Entscheidungsdatum
08.09.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
G305 2155787-2/43E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Dr. Ernst MAIER, MAS als Einzelrichter über die Beschwerde des irakischen Staatsangehörigen XXXX , geboren am XXXX , StA: Irak, vertreten durch durch Mag.a Nadja LORENZ, Rechtsanwältin in Wien, gegen den zum XXXX .2018 datierten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, RD XXXX , Zl. XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 16.01.2019 zu Recht erkannt:
A)
I. Der Beschwerde wird Folge gegeben und dem Beschwerdeführer der Status eines Asylberechtigten im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG zuerkannt.
II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass ihm damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Am XXXX .2015 stellte der zum Aufenthalt im Bundesgebiet nicht berechtigte irakische Staatsangehörige XXXX , geboren am XXXX , zeitgleich mit seinem gesondert behandelten Vater und seinem zum damaligen Zeitpunkt minderjährigen Bruder ( XXXX , geboren am XXXX und XXXX , geboren am XXXX , GZ G305 2155795-2; G305 2155790-2) vor Organen der öffentlichen Sicherheitsbehörden einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Am XXXX .2015 wurde der Vater des BF von Organen der Polizeiinspektion XXXX niederschriftlich einvernommen.
Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab dieser an, dass er bereits einige Jahre vor dem Verlassen des Landes den Entschluss zur Ausreise gefasst hätte. Zu seinen Fluchtgründen gab dieser an, Sunnit zu sein und in einem sunnitischen Viertel gewohnt zu haben. Er sei von einer Miliz bedroht worden und habe Angst um sich und das Leben seiner Söhne gehabt. Er selbst habe Angst davor gehabt, von einer schiitischen Miliz entführt zu werden. Der BF selbst brachte hier keine eigenen Fluchtgründe vor und stützte seine auf jene des Vaters.
Eine von den öffentlichen Sicherheitsorganen durchgeführte EURODAC-Abfrage verlief negativ.
3. Am XXXX .2016 wurde der BF ab 11:00 Uhr durch Organe des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA oder belangte Behörde) einvernommen.
Bei dieser Einvernahme stützte er sich auf die Fluchtgründe seines Vaters. Eine persönliche, gegen ihn gerichtete Bedrohung schloss er dagegen aus.
4. Mit Bescheid vom XXXX .2017 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom XXXX .2015 bezüglich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt II.) und sprach aus, dass ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt werde, erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm. § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG stellte fest, dass gemäß § 53 Abs 9 FPG die Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.). Begründet wurde dies im Wesentlichen damit, dass dem BF im Heimatstaat keine asylrelevante Verfolgung drohe und dass sein Vater nicht glaubwürdige Angaben gemacht hätte. In gleicher Weise behandelte die belangte Behörde auch die auf die Erteilung von internationalem Schutz gerichteten Anträge des Vaters und des Bruders des Beschwerdeführers.
5. Gegen den zum XXXX .2017 datierten Bescheid erhob der BF Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Darin erklärte er, dass er den Bescheid - gestützt auf die Beschwerdegründe „inhaltliche Rechtswidrigkeit“ und „Verletzung von Verfahrensvorschriften“ - vollumfänglich anfechte und die Beschwerde mit den Anträgen verbinde, 1.) den Bescheid zur Gänze zu beheben und ihm den Status eines Asylberechtigten zuzusprechen, in eventu 2.) den Bescheid zu beheben und zur neuerlichen Durchführung des Verfahrens an das Bundesamt zurückzuverweisen, in eventu 3.) ihm den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzusprechen und 4.) feststellen, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung plus vorliegen würden und ihm eine solche von Amts wegen zu erteilen sei, in eventu 5.) feststellen, dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz vorliegen sowie jedenfalls 6.) jedenfalls eine mündliche Verhandlung durchzuführen. In der Beschwerde brachte er erstmalig vor, dass er seit seinem zehnten Lebensjahr homosexuelle Neigungen habe und in einer aufrechten Beziehung zu einem österreichischen Staatsbürger sei. Aus diesem Grund sei er einer aktuellen Verfolgung in der Heimat ausgesetzt.
6. Mit Beschluss vom XXXX .2017, L521 2155787-1/5E wurde die Beschwerde gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG in Verbindung mit § 18 Abs. 3 AVG als unzulässig zurückgewiesen. Da das damalige Schriftstück nicht mit der Unterschrift des Genehmigenden versehen wurde, richtete sich die Beschwerde folglich gegen einen Nichtbescheid. Das Verfahren war somit nach wie vor beim BFA anhängig. Dieses habe vor einer neuerlichen Bescheiderlassung das Vorbringen in der Beschwerde und die Beschwerdeergänzung zu berücksichtigen.
7. Mit zum XXXX .2018 datiertem Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des BF auf Erteilung von internationalem Schutz vom XXXX .2015 bezüglich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt II.) und sprach aus, dass ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt werde, gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm. § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und festgestellt werde, dass gemäß § 53 Abs 9 FPG die Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.). Im Kern begründet dies die belangte Behörde damit, dass dem BF im Heimatstaat keine aslyrelevante Verfolgung drohe und sein Vater unglaubwürdige Angaben gemacht hätte. Eine Einbeziehung des Vorbringens des BF in der Beschwerde erfolgte nicht.
8. Gegen den zuletzt erlassenen Bescheid erhob der BF Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Darin erklärte er, dass er den Bescheid vollumfänglich anfechte und die Beschwerde mit den Anträgen verbinde, 1.) eine mündliche Verhandlung anzuberaumen, 2.) alle zu seinen Lasten gehenden Rechtswidrigkeiten amtswegig aufzugreifen bzw. ihm allenfalls Verbesserungsaufträge zu erteilen, um die nicht mit der Beschwerde geltend gemachten Beschwerdepunkte ausführen zu können, 3.) der Beschwerde stattzugeben, in der Sache selbst zu entscheiden und ihm Asyl zu gewähren, in eventu 4.) die angefochtenen Bescheide bezüglich des Spruchpunktes II. abzuändern und ihm den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, in eventu 5.) den Bescheid bezüglich des Spruchpunktes III.) aufzuheben bzw. dahingehend abzuändern, dass die Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig erklärt werde und ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt werde sowie festzustellen, dass seine Abschiebung in den Irak unzulässig sei und die Frist für die freiwillige Ausreise ersatzlos behoben werde und in eventu 6.) den Bescheid beheben und an das BFA zurückzuverweisen. In der Beschwerde wurde vorgebracht, dass sich die belangte Behörde zu keinem Zeitpunkt mit seiner vorgebrachten Homosexualität auseinandergesetzt hätte. Zudem habe sich die belangte Behörde entgegen den Vorgaben des Bundesveraltungsgerichts im Beschluss vom XXXX .2017, L521 2155787-1/5E nicht mit den bereits vorgebrachten Beschwerdepunkten auseinandergesetzt.
9. Am 09.03.2018 legte die belangte Behörde die gegenständliche Beschwerde samt den Bezug habenden Verwaltungsakten dem BVwG vor.
10. Anlässlich der am 16.01.2019 vor dem Bundesverwaltungsgericht durchgeführten mündlichen Verhandlung wurde der BF im Beisein eines Dolmetschers für die arabische Sprache und seiner Rechtsvertreterin einvernommen.
11. Mit hg. Erkenntnis vom 15.09.2020, GZ: G305 2155787-2/26E, wurde die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. als unbegründet abgewiesen und dem BF der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.
