TE Bvwg Erkenntnis 2021/8/19 W133 2146966-3

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.08.2021
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Entscheidungsdatum

19.08.2021

Norm

B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §50

Spruch


W133 2146966-3/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Natascha GRUBER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehöriger von Afghanistan gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.03.2021, Zl. 1068531006/180014928, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 12.08.2021 zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird Folge gegeben und festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß § 46 iVm § 50 FPG unzulässig ist.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.



Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 15.01.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

Mit Bescheid der nunmehr belangten Behörde, des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA), vom 25.01.2017, Zl 1068531006-150511873, wurde dieser Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen, diesem jedoch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten stattgegeben und dem Beschwerdeführer eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.

Diese Entscheidung wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 13.12.2020, Zl W179 2146966-1/47E bestätigt.

Mit Bescheid vom 29.10.2018, Zl 1068531006-180014928/BMI-BFA_VBG_RD, erkannte die belangte Behörde dem Beschwerdeführer aufgrund seiner Straffälligkeit den Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs 2 AsylG 2005 von Amts wegen ab (Spruchpunkt I.), wies den Antrag vom 02.01.2018 auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung ab (Spruchpunkt II.), erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.) und stellte fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan unzulässig ist (Spruchpunkt V.). Weiters wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen festgesetzt (Spruchpunkt VI.) und ein auf die Dauer von 7 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (VII.).

Die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten erfolgte im Hinblick auf eine Verurteilung wegen des Verbrechens des Raubes. Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer noch minderjährig sei und keine familiären Anknüpfungspunkte in Afghanistan habe; infolgedessen würde er im Falle der Rückkehr in eine ausweglose Lage geraten. Dies gelte nicht mehr, wenn der Beschwerdeführer die Volljährigkeit erreicht habe. Der Aufenthalt des Beschwerdeführers sei gemäß § 46a Abs 1 Z 2 FPG geduldet.

In der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde von 26.11.2018 wurden die Spruchpunkte V. und VI. ausdrücklich nicht bekämpft.

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 01.02.2021, Zl W179 2146966-2/43E wurde diese Beschwerde als unbegründet abgewiesen.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 30.03.2021, Zl 1068531006/180014928, stellte die belangte Behörde fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei und führte dazu begründend im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer im Jahr 2019 volljährig geworden sei und seine bürgerlichen Rechte im Herkunftsstaat nunmehr selbst wahrnehmen könne. Er sei ein arbeitsfähiger gesunder Mann, der eigenständig einer Arbeit nachgehen könne. Eine entscheidungswesentliche Änderung betreffend die Rückkehrentscheidung sei seit deren Erlassung nicht eingetreten. Seit der Erlassung des Bescheides vom 29.10.2018 sei der Beschwerdeführer sechsmal angezeigt und einmal zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden.

Dagegen erhob der Beschwerdeführer am 27.04.2021 binnen offener Rechtsmittelfrist vollumfänglich Beschwerde. Darin brachte er im Wesentlichen vor, dass er aufgrund seines psychischen Zustandes sowie seiner fehlenden Kenntnisse zu Afghanistan nicht imstande wäre, in diesem Land alleine zu überleben. Im Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 01.02.2021 sei nur der Aberkennungstatbestand des § 9 Abs 2 AsylG geprüft worden, was bedeute, dass das Gericht von einer wesentlichen Änderung der Lage nicht ausgegangen sei. Da im selben Erkenntnis das Gericht nicht gesondert die Zulässigkeit der Abschiebung festgestellt habe, sei von einem rechtskräftig entschiedenen Sachverhalt auszugehen, von dem die belangte Behörde nicht hätte ohne Weiteres abgehen dürfen. Das Erreichen der Volljährigkeit alleine sei keine wesentliche Änderung.

Nach erfolgter Ladung zur Verhandlung für den 12.08.2021 legte die bisherige rechtliche Vertretung, die XXXX , mit Schreiben vom 28.07.2021 ihre Vollmacht zurück.

Der Beschwerdeführer verfügt seit dem 05.06.2021 über keine aufrechte Meldung mehr im Bundesgebiet. Er ist in die Schweiz ausgereist, wo ein Dublin-Verfahren anhängig ist. Die belangte Behörde hat ein Rücküberstellungsersuchen gestellt.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 12.08.2021 eine öffentliche mündliche Verhandlung in Abwesenheit des Beschwerdeführers gemäß § 42 Abs 4 AVG durch, nachdem diesem die Ladung im Wege seiner damals noch zustellbevollmächtigten Rechtsvertretung rechtswirksam zugestellt worden war.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der volljährige Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger Afghanistans, führt den im Spruch angeführten Namen und das im Spruch genannte Geburtsdatum. Seine Identität steht nicht zweifelsfrei fest.

Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und muslimischen Glaubens sunnitischer Ausrichtung. Seine Muttersprache ist Paschtu. Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder.

