Entscheidungsdatum
26.08.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W192 2245105-1/2E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch den Richter Dr. Ruso als Einzelrichter über die Beschwerde der XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit: Serbien, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH (BBU), gegen die Spruchpunkte IV. bis VI. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21.05.2021, Zahl: 1276088310-210387584:
A) In Erledigung der Beschwerde wird der bekämpfte Bescheid im angefochtenen Umfang aufgehoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Begründung:
I. Verfahrensgang und Sachverhalt:
1. Die Beschwerdeführerin, eine volljährige Staatsangehörige Serbiens, stellte am 22.03.2021 infolge illegaler Einreise in das Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz, zu welchem sie am Tag der Antragstellung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt und am 06.05.2021 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen wurde.
Zum Grund ihrer Antragstellung führte sie im Wesentlichen aus, kurz nach ihrer Einreise im Oktober 2020 einen Mann kennengelernt zu haben, welchen sie am 01.11.2020 nach islamischem Recht in Wien geheiratet hätte. In der Folge erklärte sie, dass die Kosten ihrer illegalen Reise nach Österreich durch ihren Ehemann finanziert worden wären. Angesprochen auf den Widerspruch korrigierte sie ihre Angaben dahingehend, dass sie bereits vor der Ausreise telefonischen Kontakt mit ihrem Mann gehabt hätte. Nunmehr sei sie schwanger, sie lebe mit ihrem Mann, welcher für ihren Lebensunterhalt aufkomme, unangemeldet im gleichen Haushalt und habe noch keine Integrationsschritte im Bundesgebiet gesetzt. Sie habe noch zahlreiche Verwandte in Serbien, das Verhältnis zu diesen sei jedoch schlecht. In Serbien habe sie zuletzt bei einem Bruder gelebt, welcher ihr mitgeteilt hätte, dass sie nicht länger bei ihm leben könnte, da er kaum für sich selbst und seine eigene Familie sorgen könnte. Ihre Ausreise sei aus wirtschaftlichen Gründen erfolgt, eine persönliche Bedrohung oder Verfolgung habe nie stattgefunden. Im Fall einer Rückkehr befürchte sie, keine Unterkunft mehr zu haben. Die Beschwerdeführerin legte ihre islamische Heiratsurkunde und ihren Mutter-Kind-Pass vor und erklärte, ihren serbischen Reisepass bereits im Jahr 2019 verloren zu haben.
2. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 21.05.2021 wurde der Antrag auf internationalen Schutz der Beschwerdeführerin sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Gewährung subsidiären Schutzes jeweils abgewiesen (Spruchpunkte I. und II.), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dieser gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.), es wurde gegen die Beschwerdeführerin gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass deren Abschiebung nach Serbien gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.) und ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).
Die Behörde traf Feststellungen zur Person der Beschwerdeführerin sowie zur Lage in Serbien und führte aus, dass die Beschwerdeführerin glaubhaft vorgebracht hätte, ihren Herkunftsstaat aufgrund der dortigen wirtschaftlichen Lage verlassen zu haben. Die Beschwerdeführerin habe den Großteil ihres Lebens in Serbien verbracht, wo sie in der Landwirtschaft gearbeitet hätte und zahlreiche Familienangehörige habe; dieser sei es als gesunder und volljähriger Frau möglich, durch Teilnahme am Erwerbsleben selbst für ihren Lebensunterhalt in Serbien aufzukommen. Ein schützenswertes Familienleben in Österreich sei nicht festzustellen gewesen. Diese sei schwanger, der Vater ihres Kindes stehe jedoch nicht fest. Sie habe im Bundesgebiet infolge illegaler Einreise unangemeldet Unterkunft genommen und in diesem Zeitraum eine Ehe nach islamischem Recht geschlossen. Zum Kennenlernen mit ihrem nunmehrigen Mann habe sie widersprüchliche Angaben erstattet. Sämtliche Familienangehörigen würden sich nach wie vor in Serbien aufhalten und die Beschwerdeführerin habe bislang keine Integrationsbemühungen in Österreich gesetzt.
Jener Bescheid wurde der Beschwerdeführerin zunächst am 28.05.2021 (Beginn der Abholfrist) durch Hinterlegung zugestellt, von dieser jedoch nicht behoben; das Bundesamt stellte den Bescheid in der Folge am 08.07.2021 (Beginn der Abholfrist)neuerlich an die Abgabestelle der Beschwerdeführerin zu.
