TE Bvwg Beschluss 2021/9/2 W240 2243539-1

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Veröffentlicht am 02.09.2021
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Entscheidungsdatum

02.09.2021

Norm

AsylG 2005 §10 Abs2
AsylG 2005 §57
BFA-VG §18 Abs2 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs1 Z1
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs2 Z6
FPG §55 Abs4
VwGVG §28 Abs3

Spruch


W240 2243539-1/5E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch die Richterin Mag. Feichter über die Beschwerde von XXXX , StA. Serbien, vertreten durch RA Mag. Stephan HEMETSBERGER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.05.2021, Zl. 1277099210-210515005:

A)

In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG idgF behoben und die Angelegenheit an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Begründung:

I. Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführerin (in der Folge: BF), eine serbische Staatsangehörige, reiste zuletzt laut Einreisestempel am 11.10.2016 in den Schengen-Raum ein und wurde am 19.04.2021 von der Landespolizeidirektion Wien (in der Folge: LPD) im Bundesgebiet aufgegriffen und einer Identitätsfeststellung unterzogen. In weiterer Folge wurde gegen sie Anzeige gemäß
§ 120 Abs. 1a iVm § 31 Abs. 1 und 1a FPG erstattet und ihr serbischer Reisepass gemäß
§ 39 Abs. 1 BFA-VG sichergestellt.

Am selben Tag wurde der BF ein Schreiben („Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme“) des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: BFA) ausgehändigt, mit dem sie darüber informiert wurde, dass ein Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeenden Maßnahme gegen sie eingeleitet wurde und aufgrund ihres unrechtmäßigen Aufenthaltes in Österreich geprüft werde, ob gegen sie eine Rückkehrentscheidung zu erlassen sei. Gleichzeitig wurde der BF eine 14-tägige Frist zur Einbringung einer allfälligen schriftlichen Stellungnahme eingeräumt.

Die BF erstattete in der Folge keine Stellungnahme.

Mit Bescheid des BFA vom 04.05.2021, zugestellt am 07.05.2021, wurde der BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt I.), gemäß § 10 Abs. 2 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG erlassen (Spruchpunkt II.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Serbien gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.), ihr gemäß § 55 Abs. 4 FPG eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt (Spruchpunkt IV.), einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt V.) und gegen die BF gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VI.).

Begründend führte die Behörde im Wesentlichen aus, dass die BF die Dauer ihres erlaubten visumsfreien Aufenthaltes in Österreich überschritten sowie keinen gültigen Aufenthaltstitel habe und damit unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig sei. Die BF gehe auch keiner legalen Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet nach, sei nicht versichert und habe gegen ihre Meldepflicht verstoßen. Ein – der Rückkehrentscheidung entgegenstehendes –schützenswertes Familien- oder Privatleben iSd Art. 8 EMRK bestehe nicht.

Aufgrund der Mittellosigkeit der BF sei auch die Erlassung eines Einreiseverbotes geboten gewesen. Da die BF gegen die Bestimmungen des FPG, NAG, SGK und SDÜ verstoßen habe, stelle ihr Verhalten bzw. ihr Verbleib in Österreich eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit dar und sei ihre sofortige Ausreise im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlich.

Gegen diesen Bescheid erhob die BF durch ihren ausgewiesenen Rechtsvertreter mit Schriftsatz vom 03.06.2021, bei der Behörde eingelangt am 08.06.2021, fristgerecht und vollumfänglich Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts sowie wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften und führte dazu im Wesentlichen aus, dass im Bescheid von falschen Sachverhaltsvoraussetzungen ausgegangen werde, die die BF im mangelhaften Verfahren vor der belangten Behörde aufgrund ihrer psychischen und geistigen Beeinträchtigung nicht vorzubringen in der Lage gewesen sei.