Der Beschwerdeführer stellte am 15.01.2015 nach seiner Einreise unter Umgehung der Grenzkontrollen einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Am 25.01.2017 wurde dem Beschwerdeführer mit Bescheid der belangten Behörde der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat zuerkannt und ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.

Mit Bescheid der belangten Behörde vom 29.10.2018 wurde dem Beschwerdeführer (unter anderem) dieser Status aufgrund der Begehung eines Verbrechens wieder aberkannt, jedoch im Hinblick auf dessen Minderjährigkeit und fehlende familiäre Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat die Unzulässigkeit der Abschiebung festgestellt. Seitdem ist der Beschwerdeführer im Bundesgebiet geduldet.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich mehrfach vorbestraft:

Mit Urteil des Landesgerichts Feldkirch vom 20.07.2016, Zl 020 HV 18/2016g, rechtskräftig am selben Tag, wurde der Beschwerdeführer als Jugendlicher wegen gefährlicher Drohung, versuchter Nötigung sowie Raubes gemäß § 107 Abs 1 StGB, §§ 15, 105 Abs 1 StGB sowie § 142 Abs 1 und 2 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von drei Monaten (drei Jahre Probezeit) und einer Geldstrafe von 200 Tagsätzen à 4 € verurteilt.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 05.09.2018, Zl 153 HV 10/2018i, rechtskräftig am selben Tag, wurde der Beschwerdeführer als Jugendlicher wegen unerlaubten Umgangs mit Suchtmitteln gemäß § 27 Abs 2a SMG zu einer bedingten Freiheitsstrafe von fünf Monaten (drei Jahre Probezeit). Die Probezeit der vorherigen bedingten Verurteilung wurde auf fünf Jahre erhöht.

Mit Urteil des Landesgerichts Feldkirch vom 12.09.2019, Zl 039 HV 88/2019w, wurde der Beschwerdeführer als Jugendlicher wegen schweren Raubs, versuchter Nötigung und versuchter schwerer Nötigung gemäß §§ 142 Abs 1, 143 Abs 1 2. Fall StGB, §§ 15, 105 Abs 1 StGB, §§ 105 Abs 1, 15 StGB, §§15, 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 1 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten verurteilt. Weiters wurde die bedingte Nachsicht der beiden vorhergehenden Verurteilungen widerrufen.

Am 04.08.2020 wurde der Beschwerdeführer bedingt aus der Freiheitsstrafe entlassen (Probezeit drei Jahre).

Darüber hinaus wurde der Beschwerdeführer seit seiner Ankunft in Österreich immer wieder wegen weiterer Taten angezeigt, darunter (schwere) Körperverletzung, Ladendiebstähle und Sachbeschädigung.

Der Beschwerdeführer verfügt derzeit über keinen Wohnsitz im Bundesgebiet. Er ist in die Schweiz ausgereist, ein Rücküberstellungsverfahren ist im Gange.

Zur Lage im Herkunftsstaat

Die Feststellungen zum Herkunftsstaat beruhen maßgeblich auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (LIB) in der aktuellsten Version 4 unter Berücksichtigung der Kurzinformationen vom 19.07.2021 sowie 02.08.2021, 12.08.2021 und insbesondere 17.08.2021. Im Hinblick auf die aktuellen Entwicklungen betreffend die Sicherheitslage wurden ergänzend folgende Quellen herangezogen:

?        Afghanistan Analysts Network, 17.08.2021: Afghanistan Has a New Government: What Will the Country's New Normal Look Like?, https://www.afghan-analysts.org/en/reports/war-and-peace/afghanistan-has-a-new-government-the-country-wonders-what-the-new-normal-will-look-like/ (AAN 17.08.2021)

?        AP News, 17.08.2021: EXPLAINER: The Taliban takeover, what's next for Afghanistan, https://apnews.com/article/taliban-takeover-afghanistan-what-to-know-1a74c9cd866866f196c478aba21b60b6 (AP News 17.08.2021)

?        BBC, 17.08.2021: Afghanistan: Will it become haven for terror with the Taliban in power?, https://www.bbc.com/news/world-asia-58232041 (BBC 17.08.2021)

?        BBC, 16.08.2021: Will the Taliban take Afghanistan back to the past?, https://www.bbc.com/news/world-58224559 (BBC 16.08.2021/A)

?        BBC, 16.08.2021: Afghanistan: Life in Kabul after the Taliban victory, https://www.bbc.com/news/world-asia-58232815 (BBC 16.08.2021/B)

?        CNN, 16.08.2021: Calm and fear on the streets of Kabul as jubilant Taliban celebrate their victory, https://edition.cnn.com/2021/08/16/middleeast/kabul-streets-taliban-regime-intl/index.html (CNN 16.08.2021)