3. Mit Schriftsatz der nunmehr bevollmächtigten Vertretung vom 03.08.2021 erhob die Beschwerdeführerin die gegenständliche Beschwerde gegen die Spruchpunkte IV., V. und VI. des dargestellten Bescheides, in welcher begründend ausgeführt wurde, die Behörde habe ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt, zumal sie nicht geprüft hätte, welche Auswirkungen eine Abschiebung der Beschwerdeführerin auf die Beziehung mit ihrem Mann sowie auf das Wohl ihres mittlerweile geborenen Kindes haben würde. Die Beziehung und die zwischen der Beschwerdeführerin und ihrem Mann (traditionell) geschlossene Ehe seien jedenfalls vom Schutzumfang des Art. 8 EMRK umfasst; überdies sei zu berücksichtigen, dass der Ehemann und, von diesem abgeleitet, das neugeborene Kind gemäß § 34 Abs. 6 Z 2 AsylG 2005 Asylstatus haben (werden), sodass eine Aufrechterhaltung des Familienlebens im Falle der Rückkehr der Beschwerdeführerin nach Serbien nicht gewährleistet wäre. Der VfGH habe in Anlehnung an die Rechtsprechung des EGMR in mehreren Entscheidungen klargestellt, dass bei der Prüfung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme stets die Auswirkungen auf das Kindeswohl zu berücksichtigen seien, wobei dem Recht auf direkten Kontakt zu beiden Elternteilen laut Judikatur des EGMR besonderes Gewicht beizumessen sei. Der Beschwerdeführerin sei im Hinblick auf ihr gemäß Art. 8 EMRK geschütztes Privat- und Familienleben sowie das verfassungsrechtlich gewährleistete Kindeswohl eine Aufenthaltsberechtigung gemäß § 55 AsylG 2005 zu erteilen. Beantragt wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zur Klärung der familiären Verhältnisse der Beschwerdeführerin. Beiliegend wurden Kopien des islamischen Ehevertrages, des Bescheides vom 14.09.2015 über die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten an den Ehemann nach islamischem Recht der Beschwerdeführerin sowie der im August 2021 ausgestellten österreichischen Geburtsurkunde des Sohnes der Beschwerdeführerin übermittelt.
2. Beweiswürdigung:
Der oben angeführte Verfahrensgang und Sachverhalt ergeben sich aus dem vorgelegten Verwaltungsakt sowie eingeholten Auszügen aus dem Zentralen Melderegister, dem Zentralen Fremdenregister und dem Strafregister.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Zu Spruchpunkt A)
3.1.1. Da sich die gegenständliche Beschwerde ausdrücklich ausschließlich gegen die Spruchpunkte IV., V. und VI. des angefochtenen Bescheides richtet, ist der Bescheid im übrigen Umfang, sohin hinsichtlich der Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz sowie der Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005, bereits in Rechtskraft erwachsen.
3.1.2. Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Gemäß Abs. 2 hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder dieser durch das Verwaltungsgericht selbst festgestellt werden kann, sofern dies im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist. Gemäß Abs. 3 zweiter Satz kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen, wenn die Behörde die notwendigen Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen hat. In diesem Fall ist die Behörde an die Rechtsansicht des Verwaltungsgerichtes gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgeht.
Das Modell der Aufhebung des Bescheids und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, setzt im Unterschied dazu aber nicht die Notwendigkeit der Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung voraus. Voraussetzung für eine Aufhebung und Zurückverweisung ist allgemein das Fehlen behördlicher Ermittlungsschritte. Sonstige Mängel, abseits jener der Sachverhaltsfeststellung, legitimieren nicht zur Behebung auf Grundlage von § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG (Fister/Fuchs/Sachs, Das neue Verwaltungsgerichtsverfahren, 2. Auflage [2018] § 28 VwGVG, Anm. 11).
§ 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, wenn „die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen“ hat.
3.1.3. Der Verwaltungsgerichtshof hat sich bereits wiederholt mit der Sachentscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte auseinandergesetzt und darin folgende Grundsätze herausgearbeitet (VwGH 26.06.2014, Ro 2014/03/0063; 30.06.2015, Ra 2014/03/0054):
Die Aufhebung eines Bescheides einer Verwaltungsbehörde durch ein Verwaltungs-gericht kommt nach dem Wortlaut des § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG nicht in Betracht, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren geklärt wurde, zumal dann, wenn sich aus der Zusammenschau der im verwaltungsbehördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen (im Zusammenhalt mit den dem Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsakten) mit dem Vorbringen in der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde kein gegenläufiger Anhaltspunkt ergibt.