Die BF sei bereits im Alter von zehn Jahren nach Österreich gekommen und halte sich seit 1981 durchgehend im Bundesgebiet auf. Zu Serbien habe sie seither keine persönliche Bindung und dort auch keine nahen Verwandten. Entgegen den Ausführungen im Bescheid habe sie dort auch nicht bis 2016 ihr Leben verbracht, sondern sei seit nunmehr 40 Jahren –abgesehen von gelegentlichen Kurzaufenthalten in Serbien – ununterbrochen in Wien wohnhaft gewesen, wo sie aufgewachsen sei und die Volksschule, Hauptschule und Sonderschule besucht habe. Sie sei in Österreich voll integriert und auch sozialversichert. In ihrem alten — verlorengegangenen — serbischen Pass sei auch ein Daueraufenthaltstitel eingetragen gewesen. Ihr Aufenthalt in Österreich sei durchwegs rechtmäßig gewesen.

Die BF sei von einer Intelligenzminderung (ICD-10 F.70 ff) betroffen und gegen Ende der Sonderschulzeit auch psychisch erkrankt. Sie leide an einer schizoaffektiven Störung sowie an einem organischen Psychosyndrom und befinde sich in regelmäßiger psychiatrisch-neurologischer Behandlung. Sie sei arbeitsunfähig und nicht in der Lage, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Seit ihrer Erkrankung werde sie ausschließlich von ihrer Familie unterstützt (betreut und alimentiert) und wohne vorwiegend bei ihrem Cousin XXXX , alternierend bei ihrem Bruder, XXXX . Eine zielgerichtete Kommunikation mit Dritten sei ihr – trotz perfekter Deutschkenntnisse – intellektuell bedingt nur sehr eingeschränkt bis gar nicht möglich.

Die BF sei sowohl strafgerichtlich als auch verwaltungsbehördlich bislang unbescholten und zudem aufgrund ihrer Intelligenzminderung und ihrer psychischen Erkrankungen auch gar nicht schuldfähig.

Die erlassene Rückkehrentscheidung wie auch das Einreiseverbot würden grundrechtswidrig ihr seit 40 Jahren in Österreich bestehendes Privat- und Familienleben verletzen. Es verbiete sich daher auf Dauer die Erlassung einer Rückkehrentscheidung.

Darüber hinaus erwiese sich eine Abschiebung nach Serbien mangels Gewährleistung einer adäquaten medizinischen Betreuung ihrer psychischen Erkrankungen als unzulässig.

Die BF habe die öffentliche Ordnung und Sicherheit nie gestört und sei es ihr auch nicht zumutbar, den Verfahrensausgang in ihrem Geburtsstaat, zu dem sie keinerlei Bindungen habe, abzuwarten.

Die Behörde habe es auch verabsäumt, die Handlungs- und Prozessfähigkeit der BF zu prüfen, weshalb das bisherige Verfahren mit Nichtigkeit belastet sei. An einer diesbezüglichen Feststellung habe die BF ein rechtliches Interesse.

Beantragt wurde die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung, die Aufnahme näher bezeichneter Beweise (betreffend den Aufenthalt, die diversen Schulbesuche, die Sozialversicherung und die Daueraufenthaltsberechtigung der BF im Bundesgebiet sowie ihre psychische Erkrankung) sowie die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, die Feststellung des Bestehens einer Daueraufenthaltsberechtigung, in eventu die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung aus Gründen des Art. 8 EMRK oder einer Aufenthaltsberechtigung „besonderer Schutz“, die ersatzlose Behebung der Spruchpunkte II.-VI., in eventu die Feststellung der Nichtigkeit des bisherigen Verwaltungsverfahrens sowie der Unwirksamkeit der Zustellung des angefochtenen Bescheids mangels Prozessfähigkeit der BF.

Das BFA legte dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge: BVwG) die Beschwerde sowie den Verwaltungsakt, einlangend am 18.06.2021, vor und beantragte die Abweisung der Beschwerde.

Mit hg. Teilerkenntnis vom 21.06.2021 (W240 2243539-1/3Z) wurde der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.