?        Der Standard, 15.08.2021: Kabul fällt kampflos an die Taliban, https://www.derstandard.at/story/2000128937798/kabul-faellt-kampflos-an-die-taliban (Der Standard 15.08.2021)

?        Long War Journal: Mapping Taliban Contested and Controlled Districts in Afghanistan, Stand 17.08.2021, https://www.longwarjournal.org/mapping-taliban-control-in-afghanistan (LWJ Karte)

?        ORF.at, 16.08.2021: „Krieg in Afghanistan ist vorbei“, https://orf.at/stories/3225020/ (ORF 16.08.2021)

?        TOLO News, 16.08.2021: Commercial Flights Suspended at Kabul Airport, https://tolonews.com/index.php/afghanistan-174250 (TOLO News 16.08.2021)

?        UNHCR, 16.08.2021: Position on returns to Afghanistan (UNHCR Positionspapier)

Aktuelle Entwicklung der Sicherheitslage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.860 Quadratkilometern leben ca. 32,9 Millionen bis 39 Millionen Menschen (LIB, Politische Lage).

Im April kündigte US-Präsident Joe Biden den Abzug der verbleibenden Truppen bis zum 11.9.2021 an. Er erklärte weiter, die USA würden weiterhin „terroristische Bedrohungen“ überwachen und bekämpfen sowie „die Regierung Afghanistans“ und „die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte weiterhin unterstützen“, allerdings ist nicht klar, wie die USA auf wahrgenommene Bedrohungen zu reagieren gedenken, sobald ihre Truppen abziehen (LIB, Friedens- und Versöhnungsprozess). Nach Angaben von US-Präsident Biden wird der Truppenabzug am 31.8.2021 abgeschlossen sein (Kurzinformation vom 19.07.2021).

Seit dem Beginn des Abzugs der US-Truppen und anderer Koalitionskräfte am 1.5.2021 kam es zu mehr Kampfhandlungen als in den Monaten zuvor. Die Taliban eroberten zahlreiche Distrikte und Provinzhauptstädte (Kurzinformation vom 19.07.2021, LWJ Karte), bis schließlich am 15.08.2021 Kabul weitgehend widerstandslos eingenommen wurde. Der Präsident Ghani befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits außer Landes (Der Standard 15.08.2021; erklärt ORF 16.08.2021, UNHCR Positionspapier). Nach Angaben des Long War Journal befinden sich (Stand 16.08.2021) – mit der Ausnahme von Parwan und Panjshir, welche von den Taliban bedroht sind – sämtliche Provinzen inklusive der Hauptstadt Kabul unter der Kontrolle der Taliban (LWJ Karte). Die Taliban selbst haben den Krieg bereits nach der Einnahme von Kabul für beendet erklärt (ORF 16.08.2021).

Seit dem Beginn der Friedensgespräche in Doha im vergangenen Jahr sind vor allem Mitarbeiter des Gesundheitswesens, humanitäre Organisationen, Menschenrechtsverteidiger und Journalisten Ziel einer Welle von gezielten Tötungen gewesen (Kurzinformation vom 19.07.2021). In Afghanistan ist die Zahl der konfliktbedingten Todesopfer derzeit so hoch wie nie zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNHCR, mit durchschnittlich 500-600 Sicherheitsvorfällen pro Woche. Laut UNOCHA wurden seit Anfang des Jahres 2021 über 550.000 Afghan*innen aufgrund des Konflikts landesintern vertrieben; davon 126.000 neue Binnenvertriebene zwischen dem 07.07.2021 und dem 09.08.2021. Während genaue Zahlen nicht vorliegen, gibt es Schätzungen, wonach zehntausende Afghan*innen internationale Grenzen passiert haben (UNHCR Positionspapier, vgl Kurzinformation vom 02.08.2021).

Es ist noch schwer abzuschätzen, wie die Taliban sich an der Macht verhalten werden (BBC 16.08.2021). Entsprechend herrscht auch in der Bevölkerung Besorgnis. Nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul versuchten mehr als 10.000 Menschen, darunter auch Familien mit Kindern, über den Flughafen Kabul das Land zu verlassen (AP News, BBC 16.08.2021/B). Die Mehrheit ist jedoch nicht auf der Flucht, sondern befindet sich abwartend zuhause (AAN 17.08.2021). Befürchtet werden chaotische Zustände oder die Rückkehr zu unterdrückenden und gewaltvollen Verhältnissen wie unter der ersten Talibanherrschaft vom 1996 bis 2001. Der moderate Anstrich, den sich die Taliban zuletzt zu geben versuchten, wird mit Skepsis betrachtet (AP News 17.08.2021, CNN 16.08.2021, ORF 16.08.2021). Die moderaten Aussagen der Führungsspitze und die Gewaltakte, die sich vor Ort ereignen, liegen weit auseinander (BBC 17.08.2021).