12. Mit seinem Erkenntnis vom XXXX , hob der Verfassungsgerichtshof (VfGH) das Erkenntnis vom 15.09.2020, GZ: G305 2155787-2/26E auf und begründete dies damit, dass der BF durch dieses im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (Art. I Abs. 1 B-VG, BGBl. Nr. 390/1973) verletzt worden sei.
13. Mit Eingabe vom 02.08.2021 wurden seitens der Rechtsvertretung des BF weitere Dokumente zur Bestätigung seiner Integration übermittelt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Identitätsfeststellungen
Der am XXXX geborene BF führt die im Spruch angegebene Identität und ist irakischer Staatsangehöriger. Er gehört der Ethnie der irakischen Araber an und bekennt sich zur sunnitisch-islamischen Religionsgemeinschaft. Seine Muttersprache ist arabisch; er spricht zudem Englisch und Deutsch. Er ist ledig und kinderlos.
Er hat seinen Hauptwohnsitz seit dem XXXX .2015 im Bundesgebiet (seit dem XXXX an der Anschrift XXXX ) und ist strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zur Ausreise, Reise, Einreise der beschwerdeführenden Parteien in Österreich und ihrer darauffolgenden Asylantragstellung:
Der BF stammt aus XXXX und ist gemeinsam mit seinem Vater und seinem Bruder, deren Beschwerden gegen den erstinstantlichen Bescheid zu Zlen. GZ: G305 2155795-2 und G305 2155790-1 behandelt wurden, ausgehend von XXXX am XXXX .2015 mit dem Flugzeug nach Antalya (Türkei) ausgereist. Von dort gelangten die Genannten mit einem Reisebus nach Bodrum und mittels Schlauchbootes auf die Insel Kos. Mit einer Fähre setzten die Genannten nach Athen über und gelangten von dort, teils zu Fuß, teils mit dem Bus bzw. mit einem Van bis nach Österreich. Ein Schlepper brachte die Familie nach Deutschland. Da der Onkel des BF zu diesem Zeitpunkt in XXXX war, entschloss sich sein Vater zur Rückkehr nach Österreich. Über einen nicht feststellbaren Grenzübergang gelangten die Genannten ins Bundesgebiet und wurden dort von der Polizei aufgegriffen, da die Kommunikation mit einem Taxifahrer und eine Weiterreise nach Wien nicht möglich war. Zielland war ursprünglich Finnland, da ihnen mitgeteilt wurde, dass Österreich keine Flüchtlinge mehr aufnehme.
Eine von den öffentlichen Sicherheitsorganen durchgeführte EURODAC-Abfrage verlief negativ.
1.3. Zur individuellen Situation des Beschwerdeführers im Heimatstaat:
Im Herkunftsstaat besuchte der BF sechs Jahre lang die Grundschule und zwei Jahre lang die Mittelschule in XXXX . Weiterführende Ausbildungen belegte er nicht.
Der BF verfügt über keine Berufsausbildung. Im Herkunftsstaat arbeitete er nach eigenen Angaben in einem Geschäft neben dem Wohnhaus der Familie, welches XXXX verkaufte. Dort war er als Verkäufer angestellt. In seiner Heimat ging er auch sportlichen Aktivitäten nach, unter anderem als XXXX und war in diesem Sport seit dem Jahr 2005 bis eine Woche vor der Ausreise aus dem Irak engagiert. Zudem nahm er an nationalen Meisterschaften teil.
Die Kernfamilie des BF lebte zuletzt in einem Einfamilienhaus im Bezirk XXXX in XXXX , einem vorwiegend von Sunniten bewohnten Stadtteil (https://en.wikipedia.org/wiki/ XXXX , letzter Zugriff: 16.11.2021). Bis zur Ausreise aus dem Herkunftsstaat bestand die Kernfamilie des BF aus dem Vater, XXXX , geboren am XXXX , seinem jüngeren Bruder XXXX , geboren am XXXX (GZ: G305 2155795-2 und G305 2155790-1), der Mutter, XXXX , geboren XXXX und den in XXXX aufhältigen Brüdern XXXX , geboren XXXX und XXXX , geboren XXXX . Die Mutter und die beiden Brüder (letztere mit deren Familien) leben noch immer unbehelligt in XXXX .
1.4. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Der BF hatte weder mit der Polizei noch mit den Verwaltungsbehörden noch mit den Gerichten des Herkunftsstaates ein Problem. Zu keinem Zeitpunkt wurde der BF von staatlichen Organen oder von einer bewaffneten Gruppierung wegen seiner Zugehörigkeit zur Glaubensrichtung der Sunniten bzw. zur (Mehrheits-)ethnie der Araber oder aus politischen Gründen, etwa wegen einer etwaigen Zugehörigkeit zu einer politischen Partei des Herkunftsstaates, verfolgt.
Das Fluchtvorbringen des BF, das sich ursprünglich ausschließlich auf jenes seines Vaters stützte, erweist sich als nicht glaubwürdig.
Erst in der Beschwerde vom 21.04.2017 brachte er erstmals vor, homosexuell zu sein.
Der BF konnte darlegen, dass er in seiner Heimat ob seiner sexuellen Orientierung, die er nicht offen ausleben könne, gefährdet sei.
1.5. Zu etwaigen Integrationsschritten des BF im Bundesgebiet:
Der BF hat nachweislich an einer öffentlichen Schule den Gegenstand Deutsch als Fremdsprache besucht und half als Sprachvermittler zwischen Asylwerbern. Für ihn liegt eine Teilnahmebestätigung über einen Deutschkurs für Asylwerber und ein Zeugnis zur Integrationsprüfung Niveau B1 vor. Er besuchte den Übergangslehrgang des Bundesoberstufenrealgymnasiums in XXXX und ist seit September 2018 Schüler einer XXXX Schule in XXXX . Seine weitere Integration kann durch die dem Akt beiliegenden Unterstützungsschreiben sowie die Fotodokumentation über die Teilnahme an diversen Mode- und Designveranstaltungen wie der XXXX sowie der Regenbogenparade in XXXX und XXXX festgestellt werden. Zuletzt hat er an einer Tanztheater-Produktion teilgenommen und ist unterstützend für ein in Wien situiertes Bekleidungslabel tätig.
1.6. Zur Lage im Irak wird festgestellt:
Nachdem es den irakischen Sicherheitskräften (ISF) gemeinsam mit schiitischen Milizen, den sogenannten Popular Mobilisation Forces (PMF), mit Unterstützung durch die alliierten ausländischen Militärkräfte im Laufe des Jahres 2016 gelungen war, die Einheiten der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) sowohl aus den von ihr besetzten Teilen der südwestlichen Provinz Al Anbar bzw. deren Metropolen Fallouja und Ramadi als auch aus den nördlich an Bagdad anschließenden Provinzen Diyala und Salah al Din zu verdrängen, beschränkte sich dessen Herrschaftsgebiet in der Folge auf den Sitz seiner irakischen Kommandozentrale bzw. seines „Kalifats“ in der Stadt Mossul, Provinz Ninava, sowie deren Umgebung bis hin zur irakisch-syrischen Grenze. Ab November 2016 wurden die Umgebung von Mossul sowie der Ostteil der Stadt bis zum Ufer des Tigris sukzessive wieder unter die Kontrolle staatlicher Sicherheitskräfte gebracht, im Westteil wurde der IS von den irakischen Sicherheitskräften und ihren Verbündeten, die aus dem Süden, Norden und Westen in das Zentrum der Stadt vordrangen, in der Altstadt von Mossul eingekesselt. Der sunnitische IS wiederum versuchte parallel zu diesen Geschehnissen durch vereinzelte Selbstmordanschläge in Bagdad und anderen Städten im Süd- sowie Zentralirak seine wenn auch mittlerweile stark eingeschränkte Fähigkeit, die allgemeine Sicherheitslage zu destabilisieren, zu demonstrieren. Anfang Juli 2017 erklärte der irakische Premier Abadi Mossul für vom IS befreit. In der Folge wurden auch frühere Bastionen des IS westlich von Mossul in Richtung der irakisch-syrischen Grenze wie die Stadt Tal Afar durch die Militärallianz vom IS zurückerobert. Zuletzt richteten sich die Operationen der Militärallianz gegen den IS auf letzte Überreste seines früheren Herrschaftsgebiets im äußersten Westen der Provinz Anbar sowie eine Enklave um Hawija südwestlich von Kirkuk.
