Entscheidungsdatum
03.09.2021Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W231 2203773-2/3E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Birgit HAVRANEK als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU), gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.08.2021, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird gemäß § 21 Abs. 3 erster Satz BFA-VG stattgegeben und der angefochtene Bescheid behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
I.1. Der Beschwerdeführer (BF) stellte in Österreich am 15.01.2016 erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz.
I.2. Mit Bescheid vom 03.07.2018 wies die belangte Behörde den Antrag des BF auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan ab (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruch¬punkt V.) und dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).
I.3. Gegen diesen Bescheid erhob der BF Beschwerde.
I.4. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 25.03.2021, Zl. W102 2203773-1/16E, wurde diese Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
Die Entscheidung beruht u.a. auf folgenden Feststellungen:
„1.1. Zu Person und Lebensumständen des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen, geboren am XXXX und ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari.
Der Beschwerdeführer ist gesund und in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
Der Beschwerdeführer stammt aus einen Dorf in der Provinz Maidan Wardak, Distrikt Hissa-e-awali Behsud, wo er bis zu seiner Ausreise gelebt und zwölf Jahre die Schule besucht hat. Daneben hat er in der Landwirtschaft der Familie mitgeholfen. Die Familie betrieb eine große Landwirtschaft mit über 150 Nutztieren.
In Österreich lebt ein entfernter Verwandter väterlicherseits des Beschwerdeführers, der Beschwerdeführer pflegt zu ihm selten Kontakt.
Im Iran lebt ein Onkel mütterlicherseits des Beschwerdeführers. Zu ihm besteht Kontakt. Er hat die Ausreise des Beschwerdeführers aus Afghanistan organisiert.
Der Beschwerdeführer hält sich seit seiner Einreise im Jänner 2016 durchgehend im Bundesgebiet auf. Im Jahr 2016 bzw. 2017 hat der Beschwerdeführer ein Jugendcollege besucht. 2017 hat er überdies einen 20-stündigen Informatikkurs absolviert. Der Beschwerdeführer bezieht Grundversorgung und ist nicht erwerbstätig. In seiner Freizeit macht der Beschwerdeführer sehr viel Sport. Er geht vor allem Laufen und außerdem zwei Mal die Woche zum Ringen. Das Training findet wegen der COVID-19-Pandemie allerdings aktuell nicht statt.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers
Im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers besteht ein langanhaltender Konflikt zwischen Kutschi-Nomaden und im Hazaradschat sesshaften Hazara, dessen Wurzeln bis in das Ende des 19. Jahrhunderts zurückreichen. Bei dem Konflikt geht es ursprünglich um lokale Ressourcen. Im Zuge der jährlichen Wanderungen der Kutschi-Nomaden zu im Hazaradschat gelegenem Weideland kommt es insbesondere saisonal zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Kutschi und Hazara. Der Konflikt ist bislang ungelöst. Bewaffnete Gruppierungen nutzen den Konflikt und beteiligen sich an Plünderungen. Konfliktgegenstand ist auch die territoriale Kontrolle durch eine Bevölkerungsgruppe. Der Konflikt wird von unterschiedlicher Seite politisch Instrumentalisiert und befeuert ethnische Spannungen.
Die Routen der Kutschi-Nomaden führen auch durch den Herkunftsdistrikt.
Der Konflikt eskaliert in Maidan Wardak seit dem Jahr 2007 zunehmend, es kam seither zu Vertreibungen und Todesfällen.
Der Vater des Beschwerdeführers war in einen Streit mit Kutschi-Nomaden um ein Grundstück verwickelt, dass von der Familie des Beschwerdeführers bewirtschaftet und als ihr Eigentum betrachtet wurde.
Der Vater wurde deshalb mehrmals bedroht und auch der Onkel des Beschwerdeführers von Kutschi-Nomaden entführt und getötet.
Außerdem kommt es im Herkunftsdorf zu jährlichen Auseinandersetzungen mit Kutschi-Nomaden.
Im Oktober 2016 wurden Eltern und Geschwister des Beschwerdeführers bei einer Auseinandersetzung mit den Kutschis getötet.