Für UNHCR besteht vor dem Hintergrund der ungewissen Situation Grund zur Sorge, die jüngsten Entwicklungen steigern den Bedarf nach Schutz für Menschen, die aus Afghanistan fliehen (UNHCR Positionspapier).

Momentan beraten die Taliban in Doha über die zukünftige Ausgestaltung der Regierung. Der Übergang von einer kriegstreibenden, auch zu terroristischen Maßnahmen greifenden, zu einer regierenden Gruppierung wird nach Einschätzung des Afghanistan Analysts Network schwierig (AAN 17.08.2021). Die Taliban gaben an, mit anderen Fraktionen, darunter auch Vertreter der vorhergehenden Regierung, eine „inklusive islamische Regierung“ bilden zu wollen. Islamisches Recht solle durchgesetzt werden, jedoch nach Jahrzehnten des Krieges wieder normales Leben in Sicherheit zurückkehren. Ein beunruhigendes Zeichen für jene, die eine Rückkehr zu Gewalt und Unterdrückung befürchte, ist die geplante Rückbenennung Afghanistan in „Islamisches Emirat Afghanistan“ (AP News 17.08.2021).

In Afghanistan sind neben den Taliban unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv, wie Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (LIB, Regierungsfeindliche Gruppierungen). Dass die Taliban in der Lage (oder Willens) sein werden, die Aktivitäten anderer jihadistischer Gruppierungen zu überwachen und zu kontrollieren, ist ungewiss (AP News 17.08.2021, BBC 17.08.2021).

Taliban

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde; nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt. Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten (LIB, Taliban). Auch während der Eroberungen in den letzten Wochen wurde berichtet, dass in den von den Taliban eroberten Gebieten im Norden Frauen nur vollverschleiert und mit männlicher Begleitung auf die Straße gehen dürften (Kurzinformation vom 02.08.2021).

Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik einer eventuellen Regierung der Machtteilung, die die Taliban einschließt, zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab. Sie sehen sich nicht als bloße Rebellengruppe, sondern als eine Regierung im Wartestand und bezeichnen sich selbst als „Islamisches Emirat Afghanistan“, der Name, den sie benutzten, als sie von 1996 bis zu ihrem Sturz nach den Anschlägen vom 11.9.2001 an der Macht waren (LIB, Taliban).

Die Taliban sind keine monolithische Organisation; nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (LIB, Taliban).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind. Die Taliban rekrutieren in der Regel junge Männer aus ländlichen Gemeinden, die arbeitslos sind, eine Ausbildung in Koranschulen haben und ethnisch paschtunisch. Schätzungen der aktiven Kämpfer der Taliban reichen von 40.000 bis 80.000 oder 55.000 bis 85.000, wobei diese Zahl durch zusätzliche Vermittler und Nicht-Kämpfer auf bis zu 100.000 ansteigt. Obwohl die Mehrheit der Taliban immer noch Paschtunen sind, gibt es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) innerhalb der Taliban. Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt (LIB, Taliban).

Nach Erkenntnissen von AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind die durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 40 Prozent zurückgegangen. Der Hauptgrund für diesen Rückgang könnte sein, dass keine komplexen und Selbstmordattentate in den großen Städten des Landes durchgeführt werden. Im Jahr 2020 wurden in Afghanistan insgesamt 4.567 Zivilisten durch Taliban-Angriffe getötet oder verletzt, während im gleichen Zeitraum 2019 die Gesamtzahl der durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer bei 7.727 lag (LIB, Taliban).

Bisherige Menschenrechtslage

Unter der bisherigen Regierung hat Afghanistan im Bereich der Menschenrechte Afghanistan unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht. Eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen engagiert sich politisch, kulturell und sozial und verleiht der Zivilgesellschaft eine starke Stimme. Diese Fortschritte erreichen aber nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Gerichten sowie Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung ist jedoch nicht in der Lage, die Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten. Korruption und begrenzte Kapazitäten schränken den Zugang der Bürger zu Justiz in Bezug auf Verfassungs- und Menschenrechtsverletzungen ein. In der Praxis werden politische Rechte und Bürgerrechte durch Gewalt, Korruption, Nepotismus und fehlerbehaftete Wahlen eingeschränkt. Beschwerden gegen Menschenrechtsverletzungen können an die Afghan Independent Human Rights Commission (AIHRC) gemeldet werden, welche die Fälle nach einer Sichtung zur weiteren Bearbeitung an die Staatsanwaltschaft übermittelt. Die gemäß Verfassung eingesetzte AIHRC bekämpft Menschenrechtsverletzungen. Sie erhält nur minimale staatliche Mittel und stützt sich fast ausschließlich auf internationale Geldgeber (LIB, Allgemeine Menschenrechtslage).

