 (AA 13.2.2019). Die NGOs „Komitee der Soldatenmütter“ und „Armee.Bürger.Recht“ berichten jedoch von Soldaten, die sich aus ganz Russland mit der Bitte um Unterstützung beim Schutz ihrer Rechte an die beiden Organisationen wenden. Somit ist die Menschenrechtslage in den russischen Streitkräften wohl weiterhin problematisch. Das „Komitee der Soldatenmütter“ äußerte zudem die Befürchtung, dass das 2016 erlassene Gesetz zur V

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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