II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Zur Person der BF und zum Sachverhalt:

Die BF führt die im Spruch angeführte Identität, ist Staatsangehörige der Republik Serbien und im Besitz eines am 07.11.2012 ausgestellten und bis 07.11.2022 gültigen Reisepasses der Republik Serbien.

Sie reiste zuletzt laut Einreisestempel am 11.10.2016 in den Schengen-Raum ein.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF in Österreich über eine gültige Aufenthaltsberechtigung verfügt.

Die BF ging im Bundesgebiet jedenfalls seit 01.01.2000 keiner legalen Erwerbstätigkeit nach.

Es kann aufgrund der Aktenlage nicht festgestellt werden, ob die BF jemals in Österreich sozialversichert war.

Die BF verfügte in den Zeiträumen von 22.11.2012 bis 13.03.2013 sowie von 24.01.2017 bis 29.09.2017 über eine aufrechte behördliche Hauptwohnsitzmeldung im Bundesgebiet. Aktuell ist die BF nicht aufrecht behördlich im Bundesgebiet gemeldet.

Die BF ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Es kann aufgrund des Ermittlungsergebnisses der belangten Behörde nicht festgestellt werden, ob die BF – wie in der Beschwerde behauptet – seit 1981 durchgehend im Bundesgebiet wohnhaft war, hier aufgewachsen ist, die Schule besucht und ihren Lebensmittelpunkt in Österreich hat.

Auch kann aufgrund der Aktenlage weder festgestellt werden, welche familiären Anknüpfungspunkte die BF (abgesehen von jenem zu ihrem Bruder) in Österreich hat, noch, ob die BF über familiäre und/oder soziale Anknüpfungspunkte im Herkunftsstaat verfügt, bzw. ob sie dort jemals die Schule besucht hat oder erwerbstätig war.

Weiters kann aufgrund der Aktenlage nicht festgestellt werden, ob die BF an einer Intelligenzminderung und/oder einer psychischen Erkrankung leidet und, in der Folge, ob sie erwerbs-, delikts- und prozessfähig ist, bzw. insbesondere zum Zeitpunkt der Zustellung des Bescheides prozessfähig war.

Am 19.04.2021 wurde die BF in einem verwahrlosten Zustand von Organen der LPD im Bundesgebiet aufgegriffen und einer Identitätsfeststellung unterzogen. Da die BF keinen Ausweis bei sich hatte, wurde sie von den Organen der LPD zur (behaupteten) Wohnadresse der BF begleitet. Dort angekommen wurde ihnen die Türe von einer weitschichtigen Verwandten der BF geöffnet, die angab, dass die BF bereits seit 40 Jahren in Österreich aufhältig und eigentlich bei ihrem Bruder XXXX in XXXX wohnhaft sei. Dieser wurde in der Folge kontaktierte und brachte den Reisepass der BF, der anschließend – nach einer entsprechenden Verfügung durch das BFA – von den Beamten der LPD sichergestellt und in weiterer Folge an das BFA übermittelt wurde. Die BF wurde von der LPD schließlich wegen Überschreitung der erlaubten visumsfreien Aufenthaltsdauer nach § 120 Abs. 1a iVm § 31 Abs. 1 und Abs. 1a FPG angezeigt. Der Bruder der BF teilte den Einsatzorganen der LPD mit, dass die BF psychisch krank sei. Dies wurde auch im Anzeigeprotokoll vermerkt.

Zum Ermittlungsverfahren des BFA:

Das BFA leitete am 19.04.2021 infolge der Anzeige durch die LPD gegen die BF ein Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme ein und gewährte dieser mit Schreiben vom selben Tag, das ihr von den Organen der LPD im Rahmen der Amtshandlung ausgehändigt wurde, ein schriftliches Parteiengehör.

Die belangte Behörde unterließ es jedoch, die BF persönlich einzuvernehmen und sie in diesem Rahmen zu ihrem Aufenthalt, ihrem Lebensmittelpunkt sowie zu ihren privaten und familiären Anknüpfungspunkten im Bundesgebiet wie auch im Herkunftsstaat zu befragen und sich ein persönliches Bild vom psychischen Gesundheitszustand der BF zu machen.