Bagdad:
Bagdad liegt im Tigris-Tal im Zentrum des Irak und ist flächenmäßig das kleinste Gouvernement. Die Hauptstadt des Irak, Bagdad City, liegt im Gouvernement Bagdad. Die Stadt Bagdad besteht aus den Bezirken: Adhamiyah, Karkh, Karada, Khadimiyah, Mansour, Sadr City, Al Rashid, Rusafa und 9 Nissan („neues Bagdad“). Der Rest des Gouvernements Bagdad besteht aus den Bezirken Al Madain, Taji, Tarmiyah, Mahmudiyah und Abu Ghraib. Für 2019 betrug die geschätzte Bevölkerung des Gouvernements 8 340 711, wobei die Mehrheit Schiiten und Sunniten waren.
Das Gouvernement Bagdad steht im Allgemeinen unter der Kontrolle der irakischen Behörden; In der Praxis teilen sich die Behörden jedoch die Verteidigungs- und Strafverfolgungsrollen mit der schiitisch dominierten PMU, was zu einer „unvollständigen“ oder überlappenden Kontrolle mit diesen Milizen führt. Die PMU hat kein operatives Hauptquartier im Gouvernement Bagdad, in der Praxis gibt es jedoch „wesentliche Stützpunkte“ in den Gürteln von Bagdad. Vom Iran unterstützte Milizen unterhalten zumindest einige Truppen in überwiegend schiitischen Gebieten, insbesondere in Bagdad. Der ISIL ist auch noch im Gouvernement präsent und es wurde berichtet, dass er seine Unterstützungszone im nördlichen und südwestlichen Bagdad-Gürtel baut und ausbaut. Mehrere Quellen berichteten von einer erhöhten ISIL-Aktivität in Bagdad im Zeitraum 2019-2020. Es wurde auch berichtet, dass die ISF nur begrenzt in der Lage war, auf Sicherheitsvorfälle, Terroranschläge und kriminelle Aktivitäten zu reagieren. Zusätzlich zu den anderen Akteuren in der Region verfügen die USA über zwei Militärstützpunkte in Bagdad, eine davon innerhalb des Bagdad International Airport.
Eine der wichtigsten Sicherheitsentwicklungen im Irak in den Jahren 2019 und 2020 waren die zunehmenden Spannungen zwischen dem Iran und den USA. Nach den US-Angriffen und den Vergeltungsschlägen des Iran wurde Bagdad Zeuge von Massendemonstrationen gegen die USA. In mehreren Städten, insbesondere in Bagdad, wurde von Großdemonstrationen berichtet, bei denen Sicherheitskräfte Tränengaspatronen und scharfe Munition direkt auf Demonstranten abfeuerten und dabei teilweise zahlreiche Opfer forderten. Überreste des ISIL führten weiterhin häufige Angriffe gegen das irakische Volk und die Sicherheitskräfte in Bagdad durch. Für 2020 schien das Hauptaugenmerk des IS auf Zielen der Sicherheitskräfte und nicht auf Zivilisten zu liegen.
ACLED meldete im Referenzzeitraum insgesamt 393 Sicherheitsvorfälle (durchschnittlich 4,8 Sicherheitsvorfälle pro Woche) im Gouvernement Bagdad, von denen die meisten als Vorfälle von Gewalt/Explosionen aus der Ferne kodiert wurden. In allen Bezirken des Gouvernements kam es zu Sicherheitsvorfällen, wobei die größte Gesamtzahl in der Stadt Bagdad verzeichnet wurde. Die UNAMI verzeichnete 46 Vorfälle im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten, 42 davon im Jahr 2019 und 4 vom 1. Januar bis 31. Juli 2020 (durchschnittlich 0,6 Sicherheitsvorfälle pro Woche für den gesamten Bezugszeitraum).
Im Bezugszeitraum verzeichnete die UNAMI bei den oben genannten Vorfällen im Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten insgesamt 58 zivile Opfer (40 Tote und 18 Verletzte). Genauer gesagt wurden im Jahr 2019 50 Opfer gemeldet und 8 Opfer vom 1. Januar bis 31. Juli 2020. Verglichen mit den offiziellen Zahlen für die Bevölkerung im Gouvernement entspricht dies 1 zivilen Opfer pro 100 000 Einwohner für den gesamten Bezugszeitraum.
Es wurde über die Entdeckung und Zerstörung von ISIL-Munitionslagern in verschiedenen Gebieten im Irak, einschließlich des Gouvernements Bagdad, berichtet. Es wurde auch über organisierte Kriminalität, Schießereien im Vorbeifahren, unkontrollierte Milizaktivitäten, Entführungen von Personen aus politischen oder finanziellen Gründen sowie Korruption berichtet. Die Schäden an der Infrastruktur entsprechen in allen Sektoren dem Landesdurchschnitt mit Ausnahme der Straßen, die offenbar die größten Schäden erlitten haben, insbesondere in den Bezirken Abu Ghraib und Mahmudiyah. Erhebliche Schäden an Wohngebäuden und Zerstörungen oder schlechte Funktionsfähigkeit von Strom- und Leitungswassernetzen wurden ebenfalls gemeldet.
Die Sicherheitslage im Großraum Bagdad war durch die genannten Ereignisse im Wesentlichen ebenfalls nicht unmittelbar beeinträchtigt. Es waren jedoch vereinzelte Anschläge bzw. Selbstmordattentate auf öffentliche Einrichtungen oder Plätze mit einer teils erheblichen Zahl an zivilen Opfern zu verzeichnen, die, ausgehend vom Bekenntnis des - als sunnitisch zu bezeichnenden - IS dazu, sich gegen staatliche Sicherheitsorgane oder gegen schiitische Wohnviertel und Städte richteten, um dort ein Klima der Angst sowie religiöse Ressentiments zu erzeugen und staatliche Sicherheitskräfte vor Ort zu binden. Hinweise auf eine etwaig religiös motivierte Bürgerkriegssituation finden sich in den Länderberichten nicht, ebenso auch nicht in Bezug auf die Säuberung von ethnischen oder religiösen Gruppierungen bewohnte Gebiete.
Die Lage im Irak ist seit der Tötung des iranischen Generals Qassem Soleimani durch einen Luftangriff der Vereinigten Staaten und einen Vergeltungsschlag des Irans gegen amerikanisch genutzte Militärstützpunkte sehr angespannt. Schiitische Milizen haben für die Tötung Soleimanis und eines hohen irakischen Milizenführers Vergeltung angekündigt, der bei dem amerikanischen Angriff ebenfalls ums Leben kam.