Der Verfassungsgesetzgeber hat sich bei Erlassung der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 davon leiten lassen, dass die Verwaltungsgerichte grundsätzlich in der Sache selbst zu entscheiden haben, weshalb ein prinzipieller Vorrang einer meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte anzunehmen ist.
Angesichts des in § 28 VwGVG insgesamt verankerten Systems stellt die nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte dar. Nach dem damit gebotenen Verständnis steht diese Möglichkeit bezüglich ihrer Voraussetzungen nicht auf derselben Stufe wie die im ersten Satz des § 28 Abs. 3 verankerte grundsätzliche meritorische Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte. Vielmehr verlangt das in § 28 insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher insbesondere dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer „Delegierung“ der Entscheidung an das Verwaltungsgericht).
3.2. Solche gravierenden Ermittlungslücken sind dem Bundesamt hier unterlaufen:
3.2.1. Bei Erlassung einer Rückkehrentscheidung ist unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 MRK ihre Verhältnismäßigkeit am Maßstab des § 9 BFA-VG 2014 zu prüfen. Nach dessen Abs. 1 ist nämlich (ua) die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FrPolG 2005, wenn dadurch in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 MRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei Beurteilung dieser Frage ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG 2014 genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG 2014 ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. VwGH 15.02.2021, Ra 2020/21/0301).
Wie der Verfassungsgerichtshof zuletzt in seinem Erkenntnis vom 26.02.2019, E 3079/2018-17, ausgeführt hat, darf eine Aufenthaltsbeendigung nicht verfügt werden, wenn dadurch das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens des Betroffenen verletzt würde. Bei der Beurteilung nach Art. 8 EMRK ist eine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl. die in VfSlg. 18.223/2007 und 18.224/2007 wiedergegebene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte). Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind die Auswirkungen der Entscheidung und die Konsequenzen einer Außerlandesbringung des Beschwerdeführers auf das Familienleben und auf das Kindeswohl etwaiger Kinder des Betroffenen zu erörtern (vgl. hiezu VfGH 24.09.2018, E 1416/2018; zur Bedeutung der mit einer Trennung des Beschwerdeführers von seinem Kind verbundenen Auswirkungen VfSlg. 19.362/2011). Einer mit der Ausweisung verbundenen Trennung von Familienmitgliedern kommt eine entscheidungswesentliche Bedeutung zu (vgl. VfSlg. 18.388/2008, 18.389/2008, 18.392/2008). Die Intensität der privaten und familiären Bindungen im Inland ist dabei zu berücksichtigen (VfSlg. 18.748/2009).
Zum einen sind die Auswirkungen einer Ausweisung auf das gemeinsame Familienleben von Ehegatten im Rahmen der Interessenabwägung zu berücksichtigen (vgl. VfSlg. 16.702/2002, 19.180/2010). Einer durch eine aufenthaltsbeendende Maßnahme drohenden Trennung von Ehegatten muss im Rahmen der Abwägung Rechnung getragen werden (vgl. VfSlg. 18.392/2008, 18.748/2009).
Einer mit der Ausweisung verbundenen Trennung des Beschwerdeführers von einer Lebensgefährtin ist ebenfalls entscheidungswesentliche Bedeutung beizumessen (VfSlg. 18.393/2008). Der Umstand, dass eine Ehe in zeitlicher Nähe zur Asylentscheidung geschlossen wird, vermag die gebotene Abwägung der Auswirkungen einer Ausweisungsentscheidung auf ein existierendes Familienleben nicht zu ersetzen (vgl. VfSlg. 19.180/2010).