Weiters unterließ es die Behörde, trotz des nachweislich bestehenden Hinweises auf das Vorliegen einer psychischen Erkrankung der BF, ein Gutachten zu deren psychischen Gesundheitszustand, insbesondere zu ihrer Prozessfähigkeit, einzuholen.

Es kann daher nicht festgestellt werden, ob die BF zum Zeitpunkt der Übergabe des Schreibens des BFA, mit dem die BF zur Abgabe einer Stellungnahme aufgefordert wurde, bzw. zum Zeitpunkt der Zustellung des Bescheides (ausreichend) prozessfähig war und, in weiterer Folge, ob der BF gegenständlich angefochtener Bescheid überhaupt rechtswirksam zugestellt werden konnte.

Dem BF wurde im gegenständlichen Fall kein hinreichendes Parteiengehör gewährt und wurden nicht die erforderlichen Ermittlungstätigkeiten zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durchgeführt.

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in den Verwaltungsakt, in den Gerichtsakt sowie in das Zentrale Melderegister, in das Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister sowie in das österreichische Strafregister.

Zur Person der BF und zum Sachverhalt:

Die Feststellungen zur Identität und Staatsangehörigkeit der BF gehen aus der aktenkundigen Kopie des sichergestellten serbischen Reisepasses der BF hervor, ebenso Ausstellungsdatum und Gültigkeitszeitraum desselben sowie die letzte Einreise der BF in den Schengen-Raum am 11.10.2016 (Einreisestempel).

Dass – entgegen dem Vorbringen in der Beschwerde – nicht festgestellt werden kann, dass die BF in Österreich über eine gültige Aufenthaltsberechtigung verfügt, resultiert aus der (diesbezüglich negativ verlaufenen) Einsichtnahme in das Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister.

Dass die BF im Bundesgebiet seit 01.01.2000 keiner legalen Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet nachging, ergibt sich aus dem Verwaltungsakt (AJ-WEB Auskunftsverfahren,
AS 35).

Dass aufgrund der Aktenlage nicht festgestellt werden kann, ob die BF jemals in Österreich sozialversichert war, resultiert aus der Tatsache, dass im Verfahren bislang kein Versicherungsdatenauszug betreffend die BF eingeholt wurde. Das BVwG sah im konkreten Fall aus Gründen der Kostenersparnis und Effizienz hiervon ab, da gegenständlich ohnehin weitere Ermittlungsschritte durch die Behörde vorzunehmen sein werden (siehe dazu noch weiter unten).

Die behördlichen Wohnsitzmeldungen der BF im Bundesgebiet sind aus dem eingeholten Auszug aus dem Zentralen Melderegister ersichtlich.

Die strafgerichtliche Unbescholtenheit der BF ergibt sich aus dem eingeholten Strafregisterauszug.

Dass aufgrund der Aktenlage weder festgestellt werden konnte, ob die BF (wie in der Beschwerde vorgebracht) tatsächlich seit 40 Jahren im Bundesgebiet aufhältig ist, in Österreich aufgewachsen und zur Schule gegangen ist und ihren Lebensmittelpunkt in Österreich hat, noch, ob sie über das Verhältnis zu ihrem Bruder hinausgehende private und familiäre Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet hat, bzw. welche sozialen und familiären Anknüpfungspunkte der BF (noch) in ihrem Herkunftsstaat bestehen, ist dem mangelhaft geführten Ermittlungsverfahren durch die Behörde, insbesondere der fehlenden persönlichen Einvernahme der BF (sowie allenfalls ihres Bruders und weiterer Zeugen), geschuldet.

Dass keine Feststellungen zum Gesundheitszustand der BF, und, in weiterer Folge zu ihrer Erwerbs-, Delikts- und Prozessfähigkeit getroffen werden konnten, resultiert aus dem Umstand, dass die Behörde es – trotz des Vorliegens entsprechender Hinweise – verabsäumt hat, ein psychiatrisch-neurologisches Gutachten zur Beurteilung des geistigen und psychischen Gesundheitszustandes der BF einzuholen.