Betrachtet man die Indikatoren, so lässt sich feststellen, dass im Gouvernement Bagdad willkürliche Gewalt zwar stattfindet, jedoch nicht auf hohem Niveau, und dementsprechend ist ein höheres Niveau einzelner individueller Aspekte erforderlich, um stichhaltige Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass ein Zivilist einer realen Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne ausgesetzt wäre. Die EASO-Country Giudance: Iraq verdeutlicht, dass speziell Bagdad als Ziel einer möglichen Rückkehr in den Irak anzusehen ist.
Die Beschwerdeführer waren weder durch die im Herkunftsstaat tätigen Milizen noch durch die Polizei des Herkunftsstaates einer asylrelevanten Bedrohung oder gar Verfolgung ausgesetzt.
Quellen (Zugriff am 16.11.2021):
- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges- amt- bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf
- ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (11.12.2019): ecoi.net-Themendossier zum Irak: Schiitische Milizen, https://www.ecoi.net/en/document/2021156.html
- ACCORD-Anfragebeantwortung zur Sicherheitslage in Basra vom 10.06.2021 [a-11589-1], https://www.ecoi.net/de/dokument/2053521.html
- BFA Staatendokumentation: Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Irak: Von schiitischen Milizen dominierte Gebiete (Ergänzung zum Länderinformationsblatt), 04.01.2018 https://www.ecoi.net/en/file/local/1422124/5618_1516263925_irak-sm-von-schiitischen-milizen-dominierte-gebiete-2018-01-04-ke.doc
- Crisis Group (14.12.2018): Reviving UN Mediation on Iraq’s Disputed Internal Boundaries, https://www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/gulf-and-arabian-peninsula/iraq/194-reviving-un-mediation-iraqs-disputed-internal-boundaries
- EASO – Security situation Iraq (Oktober 2020): https://www.ecoi.net/de/dokument/2043991.html
- EASO – Country Guidance: Iraq (Stand Jänner 2021): https://www.ecoi.net/de/dokument/2045437.html
- FPRI - Foreign Policy Research Institute (19.8.2019): The Future of the Iraqi Popular Mobilization Forces, https://www.fpri.org/article/2019/08/the-future-of-the-iraqi-popular-mobilization-forces/
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2020a): Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/irak/geschichte-staat/
- Joel Wing, Musings on Iraq (3.2.2020): Violence Continues Its Up And Down Pattern In Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2020/02/violence-continues-its-up-and-down.html
- Rudaw (31.5.2019): Iraqi Security Forces ignore ISIS attacks on Kakai farmlands, https://www.rudaw.net/english/middleeast/iraq/31052019
- Süß, Clara-Auguste (21.8.2017): Al-Hashd ash-Sha’bi: Die irakischen „Volksmobilisierungseinheiten“ (PMU/PMF), in BFA Staatendokumentation: Fact Finding Mission Report Syrien mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1410004/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf
- UK Home Office: Country Policy and Information Note Iraq: Sunni (Arab) Muslims, 06/2017 https://www.ecoi.net/en/file/local/1403272/1226_1499246656_iraq-sunni-arabs-cpin-v2-0-june-2017.pdf
- UNHCR – UN High Commissioner for Refugees: Iraq: Relevant COI for Assessments on the Availability of an Internal Flight or Relocation Alternative (IFA/IRA); Ability of Persons Originating from (Previously or Currently) ISIS-Held or Conflict Areas to Legally Access and Remain in Proposed Areas of Relocation, 12.04.2017, https://www.ecoi.net/en/file/local/1397131/1930_1492501398_58ee2f5d4.pdf
- Wilson Center (27.4.2018): Part 2: Pro-Iran Militias in Iraq, https://www.wilsoncenter.org/article/part-2-pro-iran-militias-iraq
1.6.1. Sicherheitskräfte und Milizen
Der Irak verfügt über mehrere Sicherheitskräfte, die im ganzen Land operieren: Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF) unter dem Innen- und Verteidigungsministerium, die dem Innenministerium unterstellten Strafverfolgungseinheiten der Bundes- und Provinzpolizei, der Dienst zum Schutz von Einrichtungen, Zivil- und Grenzschutzeinheiten, die dem Öl-Ministerium unterstellte Energiepolizei zum Schutz der Erdöl-Infrastruktur, sowie die dem Premierminister unterstellten Anti-Terroreinheiten und der Nachrichtendienst des Nationalen Sicherheitsdienstes (NSS). Neben den regulären irakischen Streitkräften und Strafverfolgungsbehörden existieren auch die Volksmobilisierungskräfte (PMF), eine staatlich geförderte militärische Dachorganisation, die sich aus etwa 40, überwiegend schiitischen Milizgruppen zusammensetzt, und die kurdischen Peshmerga der Kurdischen Region im Irak (KRI).
Zivile Behörden haben über einen Teil der Sicherheitskräfte keine wirksame Kontrolle.
Der Name „Volksmobilisierungskräfte“ (al-hashd al-sha‘bi, engl.: popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF oder popular mobilization units, PMU), bezeichnet eine Dachorganisation für etwa 40 bis 70 Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen. Die PMF wurden vom schiitischen Groß-Ayatollah Ali As-Sistani per Fatwa für den Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) ins Leben gerufen und werden vorwiegend vom Iran unterstützt. PMF spielten eine Schlüsselrolle bei der Niederschlagung des IS. Die Niederlage des IS trug zur Popularität der vom Iran unterstützten Milizen bei.
Die verschiedenen unter den PMF zusammengefassten Milizen sind sehr heterogen und haben unterschiedliche Organisationsformen, Einfluss und Haltungen zum irakischen Staat. Sie werden grob in drei Gruppen eingeteilt: Die pro-iranischen schiitischen Milizen, die nationalistisch-schiitischen Milizen, die den iranischen Einfluss ablehnen, und die nicht schiitischen Milizen, die üblicherweise nicht auf einem nationalen Level operieren, sondern lokal aktiv sind. Zu letzteren zählen beispielsweise die mehrheitlich sunnitischen Stammesmilizen und die kurdisch-jesidischen „Widerstandseinheiten Schingal“. Letztere haben Verbindungen zur Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in der Türkei und zu den Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien. Die PMF werden vom Staat unterstützt und sind landesweit tätig. Die Mehrheit der PMF-Einheiten ist schiitisch, was die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere „Minderheiten-Einheiten“ der PMF sind in ihren Heimatregionen tätig. In einigen Städten, vor allem in Gebieten, die früher vom IS besetzt waren, dominieren PMF die lokale Sicherheit. In Ninewa stellen sie die Hauptmacht dar, während die reguläre Armee zu einer sekundären Kraft geworden ist.
Es gibt große, gut ausgerüstete Milizen, quasi militärische Verbände, wie die Badr-Organisation, mit eigenen Vertretern im Parlament, aber auch kleine improvisierte Einheiten mit wenigen Hundert Mitgliedern, wie die Miliz der Schabak. Viele Milizen werden von Nachbarstaaten, wie dem Iran oder Saudi-Arabien, unterstützt. Die Türkei unterhält in Baschika nördlich von Mossul ein eigenes Ausbildungslager für sunnitische Milizen. Die Milizen haben eine ambivalente Rolle. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage gewesen, den IS zu besiegen und Großveranstaltungen wie die Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Millionen Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, was sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik widerspiegelt und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beiträgt. Vertreter und Verbündete der PMF haben Parlamentssitze inne und üben Einfluss auf die Regierung aus.