Zum anderen sind die Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Familienleben zwischen Eltern und Kindern in der Abwägung zu berücksichtigen. Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entsteht ein von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Familienleben zwischen Eltern und Kind mit dem Zeitpunkt der Geburt (vgl. EGMR 21.6.1988, Fall Berrehab, Appl. 10.730/84 [Z 21]; 26.5.1994, Fall Keegan, Appl. 16.969/90 [Z 44]). Diese besonders geschützte Verbindung kann in der Folge nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden (EGMR 19.2.1996, Fall Gül, Appl. 23.218/94 [Z 32]). Ferner ist es nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ein grundlegender Bestandteil des Familienlebens, dass sich Eltern und Kinder der Gesellschaft des jeweiligen anderen Teiles erfreuen können; die Familienbeziehung wird insbesondere nicht dadurch beendet, dass das Kind in staatliche Pflege genommen wird (vgl. VfSlg. 16.777/2003 mit Hinweis auf EGMR 25.02.1992, Fall Margareta und Roger Andersson, Appl. 12963/87 [Z 72] mwN; zu den Voraussetzungen für ein [potentielles] Familienleben zwischen einem Kind und dessen Vater siehe auch EGMR 15.09.2011, Fall Schneider, Appl. 17.080/07 [Z 81] mwN). Davon ausgehend kann eine unzureichende Berücksichtigung des Kindeswohles zur Fehlerhaftigkeit der Interessenabwägung und somit zu einer Verletzung des Art. 8 EMRK führen (vgl. VfGH 28.02.2012, B 1644/2000 mit Hinweis auf EGMR 31.1.2006, Fall Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Appl. 50.435/99 sowie insbesondere EGMR 28.06.2011, Fall Nunez, Appl. 55.597/09; VfGH 12.10.2016, E 1349/2016).
Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes sind die konkreten Auswirkungen einer Aufenthaltsbeendigung für ein Elternteil auf das Wohl eines Kindes zu ermitteln und bei der Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK zu berücksichtigen (vgl. VfSlg. 19.362/2011; VfGH 25.02.2013, U 2241/2012; 19.06.2015, E 426/2015; 09.06.2016, E 2617/2015; 12.10.2016, E 1349/2016; 14.03.2018, E 3964/2017; 11.06.2018, E 343/2018, E 345/2018; 11.06.2018, E 435/2018). Der Verfassungsgerichtshof nimmt an, es sei lebensfremd anzunehmen, dass der Kontakt zwischen einem Kleinkind und einem Elternteil über Telekommunikation und elektronische Medien aufrechterhalten werden könne (vgl. dazu VfGH 25.02.2013, U 2241/2012; 19.06.2015, E 426/2015; 12.10.2016, E 1349/2016; 11.06.2018, E 343/2018, E 345/2018).
Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist auch zu berücksichtigen, wenn die Lebensgefährtin eines Beschwerdeführers schwanger ist (vgl. VfSlg.18.223/2007, 18.393/2008, 19.776/2013; VfGH 27.02.2018, E 3775/2017).
Führt der Beschwerdeführer eine Beziehung und hat er ein gemeinsames Kind, muss dem im Rahmen der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung Bedeutung zugemessen werden (VfSlg. 18.748/2009; VfGH 27.02.2018, E 3775/2017).
Der Verwaltungsgerichtshof hat im Erkenntnis vom 05.10.2017, Ra 2017/21/0119, in einer ähnlichen Konstellation erwogen, dass eine Trennung der dortigen Revisionswerberin von ihrem Ehemann angesichts ihres festgestellten missbräuchlichen Verhaltens der Erlassung einer Rückkehrentscheidung für sich betrachtet noch nicht im Wege stehe (vgl. dazu Rz 12 des hg. Erkenntnisses vom 23. März 2017, Ra 2016/21/0199, mwH). Allerdings tritt hinzu, dass sie schwanger war und daher ihre Situation auch unter diesem Blickwinkel bzw. weiter allenfalls unter jenem als alleinstehende Mutter eines Säuglings zu betrachten gewesen wäre. Außerdem hätte es auch einer Bewertung aus der Perspektive des (im Zeitraum der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses noch ungeborenen) Kindes bedurft. Der Verwaltungsgerichtshof hat nämlich bereits wiederholt die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer Rückkehrentscheidung auf das Kindeswohl bei der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Interessenabwägung zum Ausdruck gebracht (vgl. zuletzt den hg. Beschluss vom 31. August 2017, Ro 2017/21/0012, Rz 8, mwN). Dabei wären zunächst die rein existenziellen Bedürfnisse des Kindes in den Blick zu nehmen gewesen, und zwar nicht zuletzt angesichts der im Bescheid des BFA vom 12. Jänner 2017 festgestellten hohen Kindersterblichkeit in Tadschikistan. Darüber hinaus hätte es aber auch einer Berücksichtigung dessen bedurft, dass die Erlassung der gegenständlichen Rückkehrentscheidung im Ergebnis dazu führen könnte, dass der nach der Geburt bestehende grundsätzliche Anspruch des Kindes auf Familienasyl (§§ 34 f. AsylG 2005) infolge des faktischen Angewiesenseins auf seine Mutter konterkariert werden würde und dass es (so ein Familiennachzug der Mutter nach Österreich nicht in Betracht käme, was nach den Feststellungen des BVwG nahe liegt) im Wesentlichen jedenfalls ohne einen Elternteil aufwachsen müsste. Auch damit hätte sich das BVwG auseinandersetzen müssen (siehe zu einer ähnlichen Konstellation das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 19. Juni 2015, E 426/2015, in dem dieser erkannte, dass die dortige Beschwerdeführerin durch die Rückkehrentscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK verletzt worden sei).