Zu den bedeutendsten Menschenrechtsproblemen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, Folter, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Unterdrückung von Kritik an Amtsträgern durch strafrechtliche Verfolgung von Kritikern im Rahmen der Verleumdungs-Gesetzgebung, Korruption, fehlende Rechenschaftspflicht und Ermittlungen in Fällen von Gewalt gegen Frauen, sexueller Missbrauch von Kindern durch Sicherheitskräfte, Gewalt durch Sicherheitskräfte gegen Mitglieder der LGBTIQ-Gemeinschaft sowie Gewalt gegen Journalisten. Mit Unterstützung der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und des Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) arbeitet die afghanische Regierung an der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, der Rechte von Frauen, Kindern, Binnenflüchtlingen und Flüchtlingen sowie Rechenschaftspflicht (LIB, Allgemeine Menschenrechtslage).

Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, sind vulnerabel für Misshandlung. Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung. Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen (LIB; Religionsfreiheit). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB, Ethnische Gruppen).

KI 17.08.2021: Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ist angesichts des Vormarsches der Taliban auf Kabul außer Landes geflohen. Laut al-Jazeera soll das Ziel Taschkent in Usbekistan sein. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über den Präsidentenpalast in Kabul übernommen. Suhail Schahin, ein Unterhändler der Taliban bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, versicherte den Menschen in Kabul eine friedliche Machtübernahme und keine Racheakte an irgendjemanden zu begehen (tagesschau.de 15.8.2021).

Am 15.08.21 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von welchem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen. In einigen der Städte seien Gefängnisse gestürmt und Insassen befreit worden (BAMF 16.8.2021; vgl. bbc.com o.D., orf.at 16.8.2021).

Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen (orf.at 16.8.2021a).

Schätzungen zufolge wurden seit Anfang 2021 über 550.000 Afghanen durch den Konflikt innerhalb des Landes vertrieben, darunter 126.000 neue Binnenvertriebene zwischen dem 7. Juli 2021 und dem 9. August 2021. Es gibt zwar noch keine genauen Zahlen über die Zahl der Afghanen, die aufgrund der Feindseligkeiten und Menschenrechtsverletzungen aus dem Land geflohen sind, es deuten aber Quellen darauf hin, dass Zehntausende von Afghanen in den letzten Wochen internationale Grenzen überquert haben (UNHCR 8.2021).

Der Iran richtete angesichts des Eroberungszugs der militant-islamistischen Taliban im Nachbarland Pufferzonen für Geflüchtete aus dem Krisenstaat ein. Die drei Pufferzonen an den Grenzübergängen im Nord- sowie Südosten des Landes sollen afghanischen Geflüchteten vorerst Schutz und Sicherheit bieten. Indes schloss Pakistan am Sonntag einen wichtigen Grenzübergang zu seinem Nachbarland. Innenminister Sheikh Rashid verkündete die Schließung des Grenzübergangs Torkham im Nordwesten Pakistans am Sonntag, ohne einen Termin für die Wiedereröffnung zu nennen. Tausende Menschen säßen auf beiden Seiten der Grenze fest (orf.at 16.8.2021b).

Mittlerweile baut die Türkei an der Grenze zum Iran weiter an einer Mauer. Damit will die Türkei die erwartete Ankunft von afghanischen Flüchtlingen verhindern (Die Presse 17.8.2021).

Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge (bisherige Ausnahme: Flughafen Kabul). Seit Besetzung der strategischen Stadt Jalalabad durch die Taliban, wurde eine Fluchtbewegung in den Osten (Richtung Pakistan) deutlich erschwert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen aus dem westlichen Teil des Landes oder aus Kabul nach Pakistan gelangen ist gegenwärtig eher gering einzuschätzen. Es ist naheliegender, dass Fluchtrouten ins Ausland über den Iran verlaufen. Es ist jedoch auch denkbar, dass die mehrheitlich sunnitische Bevölkerung Afghanistans (statt einer Route über den schiitisch dominierten Iran) stattdessen die nördliche, alternative Route über Tadschikistan oder auch Turkmenistan wählt. Bereits vor zwei Monaten kam es laut EU-Kollegen zu einem Anstieg von Ankünften afghanischer Staatsbürger in die Türkei. Insofern ist davon auszugehen, dass eine erste Migrationsbewegung bereits stattgefunden hat. Pakistan gibt laut Medienberichten an, dass der Grenzzaun an der afghanisch-pakistanischen Grenze halte (laut offiziellen Angaben sind etwa 90 Prozent fertiggestellt) (VB 17.8.2021).