1.6.1.1. Asa‘ib Ahl al-Haqq
Die Asa‘ib Ahl al-Haqq (AAH; Liga der Rechtschaffenen oder Khaz‘ali-Netzwerk, League of the Righteous) wurde 2006 von Qais al-Khaz‘ali gegründet und bekämpfte zu jener Zeit die US-amerikanischen Truppen im Irak. Sie ist eine Abspaltung von As-Sadrs Mahdi-Armee und im Gegensatz zu As-Sadr pro-iranisch. Asa‘ib Ahl al-Haqq unternahm den Versuch, sich als politische Kraft zu etablieren, konnte bei den Parlamentswahlen 2014 allerdings nur ein einziges Mandat gewinnen. Ausgegangen wird von einer Gruppengröße von mindestens 3.000 Mann; einige Quellen sprechen von 10.000 bis 15.000 Kämpfern. Asa‘ib Ahl al-Haqq bildet die 41., 42. und 43. der PMF-Brigaden. Die Miliz erhält starke Unterstützung vom Iran und ist wie die Badr-Oganisation und Kata’ib Hizbullah vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv. Sie gilt heute als gefürchtetste, weil besonders gewalttätige Gruppierung innerhalb der Volksmobilisierungskräfte, die religiös-politische mit kriminellen Motiven verbindet. Ihr Befehlshaber Qais al Khaz‘ali ist einer der bekanntesten Anführer der PMF.
1.6.1.2. Saraya as Salam
Die Saraya as-Salam (Schwadronen des Friedens, Peace Brigades) wurden im Juni 2014 nach der Fatwa von Großayatollah Ali as-Sistani, in der alle junge Männer dazu aufgerufen wurden, sich im Kampf gegen den IS den Sicherheitskräften zum Schutz von Land, Volk und heiligen Stätten im Irak anzuschließen, von Muqtada as-Sadr gegründet. Die Gruppierung kann de facto als eine Fortführung der ehemaligen Mahdi-Armee bezeichnet werden. Diese ist zwar 2008 offiziell aufgelöst worden, viele ihrer Kader und Netzwerke blieben jedoch aktiv und konnten 2014 leicht wieder mobilisiert werden. Die Saraya as-Salam sind der militärische Arm der Sairoun Partei (Allianz für Reformen, Marsch in Richtung Reform). Diese ist eine multiethnische, nicht-konfessionelle (wenn auch meist schiitische), parlamentarische Koalition, die sich aus anti-iranischen Schiiten-Parteien, der Kommunistischen Partei und einigen anderen kleineren Parteien zusammensetzt. Quellen sprechen von einer Gruppengröße von 50.000, teilweise sogar 100.000 Mann. Ihre Schlagkraft ist jedoch mangels ausreichender finanzieller Ausstattung und militärischer Ausrüstung begrenzt. Dies liegt darin begründet, dass Sadr politische Distanz zu Teheran wahren will, was in einer nicht ganz so großzügigen Unterstützung Irans resultiert.
Das Haupteinsatzgebiet der Miliz liegt im südlichen Zentrum des Irak, wo sie vorgibt, die schiitischen heiligen Stätten zu schützen. Ebenso waren Saraya as-Salam aber auch mehrfach an Kämpfen nördlich von Bagdad beteiligt. Die Saraya as-Salam bilden mindestens drei Brigaden und stellen damit das zweitgrößte Kontingent der PMF. Muqtada as-Sadr verkündete, dass die Saraya as-Salam-Brigaden die Durchführungsverordnung von Premierminister Mahdi sofort annehmen würden und fortan nur noch unter den ihnen zugeteilten Nummern, 313, 314 und 315, bekannt sein würden. Es gilt jedoch als wahrscheinlich, dass Sadr auch weiterhin großen Einfluss auf diese Milizen haben wird. Es wird angenommen, dass schätzungsweise 15.000 weitere seiner Kämpfer außerhalb der PMF-Brigaden organisiert sind.
1.6.1.3. Rechtsstellung und Aktivitäten der PMF
Obwohl das Milizenbündnis der PMF unter der Aufsicht des 2014 gegründeten Volksmobilisierungskomitees steht und Ende 2016 ein Gesetz in Kraft trat, das die PMF dem regulären irakischen Militär in allen Belangen gleichstellt und somit der Weisung des Premierministers unterstellt, hat der irakische Staat nur mäßige Kontrolle über die Milizen. In diesem Zusammenhang kommt vor allem Badr eine große Bedeutung zu: Die Milizen werden zwar von der irakischen Regierung in großem Umfang mit finanziellen Mitteln und Waffen unterstützt, unterstehen aber formal dem von Badr dominierten Innenministerium, wodurch keine Rede von umfassender staatlicher Kontrolle sein kann. Die einzelnen Teilorganisationen agieren größtenteils eigenständig und weisen eigene Kommandostrukturen auf, was zu Koordinationsproblemen führt und letztendlich eine institutionelle Integrität verhindert.
Die PMF genießen auch breite Unterstützung in der irakischen Bevölkerung für ihre Rolle im Kampf gegen den Islamischen Staat nach dem teilweisen Zusammenbruch der irakischen Armee im Jahr 2014. Die militärischen Erfolge der PMF gegen den IS steigerten ihre Popularität vor allem bei der schiitischen Bevölkerung, gleichzeitig wurden allerdings auch Berichte über Menschenrechtsverletzungen, wie willkürliche Hinrichtungen, Entführungen und Zerstörung von Häusern veröffentlicht.
Einige PMF haben sich Einkommensquellen erschlossen, die sie nicht aufgeben wollen, darunter Raub, Erpressung und Altmetallbergung. Es wird angenommen, dass die PMF einen Teil der lokalen Wirtschaft in Ninewa kontrollieren, was von diesen zurückgewiesen wird. Im Norden und Westen des Irak haben Amtspersonen und Bürger über Schikanen durch PMF-Milizen und deren Eingreifen in die Stadtverwaltungen und das alltägliche Leben berichtet. Damit geht der Versuch einher, bisweilen unter Einsatz von Demütigungen und Prügel, Kontrolle über Bürgermeister, Distrikt-Vorsteher und andere Amtsträger. In Gebieten, die vom IS zurückerobert wurden, klagen Einheimische, dass sich die PMF gesetzwidrig und unverhohlen parteiisch verhalten. In Mossul beispielsweise behaupteten mehrere Einwohner, dass die PMF weit davon entfernt seien, Schutz zu bieten, und durch Erpressung oder Plünderungen illegale Gewinne erzielten. PMF-Kämpfer haben im gesamten Nordirak Kontrollpunkte errichtet, um Zölle von Händlern einzuheben. Auch in Bagdad wird von solchen Praktiken berichtet. Darüber hinaus haben die PMF auch die Armee in einigen Gebieten verstimmt. Zusammenstöße zwischen den PMF und den regulären Sicherheitskräften sind häufig. Auch sind Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen der PMF weitverbreitet. Die Rivalität unter den verschiedenen Milizen ist groß.