Im Fall einer Rückkehr in das Herkunftsdorf besteht die Gefahr, dass auch der Beschwerdeführer als Erbe seines Vaters und nunmehriger Eigentümer des Grundstückes aufgrund der Landstreitigkeiten mit Kutschi-Nomaden angegriffen und getötet wird.
Dass der Beschwerdeführer im Fall einer Niederlassung in Mazar-e Sharif wegen des Grundstücksstreits von Kutschis angegriffen würde, ist nicht zu erwarten.
Die Minderheit der schiitischen Hazara macht etwa 9-10% der Bevölkerung aus, sie leben unter anderem in Teilen der Provinzen Maidan Wardak und Balkh, auch in Mazar-e Sharif. Hazara bekleiden prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sind allerdings in der öffentlichen Verwaltung unterrepräsentiert. Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz, genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen. Die Hazara haben seither auch erhebliche wirtschaftliche und politische Fortschritte gemacht.
Hinweise auf von staatlichen Akteuren ausgehende Misshandlungen gibt es nicht.
Der ISKP verfügt in Afghanistan über sehr begrenzte territoriale Kontrolle, ist jedoch in der Lage, in unterschiedlichen Teilen des Landes Angriffe durchzuführen. Es kommt zu Angriffen durch den ISKP auf schiitische Hazara, etwa in Kabul und Herat. Ziel sind insbesondere Orte, an denen Schiiten zusammenkommen, etwa Moscheen, politische Demonstrationen oder Hazara-dominierte Wohnviertel. Diese Angriffe stehen im Zusammenhang mit der schiitischen Glaubenszugehörigkeit der Hazara sowie mit deren – nach Wahrnehmung des ISKP – Nähe und Unterstützung des Iran und des Kampfes gegen den IS in Syrien.
Es kommt zu Entführungen und Tötungen von Angehörigen der Volksgruppe der Hazara auf den Straßen durch regierungsfeindliche Kräfte, insbesondere durch die Taliban. Es gibt Vorfälle, bei denen Hazara-Reisende ausgesondert und getötet oder entführt werden. Hierfür kann jedoch häufig ein anderer Grund als deren Religions- oder Volksgruppenzugehörigkeit identifiziert werden, etwa als ANSF-Angehöriger, NGO- oder Regierungsmitarbeiter.
Die schiitische Religionszugehörigkeit gehört zum ethnischen Selbstverständnis der Hazara, Ethnien- und Religionszugehörigkeit sind in Afghanistan häufig untrennbar verbunden.
1.3. Zur Rückkehr in den Herkunftsstaat
Afghanistan ist von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und Aufständischen betroffen. Die Betroffenheit von Kampfhandlungen sowie deren Auswirkungen für die Zivilbevölkerung sind regional unterschiedlich.
Balkh zählte zuletzt zu den konfliktintensivsten Provinzen des Landes. Für die gesamte Provinz sind für das Jahr 2019 277 zivile Opfer (108 Tote und 169 Verletzte) verzeichnet, eine Steigerung von 22% gegenüber 2018. Hauptursachen für die Opfer waren Bodenkämpfe, improvisierte Sprengkörper und gezielte Tötungen. Im Zeitraum 01.01.-30.09.2020 sind 553 zivile Opfer (198 Tote, 355 Verletzte) dokumentiert, was mehr als eine Verdopplung gegenüber derselben Periode im Vorjahr ist. Balkh ist ethnisch divers und wird unter anderem von Paschtunen bewohnt.