3.2.2. Die Beschwerdeführerin brachte vor, einen in Österreich lebenden Mann nach islamischem Recht geheiratet zu haben, mit diesem in einem gemeinsamen Haushalt zu leben und ein Kind zu erwarten. Der angefochtene Bescheid enthält in diesem Kontext lediglich die Negativfeststellung hinsichtlich des Nichtbestehens eines schützenswerten Familienlebens. Vor dem Hintergrund der dargestellten Rechtsprechung hätte es angesichts der Schwangerschaft der Beschwerdeführerin zum Entscheidungszeitpunkt des Bundesamtes jedoch jedenfalls weiterer Ermittlungen bedurft, um insbesondere die Auswirkungen einer Aufenthaltsbeendigung auf die Beziehung zu ihrem zwischenzeitlich geborenen Kind und dessen Kindeswohl feststellen zu können.
Der gemeinsam mit der Beschwerde übermittelten Kopie des Bescheides über die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten an den von der Beschwerdeführerin genannten Lebensgefährten/Kindesvater ist zu entnehmen, dass es sich bei diesem um einen seit dem Jahr 2014 in Österreich aufhältigen Staatsangehörigen Syriens handelt. Zudem ist der übermittelten Kopie der österreichischen Geburtsurkunde zu entnehmen, dass der von der Beschwerdeführerin genannte Mann als Kindesvater eingetragen wurde.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl traf keinerlei Feststellungen zur Staatsangehörigkeit und aufenthaltsrechtlichen Stellung des Lebensgefährten bzw. Ehegatten nach islamischem Recht der Beschwerdeführerin. Ebensowenig wurde die Frage der (künftigen) Staatsbürgerschaft und aufenthaltsrechtlichen Stellung des Kindes auch nur ansatzweise behandelt, obwohl es angesichts der syrischen Staatsbürgerschaft des Kindesvaters und dessen aufrechtem Asylstatus (unter Berücksichtigung der rechtlichen Möglichkeit der Ableitung eines Asylstatus im Rahmen eines Familienverfahrens nach § 34 AsylG 2005) jedenfalls Anhaltspunkte dafür gegeben hat, dass das von der Beschwerdeführerin erwartete Kind künftig zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt sein würde bzw. einen Anspruch auf Asyl im Familienverfahren haben werde. Die Feststellung der Behörde, dass die Vaterschaft für das von der Beschwerdeführerin erwartete Kind ungeklärt gewesen sei, erweist sich im Hinblick auf eine Feststellung des konkreten Familienlebens und die Auswirkungen einer Aufenthaltsbeendigung der Beschwerdeführerin als unzureichend, auch zumal die Vaterschaft zwischenzeitlich als geklärt zu erachten ist.