Zum Ermittlungsverfahren des BFA:

Die Feststellungen zum Ermittlungsverfahren des BFA stützen sich auf den diesbezüglich unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt.

Dass das BFA am 19.04.2021 ein Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen die BF eingeleitet hat, ergibt sich aus dem Schreiben über die „Verständigung von der Beweisaufnahme“ des BFA (inklusive Aufforderung zur Stellungnahme) vom 19.04.2021 sowie aus dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister.

Warum die Behörde, trotz der augenfälligen Zweifel (vgl. Anzeige der LPD, AS 9 ff) und ohne nähere Begründung (!) von der Prozessfähigkeit der BF ausging und es dabei unterließ, sich einen persönlichen Eindruck von der BF zu verschaffen, bzw. allenfalls ein psychiatrisch-neurologisches Gutachten zum Gesundheitszustand der BF einzuholen und die Bestellung eines Erwachsenenvertreters anzuregen, bleibt offen.

In der Folge mangelt es dem BVwG auch an einer tauglichen Grundlage, um Feststellungen zur Prozessfähigkeit der BF zu treffen.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A) Zurückverweisung der Rechtssache:

Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist. Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat das Verwaltungsgericht gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

§ 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn „die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen“ hat. Zur Anwendung des § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG durch die Verwaltungsgerichte hat der Verwaltungsgerichtshof ausgehend von einem prinzipiellen Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht durch das Verwaltungsgericht präzisierend wie folgt festgehalten (VwGH vom 06.07.2016, Ra 2015/01/0123):

„In § 28 VwGVG 2014 ist ein prinzipieller Vorrang der meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte normiert, weswegen die in § 28 Abs. 3 2. Satz leg.cit. vorgesehene Möglichkeit der Kassation eines verwaltungsbehördlichen Bescheides streng auf ihren gesetzlich zugewiesenen Raum zu beschränken ist (Hinweis E. vom 17. Dezember 2014, Ro 2014/03/0066, mwN). Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden (Hinweis E. vom 27. Jänner 2015, Ra 2014/22/0087, mwN). Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher nur dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (Hinweis E. vom 12. November 2014, Ra 2014/20/0029, mwN).“

Ebenso hat der Verfassungsgerichtshof in ständiger Judikatur ausgesprochen, dass willkürliches Verhalten einer Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, dann anzunehmen ist, wenn in einem entscheidenden Punkt jegliche Ermittlungstätigkeit unterlassen wird oder ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren gar nicht stattfindet, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteienvorbringens oder dem Außer- Acht-Lassen des konkreten Sachverhaltes (vgl. VfSlg. 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001). Ein willkürliches Vorgehen liegt insbesondere dann vor, wenn die Behörde den Bescheid mit Ausführungen begründet, denen jeglicher Begründungswert fehlt (vgl. VfSlg. 13.302/1992 mwN, 14.421/1996, 15.743/2000).

Die Behörde hat die Pflicht, für die Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise zu sorgen und auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Die Behörde darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. VwGH vom 10.04.2013, Zl. 2011/08/0169 sowie dazu Walter/Thienel, Verwaltungsverfahren Band I2, E 84 zu § 39 AVG).

Im gegenständlichen Fall liegt eine Mangelhaftigkeit im Sinne des § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG vor:

Gemäß § 9 AVG ist, insoweit die persönliche Rechts- und Handlungsfähigkeit von Beteiligten in Frage kommt, diese von der Behörde, wenn in den Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmt ist, nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts zu beurteilen.

Gemäß § 11 AVG kann die Behörde, falls von Amts wegen oder auf Antrag gegen einen handlungsunfähigen Beteiligten, der eines gesetzlichen Vertreters entbehrt, [...] eine Amtshandlung vorgenommen werden soll, wenn die Wichtigkeit der Sache es erfordert, die Betrauung einer Person mit der Obsorge oder die Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters […] beim zuständigen Gericht (§ 109 JN) veranlassen.