In Mazar-e Sharif kam es von 01.01. bis 30.09.2020 der Globalincidentmap zufolge zu einem sicherheitsrelevanten Vorfall, nach ACLED kam es zu 9 sicherheitsrelevanten Vorfällen mit mindestens einem Todesopfer. Mazar-e Sharif gilt als vergleichsweise sicher und steht unter Regierungskontrolle. 2019 fanden beinahe monatlich kleinere Anschläge mit improvisierten Sprengkörpern statt. Deren Ziel waren oftmals Sicherheitskräfte, doch gab es auch zivile Opfer. Kriminalität stellt ein Problem dar, insbesondere bewaffnete Raubüberfälle. Im Dezember und März 2019 kam es in Mazar-e Sharif zudem zu Kämpfen zwischen Milizführern bzw. lokalen Machthabern und Regierungskräften. Mazar-e Sharif verfügt über einen internationalen Flughafen, für den keine Sicherheitsvorfälle verzeichnet sind.“
Auf Basis u.a. dieser Feststellungen kam das Bundesverwaltungsgericht zum Ergebnis, dass im Fall einer Niederlassung in Mazar-e Sharif nicht zu erwarten sei, dass der BF dort von Kutschis angegriffen würde. Damit sei in diesem Gebiet für den BF Schutz vor Verfolgung gegeben. Mazar-e Sharif sei unter der Kontrolle der afghanischen Regierung und fänden Kampfhandlungen im Wesentlichen nicht statt. Weiter sei die Stadt auch über ihren internationalen Flughafen sicher erreichbar. Hinweise auf einen Zusammenbruch der Grundversorgung in Mazar-e Sharif lägen nicht vor, mögen wirtschaftliche und die Versorgungssituation auch angespannt sein. Insgesamt sei die Zumutbarkeit der innerstaatlichen Fluchtalternative (IFA) in Mazar-e Sharif auch angesichts der persönlichen Umstände des BF gegeben. Mazar-e Sharif wird als IFA sowohl in Bezug auf die Abweisung von Asyl, als auch in Bezug auf die Abweisung von subsidiärem Schutz festgelegt.
Das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes ist rechtskräftig.
I.5. Der BF stellte am 23.06.2021 einen Folgeantrag auf internationalen Schutz in Österreich. Diesen begründete er mit der (seit Geburt bestehenden) Zugehörigkeit zur schiitischen Minderheit der Aliullahi, die vor allem in letzter Zeit von den Taliban und dem IS verfolgt würden, und mit der sich seit Abzug der internationalen Truppen verschlechterten Sicherheitslage. Die Taliban hätten Großoffensiven auf Provinzhauptstädte gestartet. Sonst gebe es keine Änderung der Fluchtgründe seit dem ersten Antrag.
I.6. Mit Bescheid vom 07.08.2021 wies die belangte Behörde den Folgeantrag des BF auf internationalen Schutz sowohl bezüglich des Status des Asylberechtigten als auch bezüglich des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück (Spruchpunkte I. und II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.) Gemäß § 55 Abs. 1a FPG bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI.). Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG wurde gegen den BF ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).
Die belangte Behörde kam zu dem Ergebnis, dass der BF im Verfahren keinen Sachverhalt vorgebracht habe, der nach dem rechtskräftigen Abschluss des Erstverfahrens entstanden sei. Es läge auch nach wie vor eine IFA in Mazar-e Sharif vor.
I.7. Gegen den zuletzt genannten Bescheid erhob der BF am 25.08.20121 die vorliegende, fristgerecht eingebrachte Beschwerde. Darin wird im Wesentlichen auf die aktuelle (Sicherheits)Lage in Afghanistan und das Fehlen einer IFA Bezug genommen, zumal Herat und Mazar-e Sharif bereits von den Taliban eingenommen seien und Mazar-e Sharif bereits im Juli 2021 kurz vor der Eroberung gestanden sei (Hinweis auf öffentlich zugängliche Zeitungsberichte u.a. vom 06.07.2021). Eine IFA in Mazar-e Sharif stehe dem BF nicht (mehr) zur Verfügung (verwiesen wird besonders auf die UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan, August 2021, der Indizwirkung zukomme, sowie die Kurzinformationen der Staatendokumentation vom 17.08.2021). Die von der Behörde zugrunde gelegten Länderberichte seien überholt. Der BF sei aufgrund des neuen Sachverhalts im Herkunftsland konkret gefährdet. Im Übrigen sei er seit mehr als fünf Jahren in Österreich, gut integriert und unbescholten.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der BF trägt den im Spruch angeführten Namen, ist am XXXX geboren und Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan. Er gehört der Volksgruppe der Hazara an und bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Dari.