Es ist der Behörde zwar beizupflichten, dass die Beschwerdeführerin offensichtlich einen missbräuchlichen Antrag auf internationalen Schutz eingebracht hat, mit welchem sie versuchte, die Voraussetzungen für eine reguläre Niederlassung im Bundesgebiet zu umgehen; zudem musste sie sich bei Eingehen der Beziehung zu ihrem nunmehrigen Lebensgefährten der Unsicherheit ihres Aufenthaltsstatus bewusst sein und konnte nicht auf einen Verbleib im Bundesgebiet vertrauen; es ist auch zutreffend, dass die Beschwerdeführerin angesichts ihrer unterschiedlichen Aussagen zum Zeitpunkt des Kennenlernens ihres Ehemannes (diese brachte einerseits vor, ihren Mann erst nach ihrer Einreise in Österreich kennengelernt zu haben, verwies jedoch andererseits darauf, dass bereits die Kosten ihrer schlepperunterstützten Reise nach Österreich durch ihren Mann finanziert worden waren) die tatsächlichen Umstände des Kennenlernens offensichtlich verschleiern wollte und wohl eine länger geplante Einreise mit dem Ziel der Umgehung der Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen vorgelegen hat. All diese Aspekte hätten in der Folge zwar im Rahmen der vorzunehmenden Interessensabwägung berücksichtigt werden können, entbinden die Behörde unter Berücksichtigung des zitierten Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes vom 05.10.2017 Ra 2017/21/0119, jedoch nicht davon, zunächst die oben angeführten Ermittlungen unter Einbeziehung der damaligen Schwangerschaft bzw. nunmehr der Auswirkungen einer Aufenthaltsbeendigung auf die Situation des zwischenzeitlich geborenen Kindes vorzunehmen.
Die Behörde hat auch keinerlei Feststellungen dazu getroffen, ob der Beschwerdeführerin ein gemeinsames Familienleben mit ihrem neugeborenen Kind (sowie dem Kindesvater) allenfalls auch außerhalb Österreichs, insbesondere in ihrem Herkunftsstaat Serbien, möglich sein würde. Ebensowenig wurden Feststellungen zu den Auswirkungen einer allfälligen Trennung des Kindes von einem der Elternteile getroffen. Insgesamt sind dem Bescheid keinerlei Feststellungen dazu zu entnehmen, in welcher Weise die Beziehung zwischen der Beschwerdeführerin, ihrem Kind und dem Kindesvater künftig ausgestaltet werden könnte.
Unter Berücksichtigung der dargestellten höchstgerichtlichen Rechtsprechung fehlen demnach im angefochtenen Bescheid die relevanten Feststellungen, welche eine Berücksichtigung der Auswirkungen einer Aufenthaltsbeendigung auf das Familienleben der Beschwerdeführerin sowie auf das Kindeswohl ihres Anfang August 2021 geborenen Sohnes ermöglichen würden, vollkommen.
3.2.3. Dass das Bundesamt es unterließ, Feststellungen zur familiären Situation der Beschwerdeführerin unter Berücksichtigung ihrer damaligen Schwangerschaft zu treffen, stellt daher einen im Sinne der vorzitierten Rechtsprechung besonders gravierenden Ermittlungsmangel dar, der die Aufhebung des angefochtenen Bescheids und die Zurückverweisung der Angelegenheit zum Bundesamt gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG rechtfertigt.
Denn mit Blick auf den skizzierten Hergang des Ermittlungsverfahrens geht das Bundes-verwaltungsgericht davon aus, dass das Bundesamt den Sachverhalt, welchen es für die Erlassung sämtlicher Spruchpunkte des angefochtenen Bescheids (im angefochtenen Umfang) als maßgeblich feststellte, im Sinne der vorzitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bloß ansatzweise ermittelt hat.
Indem die Behörde die Schwangerschaft der Beschwerdeführerin außer Acht ließ und die konkrete familiäre Situation der Beschwerdeführerin nicht erhoben hat, hat sie es unternommen, das ordnungsgemäße Ermittlungsverfahren gleichsam auf das Bundesverwaltungsgericht zu überwälzen. Die belangte Behörde wird insbesondere ergänzende Ermittlungen zum tatsächlich gelebten Familienleben, dem Kindeswohl und den Konsequenzen einer Rückkehrentscheidung für die Familie, gegebenenfalls durch neuerliche Einvernahme der Beschwerdeführerin und des Kindesvaters, anzustellen haben.
Der angefochtene Bescheid ist sohin gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG aufzuheben und die Rechtssache wird zur Erlassung eines neuen Bescheids an das Bundesamt zurückverwiesen.
Zu Spruchpunkt B) Unzulässigkeit der Revision
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung, des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige (insbesondere VwGH 26.06.2014, Ro 2014/03/0063; 30.06.2015, Ra 2014/03/0054) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.
Schlagworte
Behebung der Entscheidung Ermittlungspflicht Familienverfahren individuelle Verhältnisse Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung soziale Gruppe vulnerable PersonengruppeEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W192.2245105.1.00Im RIS seit
16.11.2021Zuletzt aktualisiert am
16.11.2021