TE Vwgh Erkenntnis 2021/10/20 Ra 2021/20/0252

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Veröffentlicht am 20.10.2021
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Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §9 Abs1
AsylG 2005 §9 Abs2
AsylG 2005 §9 Abs2 Z3

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Rossmeisel sowie die Hofräte Dr. Schwarz und Mag. Cede als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Engel, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 31. Mai 2021, I405 2212864-2/28E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (Mitbeteiligter: M I in S, vertreten durch Mag. Clemens Lahner, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Burggasse 116), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1        Zur Vorgeschichte ist eingangs auf das den Mitbeteiligten betreffende Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 22. Oktober 2020, Ra 2020/20/0274, zu verweisen.

2        Der im April 2004 geborene Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger von Nigeria, stellte am 19. August 2016 (damals vertreten durch seinen Vater) einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Die Obsorge wurde den Eltern mit Beschluss des Bezirksgerichts Salzburg vom 25. Oktober 2016 entzogen und dem Kinder- und Jugendhilfeträger des Landes Salzburg übertragen.

3        Dazu hielt das Bezirksgericht fest, die Mutter des Revisionswerbers lebe in Nigeria. Sein Vater sei in Österreich „untergetaucht“. Der Revisionswerber wünsche die Übertragung der Obsorge an das Jugendamt. Vor diesem Hintergrund sei der Kinder- und Jugendhilfeträger Land Salzburg mit der Obsorge für den Revisionswerber zu betrauen und den Eltern die Obsorge zu entziehen gewesen.

4        Mit Bescheid vom 5. Dezember 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Mitbeteiligten in Bezug auf das Begehren auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab, erkannte ihm allerdings gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung mit Gültigkeit bis zum 5. Dezember 2019.

5        Die Zuerkennung von subsidiärem Schutz begründete die Behörde damit, dass bei einer Rückkehr des (damals 14-jährigen) Mitbeteiligten in seinen Herkunftsstaat aufgrund der Minderjährigkeit und der fehlenden Garantie eines gesicherten Familienanschlusses in Nigeria eine Verletzung seiner gemäß Art. 2 und Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte zu befürchten sei.

6        Das Bundesverwaltungsgericht wies die Beschwerde des Mitbeteiligten, die er gegen die Verweigerung der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten erhoben hatte, mit Erkenntnis vom 12. März 2019 als unbegründet ab.

7        Der Mitbeteiligte wurde vom Landesgericht Salzburg mit Urteil vom 29. März 2019 wegen der Vergehen der Sachbeschädigung nach § 125 StGB, des versuchten Diebstahls nach § 15 Abs. 1, § 127 StGB, der Nötigung nach § 105 Abs. 1 StGB, der versuchten und vollendeten Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB zum Teil iVm § 15 Abs. 1 StGB, sowie des Verbrechens der versuchten schweren Körperverletzung nach § 15 Abs. 1, § 84 Abs. 4 StGB - in Anwendung des § 5 Z 4 JGG - zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von sechs Monaten rechtskräftig verurteilt.

8        Mit dem Antrag vom 22. November 2019 begehrte der Mitbeteiligte die Verlängerung der ihm als subsidiär Schutzberechtigten erteilten Aufenthaltsberechtigung nach § 8 Abs. 4 AsylG 2005.

9        Am 10. Dezember 2019 verurteilte das Landesgericht Salzburg den Mitbeteiligten wegen der Verbrechen des vollendeten schweren Raubes nach § 142 Abs. 1, § 143 Abs. 1 zweiter Fall StGB und des versuchten Raubes nach § 15 Abs. 1, § 142 Abs. 1 StGB - in Anwendung des § 5 Z 4 JGG - rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von 30 Monaten.

10       Weiters wurde der Mitbeteiligte rechtskräftig vom Bezirksgericht Salzburg am 7. Februar 2020 wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs. 1 StGB - in Anwendung des § 5 Z 4 JGG - mit Rücksicht auf die Urteile des Landesgerichts Salzburg vom 29. März 2019 und vom 10. Dezember 2019 zu einer Zusatzfreiheitsstrafe von einem Monat verurteilt.