In Bezug auf die erstmals im Folgeverfahren behauptete Zugehörigkeit zur Minderheit der „Aliullahi“, ist gegenüber dem Erstverfahren kein neuer Sachverhalt festzustellen, zumal diese Zugehörigkeit behauptetermaßen seit Geburt besteht.
Der BF stammt aus einen Dorf in der Provinz Maidan Wardak, Distrikt Hissa-e-awali Behsud, wo er bis zu seiner Ausreise gelebt und zwölf Jahre die Schule besucht hat. Daneben hat er in der Landwirtschaft der Familie (große Landwirtschaft mit über 150 Nutztieren) mitgeholfen. Im Iran lebt ein Onkel mütterlicherseits des BF. Zu ihm besteht Kontakt. Er hat die Ausreise des BF aus Afghanistan organisiert.
Der BF ist gesund und in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
Der BF hält sich seit seiner Einreise im Jänner 2016 durchgehend im Bundesgebiet auf. 2016 bzw. 2017 hat der BF div. Aus/Weiterbildungsmaßnahmen besucht. Der BF bezieht Grundversorgung und ist nicht erwerbstätig. In seiner Freizeit betreibt er Sport. In Österreich lebt ein entfernter Verwandter väterlicherseits, der BF pflegt zu ihm selten Kontakt.
Der erste Asylantrag des BF wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 25.03.2021, Zl. W102 2203773-1/16E, rechtskräftig sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen. Festgestellt wurde, dass der Vater des BF in einen Streit mit Kutschi-Nomaden um ein Grundstück verwickelt war, das von der Familie des BF bewirtschaftet und als ihr Eigentum betrachtet wurde, und dass sowohl die Eltern als auch die Geschwister des BF bei einer Auseinandersetzung mit den Kutschis getötet wurden. Weiters wurde festgestellt, dass im Fall einer Rückkehr des BF in das Herkunftsdorf die Gefahr besteht, dass auch der BF als Erbe seines Vaters und nunmehriger Eigentümer des Grundstückes aufgrund der Landstreitigkeiten mit Kutschi-Nomaden angegriffen und getötet wird. Dass der BF aber in Mazar-e Sharif von Kutschis angegriffen würde, sei nicht zu erwarten, eine Rückkehr dorthin sei dem BF zumutbar. Mazar-e Sharif sei unter der Kontrolle der afghanischen Regierung und fänden Kampfhandlungen im Wesentlichen nicht statt. Weiter sei die Stadt auch über ihren internationalen Flughafen sicher erreichbar. Hinweise auf einen Zusammenbruch der Grundversorgung in Mazar-e Sharif lägen nicht vor. Dem BF stehe im Ergebnis die innerstaatliche Fluchtalternative (IFA) in Mazar-e Sharif zur Verfügung. Das gelte auch in Bezug auf die Nichtzuerkennung von subsidiärem Schutz.
Es kann in Bezug auf die als IFA festgelegte Stadt Mazar-e Sharif nicht festgestellt werden, dass im Vergleich zum rechtskräftig entschiedenen ersten Asylverfahren des BF (Zl. W102 2203773-1/16E) keine wesentliche Änderung der maßgeblichen Umstände eingetreten ist.
2. Beweiswürdigung:
Zur Identität und persönlichen Situation des BF ergeben sich die Feststellungen aus seinen Angaben in den Verfahren sowie aus den Verwaltungs- und Gerichtsakten.
Dass in Bezug auf die erstmals im Folgeverfahren behauptete Zugehörigkeit zur Minderheit der „Aliullahi“ gegenüber dem Erstverfahren kein neuer Sachverhalt festzustellen ist, ergibt sich daraus, dass diese Zugehörigkeit behauptetermaßen seit Geburt besteht. In diesem Zusammenhang zu beachten, dass behauptete Tatsachen, die bereits zur Zeit des ersten Asylverfahrens bestanden haben, die der Asylwerber jedoch nicht bereits im ersten Asylverfahren vorgebracht hat, von der Rechtskraft der über den Erstantrag absprechenden Entscheidung erfasst sind. Das bedeutet, dass erst nach Erlassung der rechtskräftigen Erstentscheidung hervorkommende Umstände, die eine Unrichtigkeit dieser Entscheidung dartun, keine Änderung des Sachverhalts darstellen, sondern nur einen Grund zur Wiederaufnahme eines Verfahrens bilden könnten. Dieser tragende Grundsatz soll in erster Linie die wiederholte Aufrollung einer bereits entschiedenen Sache – ohne nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage – verhindern: VwGH 27.05.2019, Ra 2018/14/0292; 28.08.2019, Ra 2019/14/0091).