Neben der Finanzierung durch den irakischen sowie den iranischen Staat bringen die Milizen einen wichtigen Teil der Finanzmittel selbst auf – mit Hilfe der organisierten Kriminalität. Ein Naheverhältnis zu dieser war den Milizen quasi von Beginn an in die Wiege gelegt. Vor allem bei Stammesmilizen waren Schmuggel und Mafiatum weit verbreitet. Die 2003/4 neu gegründeten Milizen kooperierten zwangsläufig mit den Mafiabanden ihrer Stadtviertel. Kriminelle Elemente wurden aber nicht nur kooptiert, die Milizen sind selbst in einem so hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt, dass manche Experten sie nicht mehr von der organisierten Kriminalität unterscheiden, sondern von Warlords sprechen, die in ihren Organisationen Politik und Sozialwesen für ihre Klientel und Milizentum vereinen – oft noch in Kombination mit offiziellen Positionen im irakischen Sicherheitsapparat. Die Einkünfte kommen hauptsächlich aus dem großangelegten Ölschmuggel, Schutzgelderpressungen, Amtsmissbrauch, Entführungen, Waffen- und Menschenhandel, Antiquitäten- und Drogenschmuggel. Entführungen sind und waren ein wichtiges Geschäft aller Gruppen, dessen hauptsächliche Opfer zahlungsfähige Iraker sind.
Eine Rekrutierung in die PMF erfolgt ausschließlich auf freiwilliger Basis und aus wirtschaftlichen Gründen, Desertion aus den PMF kam zudem seltener vor als bei den irakischen Streitkräften. Anlassbezogen ist jedoch nicht hervorgekommen, dass der Beschwerdeführer einer asylrelevanten Bedrohung durch schiitische Milizen, den IS oder durch die Polizei des Herkunftsstaates ausgesetzt gewesen wäre.
Quellen (Zugriff am 16.11.2021):
- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amtbericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-20 18-12-01-2019.pdf
- ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (11.12.2019): ecoi.net-Themendossier zum Irak: Schiitische Milizen, https://www.ecoi.net/en/ document/2021156.html
- Al Monitor (23.2.2020): Iran struggles to regain control of post-Soleimani PMU, https://www.al-m onitor.com/pulse/originals/2020/02/iraq-iran-soleimani-pmu.html
- Al-Tamini - Aymenn Jawad Al-Tamimi (31.10.2017): Hashd Brigade Numbers Index, http://www.ay mennjawad.org/2017/10/hashd-brigade-numbers-index
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- DIS/Landinfo - Danish Immigration Service; Norwegian Country of Origin Information Center (5.11.2018): Northern Iraq: Security situation and the situation for internally displaced persons (IDPs) in the disputed areas, incl. possibility to enter and access the Kurdistan Region of Iraq (KRI), https://www.ecoi.net/en/file/local/1450541/1226_1542182184_ iraq-report-security-idps-and-access-nov2018.pdf
- ICG - International Crisis Group (30.7.2018): Iraq’s Paramilitary Groups: The Challenge of Rebuilding a Functioning State, https://www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/gulf-and-arabia n-peninsula/iraq/188-iraqs-paramilitary-groups-challenge-rebuilding-functioning-state
- FPRI - Foreign Policy Research Institute (19.8.2019): The Future of the Iraqi Popular Mobilization Forces, https://www.fpri.org/article/2019/08/the-future-of-the-iraqi-popular-mobilization-forces/
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (1.2020a): Geschichte & Staat, https://www.liportal.de/irak/geschichte-staat/
- GS - Global Security (18.7.2019): Hashd al-Shaabi / Hashd Shaabi, Popular Mobilisation Units / People’s Mobilization Forces, https://www.globalsecurity.org/military/world/para/hashd-al-shaabi.h
- MEE - Middle East Eye (16.2.2020): Iran and Najaf struggle for control over Hashd al-Shaabi after Muhandis’s killing, https://www.middleeasteye.net/news/iran-and-najaf-struggle-control-over-hash d-al-shaabi-after-muhandis-killing
- MEMO - Middle East Monitor (21.1.2020): Iraq’s PMF appoints new deputy head as successor toAl-Muhandis, https://www.middleeastmonitor.com/20200221-iraqs-pmf-appoints-new-deputy-hea d-as-successor-to-al-muhandis/
- Posch, Walter (8.2017): Schiitische Milizen im Irak und in Syrien –Volksmobilisierungseinheiten und andere, per E-mail
- Reuters (29.8.2019): Baghdad’s crackdown on Iran-allied militias faces resistance, https://www.re uters.com/article/us-iraq-militias-usa/baghdads-crackdown-on-iran-allied-militias-faces-resistance -idUSKCN1VJ0GS
- Süß, Clara-Auguste (21.8.2017): Al-Hashd ash-Sha’bi: Die irakischen „Volksmobilisierungseinheiten“ (PMU/PMF), in BFA Staatendokumentation: Fact Finding Mission Report Syrien mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1410004/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf
- TDP - The Defense Post (3.7.2019): Mahdi orders full integration of Shia militias into Iraq’s armed forces, https://thedefensepost.com/2019/07/03/iraq-mahdi-orders-popular-mobilization-units-integ ration/
- USDOS - United States Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004254.html
- USDOS - US Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: https://www.ecoi.net/de/dokument/2011175.html
- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html
- Wilson Center (27.4.2018): Part 2: Pro-Iran Militias in Iraq, https://www.wilsoncenter.org/article/p art-2-pro-iran-militias-iraq
1.6.2. Sexuelle Minderheiten:
Das Strafgesetzbuch des Irak verbietet gleichgeschlechtliche Intimität nicht. Es gibt keine Gesetze, die gleichgeschlechtliches Verhalten (same-sex conduct) direkt kriminalisieren würden. Nach Artikel 394 ist jedoch das Eingehen einer außerehelichen sexuellen Beziehung strafbar. Die Behörden stützen sich aber auf Anklagen wegen Sittlichkeitsvergehen oder Prostitution, um gleichgeschlechtliche - aber auch außereheliche heterosexuelle - Aktivität strafrechtlich zu verfolgen. Herangezogen wird Artikel 401 bezüglich unsittlichen Verhaltens in der Öffentlichkeit (bis zu sechs Monate Haft). Es handelt sich dabei um eine vage Bestimmung, die zur Verfolgung sexueller und gleichgeschlechtlicher Minderheiten herangezogen werden kann, auch wenn kein derartiger Fall dokumentiert ist.
Auch wenn sensible Themen zunehmend öffentlich diskutiert werden, wird Homosexualität weitgehend tabuisiert und von großen Teilen der Bevölkerung als unvereinbar mit Religion und Kultur abgelehnt. Homosexuelle leben ihre Sexualität meist gar nicht oder nur heimlich aus und sehen sich Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung ausgesetzt. Es besteht ein hohes Risiko sozialer Ächtung und Gewalt, bis hin zu Ehrenmorden durch Familienangehörige. Angehörige sexueller Minderheiten sind häufig Misshandlungen und Gewalt durch staatliche und nichtstaatliche Akteure ausgesetzt, die von der Regierung nicht wirksam untersucht werden. Die Polizei wird mitunter eher als Bedrohung, denn als Schutz empfunden. Trotz wiederholter Drohungen und Gewalttaten gegen Angehörige sexueller Minderheiten versäumt es die Regierung, Angreifer zu identifizieren, festzunehmen oder strafrechtlich zu verfolgen bzw. mögliche Opfer zu schützen. Staatliche Rückzugsorte für Angehörige sexueller Minderheiten gibt es nicht, die Anzahl privater Schutzinitiativen ist sehr beschränkt.
Die Handlungen, denen (vermeintliche) LGBTIQ ausgesetzt sein könnten, sind so schwerwiegend, dass sie einer Verfolgung gleichkommen (z. B. Entführungen, Körperverletzungen, Tötungen).