Gemäß § 10 Abs. 1 BFA-VG ist für den Eintritt der Handlungsfähigkeit in Verfahren vor dem Bundesamt, vor den Vertretungsbehörden gemäß dem 11. Hauptstück des FPG und in einem Verfahren gemäß § 3 Abs. 2 Z 1 bis 6 vor dem Bundesverwaltungsgericht – und damit (u.a.) auch in einem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeenden Maßnahme – ungeachtet der Staatsangehörigkeit des Fremden österreichisches Recht maßgeblich.

Bei dieser Bestimmung handelt es sich – höchstgerichtlicher Judikatur zufolge – um eine lex specialis zum „Internationalen Privatrechts-Gesetz“ (so auch die ErläutRV zum FNG 1803 BlgNR 24. GP 12); diese Aussage bezieht sich auf § 12 IPRG, wonach die Rechts- und Handlungsfähigkeit einer Person nach deren Personalstatut (§ 9 IPRG) zu beurteilen ist (vgl. VwGH 22.12.2020, Ra 2020/21/0307).

Im gegenständlichen Verfahren vor dem BFA war daher die prozessuale Handlungsfähigkeit (Prozessfähigkeit) der BF ungeachtet ihrer serbischen Staatsangehörigkeit vor dem Hintergrund des § 9 AVG – weil für den vorliegenden Fall in den Verwaltungsvorschriften nichts anderes bestimmt ist – nach den (österreichischen) Vorschriften des bürgerlichen Rechts zu beurteilen. Danach ist entscheidend, ob die Partei im Zeitpunkt der betreffenden Verfahrensabschnitte in der Lage war, Bedeutung und Tragweite des Verfahrens und die dort stattfindenden prozessualen Vorgänge zu erkennen, zu verstehen und sich den Anforderungen eines derartigen Verfahrens entsprechend zu verhalten, was neben den von ihr gesetzten aktiven Verfahrenshandlungen auch Unterlassungen erfasst (vgl. jüngst unter Bezugnahme auf Vorjudikatur VwGH 15.9.2020, Ra 2017/22/0152, Punkt 5.1. der

Text


Entscheidungsgründe; siehe auch VwGH 28.7.2020, Ra 2019/01/0330, Rn. 11).

Insoweit musste somit bei der BF Entscheidungsfähigkeit im Sinne des § 24 Abs. 2 ABGB bestehen.

Die Frage des Vorliegens der Prozessfähigkeit ist von der Behörde bzw. vom Gericht in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen wahrzunehmen. Bei begründeten Bedenken in Bezug auf das Fehlen der Prozessfähigkeit der betreffenden Person ist daher diese Frage von Amts wegen zu prüfen und ein entsprechendes Ermittlungsverfahren – in der Regel durch Einholung eines diesbezüglichen Sachverständigengutachtens – zu führen (vgl. neuerlich VwGH 15.9.2020, Ra 2017/22/0152, nunmehr Punkt 5.2. der Entscheidungsgründe; siehe in diesem Sinn auch VwGH 28.7.2020, Ra 2019/01/0330, Rn. 12, jeweils mwN) (vgl. zu alldem VwGH 22.12.2020, Ra 2020/21/0307 mwN).

Derartige Zweifel an der Prozessfähigkeit der BF hätte das BFA im vorliegenden Fall jedenfalls im Hinblick auf das von der LPD übermittelte Protokoll über den Aufgriff und die Anzeige der BF nach dem FPG vom 19.04.2021 (bei der Behörde einlangend am 22.04.2021) haben müssen, in dem einerseits beschrieben wird, dass die BF in einem verwahrlost wirkenden Zustand angetroffen wurde, sowie andererseits vermerkt wurde, dass der Bruder der BF im Zuge der Amtshandlung darauf hingewiesen hat, dass seine Schwester an einer psychischen Erkrankung leide und diesem in der Folge wiederum sogar nahegelegt wurde, die Bestellung eines Erwachsenenvertreters anzuregen.