Die Feststellungen über den rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens über den ersten Antrag des BF auf internationalen Schutz basieren auf den Verwaltungs- und Gerichtsakten.
Dass nicht festgestellt werden kann, dass im Vergleich zum rechtskräftig entschiedenen ersten Asylverfahren des BF (Zl. W102 2203773-1/16E) keine wesentliche Änderung der maßgeblichen Umstände eingetreten ist, beruht auf folgenden Überlegungen:
Im rechtskräftig entschiedenen ersten Asylverfahren des BF (Zl. W102 2203773-1/16E) beruhen die Feststellungen zur Sicherheits- und Versorgungslage von Mazar-e Sharif auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 16.12.2020.
Zwischenzeitig hat sich bedingt durch den Abzug der internationalen Truppen beginnend mit Anfang Mai 2021, der seither fortschreitend volatilen Sicherheitslage in ganz Afghanistan, der mittlerweile vollständigen Umsetzung des Abzugs (zB https://www.diepresse.com/US-Truppenabzug aus Afghanistan abgeschlossen | DiePresse.com, 31.08.2021), dem Fall von Mazar-e Sharif, dem eine Belagerung vorausging (zB https://www.diepresse.com/Taliban vor Kabul: Mazar-i-Sharif eingenommen, DiePresse.com, 14.08.2021) und der notorischen Machtergreifung durch die Taliban die Lage im Herkunftsstaat, auch in Mazar-e Sharif, geändert.
Dies wurde im angefochtenen Bescheid nur unzureichend berücksichtigt, zumal die wesentlichen Feststellungen zu Balkh/Mazar-e Sharif auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Stand Anfang Juni 2021, mit Quellen überwiegend aus dem Jahr 2020 beruhen, und sind diese allgemein bekannten Umstände auch vom Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung zu berücksichtigen (vgl. iZm Entscheidungen nach § 68 AVG besonders VfGH 11.06.2015, E 1286/2014, Hengstschläger, AVG, § 68, Rz 27, Online-Ausgabe RDB, login 31.08.2021, weiters zB VwGH 29.06.2000, 99/01/0400, VwGH 24.6.2014, Ra 2014/19/0018, VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0025; 24.5.2018, Ra 2018/19/0234, VwGH 17.11.2020, Ra 2019/19/0308, VwGH 23.09.2020 Ra 2020/14/0175).
3. Rechtliche Beurteilung
Zu Spruchteil A) Behebung des angefochtenen Bescheides
2.1. Zur Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides
Gemäß § 68 Abs. 1 AVG sind Anbringen von Beteiligten, die außer den Fällen der §§ 69 und 71 AVG die Abänderung eines der Berufung nicht oder nicht mehr unterliegenden Bescheides begehren, wegen entschiedener Sache zurückzuweisen, wenn die Behörde nicht den Anlass zu einer Verfügung gemäß den Abs. 2 bis 4 leg.cit. findet. Diesem ausdrücklichen Begehren auf Abänderung steht ein Ansuchen gleich, das bezweckt, eine Sache erneut inhaltlich zu behandeln, die bereits rechtskräftig entschieden ist (VwGH 30.09.1994, 94/08/0183; 30.05.1995, 93/08/0207; 09.09.1999, 97/21/0913; 07.06.2000, 99/01/0321).
Da das BFA mit dem angefochtenen Bescheid den Folgeantrag des BF auf internationalen Schutz zurückgewiesen hat, ist Gegenstand der vorliegenden Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes nur die Beurteilung der Rechtmäßigkeit dieser Zurückweisung, nicht aber der zurückgewiesene Antrag selbst (zB. VwGH 22.11.2017, Ra 2017/19/0198, mwN).