Grundsätzlich wäre bei (wahrgenommenen) LGBTIQ-Personen eine begründete Furcht vor Verfolgung begründet.
Es ist zu beachten, dass einem Antragsteller nicht zugemutet werden kann, seine sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität zu verbergen, um Verfolgung zu vermeiden.
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges- amt- bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf
- CEDAW - UN Committee on the Elimination of Discrimination Against Women; IraQueer (Author), MADRE (Author), OutRight Action International (Author), OWFI - The Organization of Women's Freedom in Iraq (Author) (9.2019): Violence and Discrimination Based on Sexual Orientation and Gender Identity in Iraq, https://tbinternet.ohchr.org/Treaties/CEDAW/Shared Documents/IRQ/INT_CEDAW_CSS_IRQ_37343_E.docx
- EASO – Security situation Iraq (Oktober 2020): https://www.ecoi.net/de/dokument/2043991.html
- EASO – Country Guidance: Iraq (Stand Jänner 2021): https://www.ecoi.net/de/dokument/2045437.html
- FH - Freedom House (4.3.2020): Freedom in the World 2020 – Iraq, https://freedomhouse.org/country/iraq/freedom-world/2020
- HRW - Human Rights Watch (14.1.2020): World Report 2020 - Iraq, https://www.ecoi.net/en/document/2022678.html
- USDOS - US Department of State (11.3.2020): Country Report on Human Rights Practices 2019 – Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026340.html
- USDOS - United States Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/2004254.html
1.6.3. Berufsgruppen:
Aus den Länderinformationen zum Herkunftsstaat der bfP geht hervor, dass Polizisten, Soldaten, Journalisten, Menschenrechtsverteidiger, Intellektuelle, Richter und Rechtsanwälte und alle Mitglieder des Sicherheitsapparats besonders gefährdet seien.
Inhaber von Geschäften, in denen Alkohol verkauft wird - fast ausschließlich Angehörige von Minderheiten, vor allem Jesiden und Christen, Zivilisten, die für internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen oder ausländische Unternehmen arbeiten sowie medizinisches Personal seien ebenfalls immer wieder Ziel von Entführungen oder Anschlägen.
Der BF war laut eigenen Angaben zuletzt als Verkäufer in einem Geschäft für XXXX tätig. Eine hieraus resultierende, berufstypische Gefährdung konnte nicht festgestellt werden.
Quellen (Zugriff am 16.11.2021):
- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf
- ACCORD Anfragebeantwortung vom 07.02.2019: Anfragebeantwortung zum Irak: Lage von Homosexuellen in Bagdad; Sanktionen; innerstaatliche Fluchtalternative [a-10869]: https://www.ecoi.net/de/dokument/1457700.html
- USDOS - US Department of State (21.6.2019): 2018 Report on International Religious Freedom: https://www.ecoi.net/de/dokument/2011175.html
1.6.4. Medizinische Versorgung
Das Gesundheitswesen besteht aus einem privaten und einem öffentlichen Sektor. Grundsätzlich sind die Leistungen des privaten Sektors besser, zugleich aber auch teurer. Ein staatliches Krankenversicherungssystem existiert nicht. Alle irakischen Staatsbürger, die sich als solche ausweisen können - für den Zugang zum Gesundheitswesen wird lediglich ein irakischer Ausweis benötigt - haben Zugang zum Gesundheitssystem. Fast alle Iraker leben maximal eine Stunde vom nächstgelegenen Krankenhaus bzw. Gesundheitszentrum entfernt. In ländlichen Gegenden lebt jedoch ein bedeutender Teil der Bevölkerung weiter entfernt von solchen Einrichtungen (IOM 1.4.2019). Staatliche, wie private Krankenhäuser sind fast ausschließlich in den irakischen Städten zu finden. Dort ist die Dichte an praktizierenden Ärzten, an privaten und staatlichen Kliniken um ein Vielfaches größer. Gleiches gilt für Apotheken und medizinische Labore. Bei der Inanspruchnahme privatärztlicher Leistungen muss zunächst eine Art Praxisgebühr bezahlt werden. Diese beläuft sich in der Regel zwischen 15.000 und 20.000 IQD (Anm.: ca. 12-16 EUR). Für spezielle Untersuchungen und Laboranalysen sind zusätzliche Kosten zu veranschlagen. Außerdem müssen Medikamente, die man direkt vom Arzt bekommt, gleich vor Ort bezahlt werden. In den staatlichen Zentren zur Erstversorgung entfällt zwar in der Regel die Praxisgebühr, jedoch nicht die Kosten für eventuelle Zusatzleistungen. Darunter fallen etwa Röntgen- oder Ultraschalluntersuchungen (GIZ 12.2019).
Insgesamt bleibt die medizinische Versorgungssituation angespannt (AA 12.1.2019). Auf dem Land kann es bei gravierenden Krankheitsbildern problematisch werden. Die Erstversorgung ist hier grundsätzlich gegeben; allerdings gilt die Faustformel: Je kleiner und abgeschiedener das Dorf, umso schwieriger die medizinische Versorgung (GIZ 12.2019). In Bagdad arbeiten viele Krankenhäuser mit eingeschränkter Kapazität. Die Ärzte und das Krankenhauspersonal gelten generell als qualifiziert, doch haben viele aus Angst vor Entführung oder Repression das Land verlassen. Die für die Grundversorgung der Bevölkerung besonders wichtigen örtlichen Gesundheitszentren (ca. 2.000 im gesamten Land) sind entweder geschlossen oder wegen baulicher, personeller und Ausrüstungsmängel nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen (AA 12.1.2019). Spezialisierte Behandlungszentren für Personen mit psychosoziale Störungen existieren zwar, sind jedoch nicht ausreichend (UNAMI 12.2016). Laut Weltgesundheitsorganisation ist die primäre Gesundheitsversorgung nicht in der Lage, effektiv und effizient auf die komplexen und wachsenden Gesundheitsbedürfnisse der irakischen Bevölkerung zu reagieren (WHO o.D.).
Quellen (Zugriff am 16.11.2021):
- AA - Auswärtiges Amt (12.1.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1457267/4598_1548939544_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2018-12-01-2019.pdf
- GIZ - Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (12.2019): Alltag, https://www.liportal.de/irak/alltag/
- IOM - Internationale Organisation für Migration (1.4.2019): Länderinformationsblatt Irak (Country Fact Sheet 2018), https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698617/18363939/Irak_%2D_Country_Fact_Sheet_2018%2C_deutsch.pdf?nodeid=20101157&vernum=-2
- UNAMI - United Nations Assistance Mission to Iraq (12.2016): Report on the Rights of Persons with Disabilities in Iraq, https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/UNAMI_OHCHR__Report_on_the_Rights_of_PWD_FINAL_2Jan2017.pdf
- WHO - World Health Organization (o.D.): Iraq: Primary Health Care, http://www.emro.who.int/irq/programmes/primary-health-care.html
1.6.5. Grundversorgung und Wirtschaft:
Der Staat kann die Grundversorgung der Bürger nicht kontinuierlich und in allen Landesteilen gewährleisten. Die Iraker haben eine dramatische Verschlechterung in Bezug auf die Zurverfügungstellung von Strom, Wasser, Abwasser- und Abfallentsorgung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Verkehr und Sicherheit erlebt. Der Konflikt hat nicht nur in Bezug auf die Armutsraten, sondern auch bei der Erbringung staatlicher Dienste zu stärker ausgeprägten räumlichen Unterschieden geführt. Der Zugang zu diesen Diensten und deren Qualität variiert demnach im gesamten Land erheblich.