Laut Treffen mit Frontex, kann zur Türkei derzeit noch keine Veränderung der Migrationsströme festgestellt werden. Es finden täglich nach Schätzungen ca. max. 500 Personen ihren Weg (geschleust) vom Iran in die Türkei. Dies ist aber keine außergewöhnlich hohe Zahl, sondern eher der Durchschnitt. Der Ausbau der Sicherung der Grenze zum Iran mit Mauer und Türmen schreitet immer weiter voran, und nach einstimmiger Meinung von Mig VB und anderen Experten kann die Türkei mit ihrem Militär (Hauptverantwortlich für die Grenzsicherung) und Organisationen (Jandarma, DCMM) jederzeit, je nach Bedarf die illegale Einreise von Flüchtlingen aus dem Iran kontrollieren. Die Türkei ist jedoch - was Afghanistan angeht - mit sehr hohem Interesse engagiert. Auch die Türkei möchte keine neunen massiven Flüchtlingsströme über den Iran in die Türkei (VB 17.8.2021a).

IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf (IOM 16.8.2021).

Während die radikalislamischen Taliban ihren Feldzug durch Afghanistan vorantreiben, gehören Frauen und Mädchen zu den am meisten gefährdeten Gruppen. Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996–2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß. Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban (orf.at 17.8.2021 / KI 17.08.2021 zum LIB).

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in den Verwaltungsakt sowie in den Gerichtsakt und in die oben genannten Quellen zur aktuellen Lage im Herkunftsstaat.

Mangels vorgelegter unbedenklicher Urkunden konnte die Identität des Beschwerdeführers bisher nicht zweifelsfrei festgestellt werden. Die diesbezüglichen Feststellungen beruhen auf den Angaben des Beschwerdeführers in den Asylverfahren und dienen ausschließlich seiner Identifizierung im Verfahren.

Die festgestellte Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers beruht auf dessen nachvollziehbaren Angaben, die auch in den Vorverfahren nicht angezweifelt wurden.

Einreise und Antragstellung des Beschwerdeführers im Bundesgebiet, die Gewährung und Aberkennung von subsidiärem Schutz durch die belangte Behörde sowie die Duldung des Beschwerdeführers im Bundesgebiet ergeben sich aus der Aktenlage und sind unbestritten.

Die Feststellungen zu den Vorstrafen des Beschwerdeführers und der weiteren Anzeigen gegen ihn seit seiner Einreise beruhen auf einer Einsichtnahme in das Strafregister sowie in den kriminalpolizeilichen Aktenindex des BMI.

Die Feststellungen zum fehlenden Wohnsitz im Bundesgebiet, zu der Ausreise des Beschwerdeführers in die Schweiz und dem Rücküberstellungsverfahren ergeben sich aus der Einsichtnahme in das Melderegister, demzufolge der Beschwerdeführer seit dem 05.06.2021 nicht mehr in Österreich gemeldet ist, sowie aus dem Aktenvermerk vom 29.07.2021, wonach der Beschwerdeführer laut Auskunft der belangten Behörde in die Schweiz ausgereist ist, wo ein Dublin-Verfahren anhängig ist, und bereits ein Rücküberstellungsersuchen gestellt wurde.

Zur Lage im Herkunftsstaat:

Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Im Hinblick auf die rezenten sicherheitsrelevanten Ereignisse, die in der Letztversion des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation noch nicht abgebildet sind, wurden aktuelle Medienberichte zur Lage in Afghanistan (Kurzinformation 17.08.2021) herangezogen. Bei diesen Quellen handelt es sich um vertrauenswürdige Quellen, die größtenteils bereits in der Vergangenheit Eingang in das Länderinformationsblatt gefunden haben. Sie zeichnen ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche, weshalb im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass besteht, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln. Die den Feststellungen zugrundeliegenden Länderberichte sind in Bezug auf die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan aktuell, wobei nicht verkannt wird, dass sich die Lage in Afghanistan derzeit volatil und ungewiss darstellt.

Um den Parteien die Möglichkeit der Stellungnahme einzuräumen, wurde vom Bundesverwaltungsgericht am 12.08.2021 eine mündliche Verhandlung durchgeführt. Der Beschwerdeführer ist zu dieser trotz ordnungsgemäßer Ladung unentschuldigt nicht erschienen.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) Stattgebung der Beschwerde

Gemäß § 46 Abs 1 FPG („Abschiebung“) sind Fremde, gegen die eine Rückkehrentscheidung, eine Anordnung zur Außerlandesbringung, eine Ausweisung oder ein Aufenthaltsverbot durchsetzbar ist, sind von den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Auftrag des Bundesamtes zur Ausreise zu verhalten (Abschiebung), wenn

„1. die Überwachung ihrer Ausreise aus Gründen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit notwendig scheint,

2. sie ihrer Verpflichtung zur Ausreise nicht zeitgerecht nachgekommen sind,

3. auf Grund bestimmter Tatsachen zu befürchten ist, sie würden ihrer Ausreiseverpflichtung nicht nachkommen, oder

4. sie einem Einreiseverbot oder Aufenthaltsverbot zuwider in das Bundesgebiet zurückgekehrt sind.“

Gemäß § 46a Abs Z 1 FPG („Duldung“) ist der Aufenthalt von Fremden im Bundesgebiet (unter anderem) – ungeachtet der weiterhin bestehenden Ausreiseverpflichtung – zu dulden, solange deren Abschiebung gemäß §§ 50, 51 oder 52 Abs. 9 Satz 1 unzulässig ist, vorausgesetzt die Abschiebung ist nicht in einen anderen Staat zulässig. Bei Vorliegen dieser Voraussetzungen hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gemäß Abs 4 leg cit von Amts wegen oder auf Antrag eine Karte für Geduldete auszustellen. Mit Ausfolgung dieser Karte gilt der Aufenthalt als geduldet (Abs 6 leg cit). Gemäß Abs 2 leg cit endet die Duldung mit Wegfall der Hinderungsgründe.