Dementsprechend hat das Bundesverwaltungsgericht entweder im Falle des Vorliegens entschiedener Sache das Rechtsmittel abzuweisen oder im Falle der Unrichtigkeit dieser Auffassung den zurückweisenden Bescheid aufzuheben, wodurch eine neuerliche Zurückweisung des Antrages in Bindung an die Auffassung des Verwaltungsgerichtes wegen entschiedener Sache gemäß § 68 AVG jedenfalls unzulässig wird. Hingegen ist dem Bundesverwaltungsgericht ein inhaltlicher Abspruch über den zugrundeliegenden Antrag in einem Beschwerdeverfahren über einen zurückweisenden Bescheid nach § 68 AVG verwehrt.
Als Vergleichsbescheid (Vergleichserkenntnis) ist der Bescheid (das Erkenntnis) heranzuziehen, mit dem zuletzt in der Sache entschieden wurde (vgl. in Bezug auf mehrere Folgeanträge VwGH 26.07.2005, 2005/20/0226, mwN).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu dieser Bestimmung (z. B. VwGH 25.04.2007, 2004/20/0100; 30.6.2005, 2005/18/0197; 25.4.2002, 2000/07/0235) liegen verschiedene „Sachen“ im Sinn des § 68 Abs. 1 AVG vor, wenn in der für den Vorbescheid maßgeblichen Rechtslage oder in den für die Beurteilung des Parteibegehrens im Vorbescheid als maßgeblich erachteten tatsächlichen Umständen eine Änderung eingetreten ist oder wenn das neue Parteibegehren von dem früheren abweicht. Es kann aber nur eine solche behauptete Änderung des Sachverhaltes die Behörde zu einer neuen Sachentscheidung – nach etwa notwendigen amtswegigen Ermittlungen – berechtigen und verpflichten, der für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen rechtlich Asylrelevanz zukäme; eine andere rechtliche Beurteilung des Antrages darf nicht von vornherein ausgeschlossen sein. In Bezug auf wiederholte Asylanträge muss die behauptete Sachverhaltsänderung zumindest einen glaubhaften Kern aufweisen, dem Asylrelevanz zukommt und an den die positive Entscheidungsprognose anknüpfen kann.
Der Begriff „Identität der Sache“ muss in erster Linie aus einer rechtlichen Betrachtungsweise heraus beurteilt werden, was bedeutet, dass den behaupteten geänderten Umständen Entscheidungsrelevanz zukommen muss (vgl. VwGH 25.04.2002, 2000/07/0235; VwGH 15.10.1999, 96/21/0097; siehe weiters die bei Walter/Thienel, Die österreichischen Verwaltungsverfahrensgesetze, Bd. I, 2. Aufl. 1998, E 83 zu § 68 AVG wiedergegebene Judikatur). Bei der Prüfung der Identität der Sache ist von dem rechtskräftigen Vorbescheid auszugehen, ohne die sachliche Richtigkeit desselben (nochmals) zu überprüfen; die Rechtskraftwirkung besteht gerade darin, dass die von der Behörde einmal untersuchte und entschiedene Sache nicht neuerlich untersucht und entschieden werden darf (vgl. VwGH 25.04.2002, 2000/07/0235; VwGH 15.10.1999, 96/21/0097). Nur eine solche Änderung des Sachverhaltes kann zu einer neuen Sachentscheidung führen, die für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen den Schluss zulässt, dass nunmehr bei Bedachtnahme auf die damals als maßgebend erachteten Erwägungen eine andere Beurteilung jener Umstände, die seinerzeit den Grund für die Abweisung des Parteibegehrens gebildet haben, nicht von vornherein als ausgeschlossen gelten kann (vgl. VwGH 09.09.1999, 97/21/0913; und die bei Walter/Thienel, Die österreichischen Verwaltungsverfahrensgesetze, Bd. I, 2. Aufl. 1998, E 90 zu § 68 AVG wiedergegebene Judikatur). Diese Prüfung der Zulässigkeit eines Folgeantrags auf Grund geänderten Sachverhalts hat – von allgemein bekannten Tatsachen abgesehen – im Beschwerdeverfahren nur anhand der Gründe, die von der Partei in erster Instanz zur Begründung ihres Begehrens vorgebracht wurden, zu erfolgen (vgl. VwGH 24.6.2014, Ra 2014/19/0018).