Dem BF wurde im gegenständlichen Fall kein hinreichendes Parteiengehör gewährt und hat es die Behörde unterlassen, die den maßgeblichen Sachverhalt zu ermitteln.

Es liegt gegenständlich auch ein willkürliches Vorgehen durch die belangte Behörde vor, das in die Verfassungssphäre eingreift, da die Behörde in einem entscheidenden Punkt (nämlich der als Vorfrage von Amts wegen zu beurteilenden Prozessfähigkeit der BF) – trotz bestehender Hinweise auf eine geistige und psychische Beeinträchtigung der BF – jegliche Ermittlungstätigkeit in diese Richtung unterlassen hat.

Auf der Grundlage des bisherigen Beweisverfahrens ist die rechtliche Beurteilung des Sachverhalts nicht möglich; dieser ist vielmehr in wesentlichen Teilen ergänzungsbedürftig.

Die Voraussetzungen für eine Sachentscheidung durch das Gericht liegen in einer Gesamtschau nicht vor, weil es weder zu einer Kostenersparnis noch zu einer Verfahrensbeschleunigung führt, wenn das erkennende Gericht die notwendigen Erhebungen selbst vornimmt. Es liegt auch nicht im Sinne des Gesetzes, wenn das Bundesverwaltungsgericht erstmals den entscheidungswesentlichen Sachverhalt ermittelt und beurteilt, sodass es seine umfassende Kontrollbefugnis nicht wahrnehmen kann. Eine ernsthafte Prüfung des Sachverhaltes soll nicht erst beim Bundesverwaltungsgericht beginnen und – bis auf die eingeschränkte Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts – zugleich enden.

In Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen war der angefochtene Bescheid daher gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Gänze zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückzuverweisen.

Im vom BFA fortzusetzenden Verfahren wird zunächst – durch Einholung eines psychiatrisch-neurologischen Sachverständigengutachtens – zu prüfen sein, ob die BF im bisherigen Verfahren prozessfähig war, insbesondere ob sie in der Lage war, das - ihr mit Schreiben vom 19.04.2021 eingeräumte - schriftliche Parteiengehör wahrzunehmen, bzw. ob sie aktuell in der Lage ist, ihr Recht auf Parteiengehör im Rahmen einer persönlichen Einvernahme durch das BFA wahrzunehmen. Andernfalls wird die Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters beim zuständigen Pflegschaftsgericht von der Behörde anzuregen sein und der BF anschließend auf diesem Wege (über die gerichtliche Erwachsenenvertretung) neuerlich ein hinreichendes (geeignetes) Parteiengehör zu gewähren sein.

Im Rahmen des fortgesetzten Ermittlungsverfahrens wird die Behörde insbesondere auch zu erheben haben, wo die BF ihren Lebensmittelpunkt hat und wie lange sie bereits dauerhaft in Österreich aufhältig ist, welche sozialen und familiären Anknüpfungspunkte der BF (ggf. insbesondere im Hinblick auf ihre geistige Beeinträchtigung bzw. psychische Erkrankung) sowohl im Bundesgebiet als auch im Herkunftsstaat bestehen und inwieweit die BF in Österreich integriert ist. In diesem Zusammenhang wird auch den Beweisanträgen in der Beschwerde zu entsprechen sein.

Entfall einer mündlichen Verhandlung:

Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.

Da bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der gegenständliche Bescheid aufzuheben ist, konnte gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterbleiben.

Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.

Zu Spruchteil B): Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Im gegenständlichen Fall wurde keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen. Die vorliegende Entscheidung basiert auf den oben genannten Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes.

Schlagworte

Behebung der Entscheidung Ermittlungspflicht gesundheitliche Beeinträchtigung Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung psychiatrische Erkrankung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W240.2243539.1.01

Im RIS seit

16.11.2021

Zuletzt aktualisiert am

16.11.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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