Gemäß § 50 Abs 1 FPG („Verbot der Abschiebung“) ist die Abschiebung Fremder in einen Staat unter anderem dann unzulässig, wenn dadurch Art. 2 oder 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), BGBl Nr. 210/1958, oder das Protokoll Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe verletzt würde oder für sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.

Der Prüfungsmaßstab des § 50 Abs 1 FPG stimmt mit jenem nach § 8 Abs 1 AsylG 2005 überein (vgl etwa VwGH 21.05.2019, Ro 2019/19/0006 mwN).

Wie sich aus den diesbezüglich eindeutigen Ausführungen (AS 263 f) der belangten Behörde im Bescheid vom 29.10.2018, Zl 1068531006-180014928/BMI-BFA_VBG_RD, mit dem (unter anderem) die Unzulässigkeit der Abschiebung des Beschwerdeführers festgestellt wurde, ergibt, gründete diese Entscheidung auf der im damaligen Zeitpunkt noch vorliegenden Minderjährigkeit in Zusammenschau mit dem Fehlen von Angehörigen im Herkunftsstaat. Die Behörde führte insbesondere aus (Fehler korrigiert, Anm.):

„Da Sie zum jetzigen Zeitpunkt noch minderjährig sind und Sie aufgrund fehlender familiärer Anknüpfungspunkte in eine ausweglose Lage bei einer Rückkehr nach Afghanistan geraten würden, ist es Ihnen derzeit nicht möglich dorthin zurückzukehren.

Jedoch ist anzumerken, dass Sie in ca. zwei Monaten die Volljährigkeit erreichen und somit alle Rechte in Afghanistan besitzen, welche Sie für ein normales Leben in Afghanistan benötigen. Auch gaben Sie bei der Einvernahme zum Antrag auf internationalen Schutz am 04.04.2016 an, Kontakt mit Ihrer Familie im Iran zu haben. Somit könnte Ihre Familie im Iran Ihnen, zumindest für die Anfangszeit, Geld nach Afghanistan zukommen lassen, um Ihnen einen guten Start in Afghanistan zu ermöglichen.

Es ist hierbei anzumerken, dass Sie, samt Ihrer Minderjährigkeit, bereits in Österreich, einem Ihnen völlig unbekannten Land, in dem auch die Sprachen Ihnen unbekannt ist, über ein halbes Jahr Ihren Lebensunterhalt ohne Gelder der Grundversorgung bestritten haben. Sie selbst gaben in der Einvernahme vom 09.10.2018 an, dass Sie in der Zeit, als Sie keine Meldeadresse hatten, selbständig bei einem Freund in Wien lebten. Sie selbst waren dort für sich verantwortlich und haben auch dies ohne jegliche Probleme bewältigen können. Somit ist für die Behörde nicht ersichtlich, warum dies in der Heimat, wie Sie selbst die Sprache beherrschen, nicht möglich sein würde.

(…)

Aufgrund dieser oben beschriebenen Tatsachen geht die Behörde davon aus, dass nach Erreichung der Volljährigkeit einer Rückkehr Ihrer Person nach Afghanistan nichts entgegenstehen würde.“

In dem angefochtenen Bescheid vom 30.03.2021, Zl 1068531006/180014928, stellte die belangte Behörde insofern eine Änderung der Lage fest, als der Beschwerdeführer zwischenzeitlich volljährig geworden sei, seine bürgerlichen Rechte im Herkunftsstaat nunmehr selbst wahrnehmen könne und zudem als arbeitsfähiger gesunder Mann eigenständig einer Arbeit nachgehen könne.

Auch wenn diese Erwägungen der belangten Behörde zutreffend sein mögen, so kann im Hinblick auf den jüngst erfolgten Regierungsumsturz durch die Taliban und die derzeit vorherrschende Unsicherheit im Hinblick auf die Sicherheitslage nicht mit der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass für den Beschwerdeführer als Zivilperson mit der Abschiebung eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen Konflikts verbunden wäre.

Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes haben die Richtlinien von UNHCR und EASO Indizwirkung (vgl etwa VwGH 30.09.2019, Ra 2018/01/0457 mwN).