Wie in der Beweiswürdigung dargelegt wurde, gibt es vor dem Hintergrund der jüngsten notorischen Entwicklungen konkrete Anhaltspunkte dafür, dass sich die Situation in Bezug auf die als IFA festgelegte Stadt Mazar-e Sharif geändert hat, sodass eine andere rechtliche Beurteilung nicht von Anfang an ausgeschlossen erscheint, weshalb eine inhaltliche Prüfung stattfinden muss.
Gelangt das Gericht zu dem Ergebnis, dass nicht von entschiedener Sache auszugehen ist, sondern aufgrund des Vorliegens neuer Sachverhaltselemente eine inhaltliche Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz hätte stattfinden müssen, hat es den zurückweisenden Bescheid auf Grundlage des für zurückweisende Entscheidungen im Zulassungsverfahren anzuwendenden § 21 Abs. 3 BFA-VG zu beheben (vgl. VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0025), wodurch das Verfahren vor der Behörde zugelassen ist und eine neuerliche Zurückweisung des Antrages gemäß § 68 AVG unzulässig wird.
Das Bundesverwaltungsgericht kann in diesem Zusammenhang über den Antrag nicht selbst meritorisch entscheiden (vgl. VwGH 21.01.2020, Ra 2019/01/0393).
2.2. Zur Beschwerde gegen die übrigen Spruchpunkte des angefochtenen Bescheides
Aufgrund der Behebung der Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides verlieren die übrigen Spruchpunkte ihre rechtliche Grundlage, weshalb diese ebenfalls aufzuheben sind.
2.3. Zum Unterbleiben einer mündlichen Beschwerdeverhandlung
Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.
Die Verhandlungspflicht im Zulassungsverfahren – wozu auch Beschwerden gegen eine vor Zulassung des Verfahrens ausgesprochene Zurückweisung eines Antrages auf internationalen Schutz nach § 68 AVG zählen – folgt besonderen Verfahrensvorschriften, nämlich § 21 Abs. 3 und Abs. 6a BFA-VG (vgl. VwGH 30.04.2019, Ra 2018/14/0293, mwN).
Unbeschadet des § 21 Abs. 7 kann das Bundesverwaltungsgericht gemäß § 21 Abs. 6a BFA-VG über die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde, der diese von Gesetz wegen nicht zukommt (§ 17) oder der diese vom Bundesamt aberkannt wurde (§ 18), und über Beschwerden gegen zurückweisende Entscheidungen im Zulassungsverfahren ohne Abhaltung einer mündlichen Verhandlung entscheiden.
Im gegenständlichen Fall ergaben sich unter Beachtung der notorischen Umstände konkrete Anhaltspunkte für eine Änderung der Situation in Bezug auf die als IFA festgelegte Stadt Mazar-e Sharif und somit Hinweise auf das Vorliegen eines neuen sowohl im Hinblick auf die Beurteilung des Status des Asylberechtigten als auch des Status des subsidiär Schutzberechtigten potentiell entscheidungsrelevanten Sachverhaltes. Da die Zurückweisung des Folgeantrages des BF wegen entschiedener Sache daher nicht zu Recht erfolgt ist, war der angefochtene Bescheid zu beheben und das Verfahren ist damit gemäß § 21 Abs. 3 erster Satz BFA-VG zugelassen. Ein Bedarf an einer weiteren mündlichen Erörterung bestand in diesem Zusammenhang nicht, sodass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht unterbleiben konnte.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Zu B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Schlagworte
Behebung der Entscheidung entschiedene Sache geänderte Verhältnisse Glaubwürdigkeit Kassation Tatsachenfeststellung VoraussetzungenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W231.2203773.2.00Im RIS seit
16.11.2021Zuletzt aktualisiert am
16.11.2021