Die über Jahrzehnte internationaler Isolation und Krieg vernachlässigte Infrastruktur ist sanierungsbedürftig. Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten schwierig. Die genannten Defizite werden durch die grassierende Korruption zusätzlich verstärkt. Nach Angaben des UN-Programms „Habitat“ leben 70 Prozent der Iraker in Städten, die Lebensbedingungen von einem großen Teil der städtischen Bevölkerung gleichen denen von Slums.
In vom IS befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wiederhergestellt werden. Einige Städte sind weitgehend zerstört. Die Stabilisierungsbemühungen und der Wiederaufbau durch die irakische Regierung werden intensiv vom United Nations Development Programme (UNDP) und internationalen Gebern unterstützt.
1.6.5.1. Wirtschaftslage:
Der Irak erholt sich nur langsam vom Terror des IS und seinen Folgen. Nicht nur sind ökonomisch wichtige Städte wie Mosul zerstört worden. Dies trifft das Land, nachdem es seit Jahrzehnten durch Krieg, Bürgerkrieg, Sanktionen zerrüttet wurde. Wiederaufbauprogramme laufen bereits, vorsichtig-positive Wirtschaftsprognosen traf die Weltbank im Oktober 2018 für das Jahr 2019. Ob der Wiederaufbau zu einem nachhaltigen positiven Aufschwung beiträgt, hängt aus Sicht der Weltbank davon ab, ob das Land die Korruption in den Griff bekommt.
Das Erdöl stellt immer noch die Haupteinnahmequelle des irakischen Staates dar. Rund 90 Prozent der Staatseinnahmen stammen aus dem Ölsektor.
Noch im Jahr 2016 wuchs die irakische Wirtschaft laut Economist Intelligence Unit (EIU) und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) um 11 Prozent. Im Folgejahr schrumpfte sie allerdings um 0,8 Prozent. Auch 2018 wird das Wachstum um die 1 Prozent betragen, während für 2019 wieder ein Aufschwung von 5 Prozent zu erwarten ist. Laut Weltbank wird erwartet, dass das gesamte BIP-Wachstum bis 2018 wieder auf positive 2,5 Prozent ansteigt. Die Wachstumsaussichten des Irak dürften sich dank der günstigeren Sicherheitslage und der allmählichen Belebung der Investitionen für den Wiederaufbau verbessern. Die positive Entwicklung des Ölpreises ist dafür auch ausschlaggebend. Somit scheint sich das Land nach langen Jahren bewaffneter Auseinandersetzungen wieder in Richtung einer gewissen Normalität zu bewegen. Dieser positiven Entwicklung stehen gleichwohl weiterhin Herausforderungen gegenüber.
So haben der Krieg gegen den IS und der langwierige Rückgang der Ölpreise seit 2014 zu einem Rückgang der Nicht-Öl-Wirtschaft um 21,6 Prozent geführt, sowie zu einer starken Verschlechterung der Finanz- und Leistungsbilanz des Landes. Der Krieg und die weit verbreitete Unsicherheit haben auch die Zerstörung von Infrastruktur und Anlageobjekten in den vom IS kontrollierten Gebieten verursacht, Ressourcen von produktiven Investitionen abgezweigt, den privaten Konsum und das Investitionsvertrauen stark beeinträchtigt und Armut, Vulnerabilität und Arbeitslosigkeit erhöht. Dabei stieg die Armutsquote [schon vor dem IS, Anm.] von 18,9 Prozent im Jahr 2012 auf geschätzte 22,5 Prozent im Jahr 2014.
Jüngste Arbeitsmarktstatistiken deuten auf eine weitere Verschlechterung der Armutssituation hin. Die Erwerbsquote von Jugendlichen (15 bis 24 Jahre) ist seit Beginn der Krise im Jahr 2014 deutlich gesunken, von 32,5 Prozent auf 27,4 Prozent. Die Arbeitslosigkeit nahm vor allem bei Personen aus den ärmsten Haushalten und Jugendlichen und Personen im erwerbsfähigen Alter (25 bis 49 Jahre) zu. Die Arbeitslosenquote ist in den von IS-bezogener Gewalt und Vertreibung am stärksten betroffenen Provinzen etwa doppelt so hoch wie im übrigen Land (21,1 Prozent gegenüber 11,2 Prozent), insbesondere bei Jugendlichen und Ungebildeten.
Der Irak besitzt kaum eigene Industrie. Hauptarbeitgeber ist der Staat. Grundsätzlich ist der öffentliche Sektor sehr gefragt. Die IS-Krise und die Kürzung des Budgets haben Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt im privaten und öffentlichen Sektor. Jobangebote sind mit dem Schließen mehrerer Unternehmen zurückgegangen. Im öffentlichen Sektor sind ebenfalls viele Stellen gestrichen worden. Gute Berufschancen bietet jedoch derzeit das Militär. Das durchschnittliche monatliche Einkommen im Irak beträgt derzeit 350-1.500 USD, je nach Position und Ausbildung.
Das Ministerium für Arbeit und Soziales bietet Unterstützung bei der Arbeitssuche und stellt Arbeitsagenturen in den meisten Städten. Die Regierung hat auch ein Programm gestartet, um irakische Arbeitslose und Arbeiter, die weniger als 1 USD pro Tag verdienen, zu unterstützen. Aufgrund der derzeitigen Situation im Land wurde die Hilfe jedoch eingestellt. Weiterbildungsmöglichkeiten werden durch Berufsschulen, Trainingszentren und Agenturen angeboten.
1.6.5.2. Stromversorgung:
Die Stromversorgung des Irak ist im Vergleich zu der Zeit vor 2003 schlecht. Sie deckt nur etwa 60 Prozent der Nachfrage ab, wobei etwa 20 Prozent der Bevölkerung überhaupt keinen Zugang zu Elektrizität haben. Der verfügbare Stromvorrat variiert jedoch je nach Gebiet und Jahreszeit. Selbst in Bagdad ist die öffentliche Stromversorgung vor allem in den Sommermonaten, wenn bei Temperaturen von über 50 Grad flächendeckend Klimaanlagen eingesetzt werden, häufig unterbrochen. Dann versorgt sich die Bevölkerung aus privaten Generatoren, sofern diese vorhanden sind. Die Versorgung mit Mineralöl bleibt unzureichend und belastet die Haushalte wegen der hohen Kraftstoffpreise unverhältnismäßig. In der Autonomen Region Kurdistan erfolgt die Stromversorgung durch Betrieb eigener Kraftwerke, unterliegt jedoch wie in den anderen Regionen Iraks erheblichen Schwankungen und erreicht deutlich weniger als 20 Stunden pro Tag. Kraftwerke leiden unter Mangel an Brennstoff und es gibt erhebliche Leitungsverluste.
1.6.5.3. Wasserversorgung:
Die Wasserversorgung wird von der schlechten Stromversorgung in Mitleidenschaft gezogen. Der Irak befindet sich inmitten einer schweren Wasserkrise, die durch akute Knappheit, schwindende Ressourcen und eine stark sinkende Wasserqualität gekennzeichnet ist. Die Wasserknappheit dürfte sich kurz- bis mittelfristig noch verschärfen. Besonders betroffen sind die südlichen Provinzen, insbesondere Basra. Der Klimawandel ist dabei ein Faktor, aber auch große Staudammprojekte in der Türkei und im Ira