Nach dem „Leitfaden zur Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Afghanistan“ von UNHCR vom November 2018 beinhaltet die Prüfung, ob eine Person in einem bestimmten Gebiet sicher vor Verfolgung oder schwerem Schaden ist bzw dieses Gebiet sicher, legal und praktisch erreichbar ist – dh die Relevanzprüfung, wie sie maßgeblich für die Prüfung der subsidiären Schutzgewährung gemäß § 8 Abs 1 AsylG zum Tragen kommt – zunächst die Frage, ob das betreffende Gebiet unter der Kontrolle regierungsfeindlicher Kräfte steht. Mit nur (noch) wenigen Ausnahmen befindet sich ganz Afghanistan unter der Kontrolle der Taliban. Zwar ergibt sich aus den vorhandenen Berichten, dass die Taliban das Land zukünftig regieren wollen, eine etablierte Nachfolgeregierung nach dem Umsturz der bisherigen ist jedoch noch nicht erfolgt. Im Hinblick darauf gibt es momentan kein Gebiet in Afghanistan, das nicht unter der Kontrolle regierungsfeindlicher Kräfte steht bzw ohne Kontakt mit solchen erreichbar wäre.

In ähnlicher Weise führt EASO im „Practical guide on the application of the internal protection alternative“ vom Juli 2021 aus, dass in aktiven Konfliktregionen grundsätzlich keine Ansiedlungsmöglichkeit besteht; neben der Existenz von aktiven Konflikten ist auch die Volatilität der Lage relevant. Angesichts der Rasanz der Eroberungen der Taliban und der kurzen Zeit, die seither vergangen ist, ist – trotz der medialen Beteuerungen der Taliban –die Lage noch nicht als stabil anzusehen und momentan nicht abschätzbar, ob tatsächlich Frieden eingetreten ist, Menschenrechte gewahrt werden und keine weitere Gefährdung für Individuen besteht.

Insbesondere fordert UNHCR im (bereits in den Länderfeststellungen zitierten) Positionspapier vom August 2021 zur Rückkehr nach Afghanistan im Hinblick auf die aktuelle Lage alle Staaten dazu auf, fliehenden Afghan*innen Zutritt zu gewähren und das Prinzip des Non-Refoulement stets zu respektieren. Aufgrund der derzeitig volatilen Situation erachtet UNHCR die Verweigerung internationalen Schutzes für Staatsangehörige und ehemalige Einwohner*innen mit dem Argument einer verfügbaren innerstaatlichen Flucht- oder Wiederansiedlungsalternative für unangebracht. Im Falle von Personen, deren Anträge auf internationalen Schutz zeitlich vor den jüngsten Ereignissen abgewiesen worden sind, können geänderte Umstände vorliegen, die in einem allfälligen neuen Antrag berücksichtigt werden müssen. Alle Staaten sind dazu aufgefordert, Abschiebungen – auch von Personen, deren Anträge auf internationalen Schutz bereits abgewiesen worden sind – auszusetzen, bis sich die Lage der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit so deutlich verbessert hat, dass eine Rückkehr in Sicherheit und Würde möglich ist. Auch Abschiebungen afghanischer Staatsangehöriger und Einwohner*innen in Nachbarstaaten sollen ausgesetzt werden, um die Verantwortung im internationalen Flüchtlingsschutz gerecht aufzuteilen.

Im Ergebnis ist somit zum Entscheidungszeitpunkt die Abschiebung des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat Afghanistan – wenn auch aus anderen Gründen als bisher – gemäß § 50 Abs 1 FPG im Zusammenhang mit der damit verbundenen ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts, welche nicht mit der maßgeblichen Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann, weiterhin unzulässig. Diese aktuellen Veränderungen der Lage im Herkunftsstaat konnte die belangte Behörde bei der Erlassung des angefochtenen Bescheides noch nicht absehen und daher noch nicht berücksichtigen.

Im Falle einer feststellbaren deutlichen Verbesserung der Ländersituation in Bezug auf die Sicherheitslage und Wahrung der Menschenrechte kommt voraussichtlich eine neuerliche Aufhebung der Duldung durch die belangte Behörde in Betracht.

Der Beschwerde des Beschwerdeführers ist sohin Folge zu geben und festzustellen, dass zum Entscheidungszeitpunkt die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß § 46 iVm § 50 FPG unzulässig ist. Der Aufenthalt des Beschwerdeführers ist im Bundesgebiet folglich weiterhin ex lege gemäß § 46a Abs. 1 Z 2 FPG geduldet (vgl. VwGH 26.04.2017, Ra 2017/19/0016, mwN).

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Die Entscheidung folgt der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.

Schlagworte

Abschiebungshindernis Menschenrechtsverletzungen Sicherheitslage

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W133.2146966.3.00

Im RIS seit

16.11.2021

Zuletzt aktualisiert am

16.11.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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