11       Infolge der Verurteilungen leitete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein Verfahren zur Aberkennung des dem Mitbeteiligten früher zuerkannten Status des subsidiär Schutzberechtigten ein. Der Mitbeteiligte gab in diesem Verfahren eine Stellungnahme ab.

12       Mit Bescheid vom 20. März 2020 sprach das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aus, dass dem Mitbeteiligten der Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 2 AsylG 2005 von Amts wegen aberkannt, ihm die befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 entzogen, der Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 abgewiesen, ihm kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung sowie ein auf die Dauer von acht Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen und eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt werde. Weiters sprach die Behörde aus, dass festgestellt werde, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Mitbeteiligten nach Nigeria gemäß § 9 Abs. 2 AsylG 2005 iVm § 52 Abs. 9 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) nicht zulässig sei.

13       Mit Erkenntnis vom 16. Juni 2020 wies das Bundesverwaltungsgericht die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde ohne Durchführung der vom Mitbeteiligten beantragten Verhandlung ab.

14       Dieses Erkenntnis hob der Verwaltungsgerichtshof aufgrund der vom Mitbeteiligten erhobenen Revision mit dem eingangs erwähnten Erkenntnis vom 22. Oktober 2020, Ra 2020/20/0274, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften auf. Maßgeblich für die Aufhebung war, dass das Bundesverwaltungsgericht - soweit es die Feststellungen zur Beurteilung der Voraussetzungen des § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 betroffen hatte - rechtswidrig von der Durchführung einer Verhandlung abgesehen sowie in Bezug auf die Prüfung, ob die Voraussetzungen nach § 9 Abs. 2 Z 2 oder Z 3 AsylG 2005 gegeben waren, den entscheidungsmaßgeblichen Sachverhalt nicht vollständig festgestellt hatte.

15       Das Bundesverwaltungsgericht führte im fortgesetzten Verfahren eine Verhandlung durch. Mit Erkenntnis vom 31. Mai 2021 änderte es jenen Ausspruch der Behörde, mit dem der Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung abgewiesen worden war, dahingehend ab, dass die Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 um zwei Jahre verlängert wurde. Die übrigen im Bescheid enthaltenen Aussprüche wurden ersatzlos behoben. Unter einem sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

16       Das Bundesverwaltungsgericht ging davon aus, die Voraussetzungen für die Aberkennung des Status des Asylberechtigten seien nicht erfüllt. Der Mitbeteiligte sei zwar wegen schweren Raubes und somit aufgrund „eines ‚typischer Weise‘ schweren Delikts“ verurteilt worden. Es habe sich aber um eine Jugendstraftat gehandelt und die verhängte Strafe habe lediglich ein Drittel der zulässigen Höchststrafe betragen. Schon infolge des Ausmaßes der verhängten Strafe sei davon auszugehen, dass das begangene Delikt objektiv und subjektiv als nicht schwerwiegend einzustufen sei. Auch die Tatumstände, wonach der Mitbeteiligte zwar körperliche Gewalt gegen die Opfer ausgeübt habe, aber die Verletzungen der Opfer nicht besonders schwer gewesen und die Taten auch nicht „von langer Hand“ geplant worden seien, führten dazu, dass „die begangene Tat“ als nicht besonders schwerwiegend anzusehen sei. Weiters habe der Mitbeteiligte einen „tiefen Gesinnungswandel gezeigt“, weshalb er nicht mehr als gemeingefährlich einzustufen sei. Er habe nämlich gegenüber dem Bundesverwaltungsgericht, seinem Wohnbetreuer, dem Bewährungshelfer und dem gesetzlichen Vertreter mehrfach zum Ausdruck gebracht, seine Taten zutiefst zu bereuen und seine Fehler einzusehen. Auch dass er sich um psychotherapeutische und medikamentöse Behandlung seiner psychischen Beschwerden bemühe, den Pflichtschulabschluss nachgeholt und sich erfolgreich um eine Lehrstelle - mit Beginn der Tätigkeit ab Juni 2021 - bemüht habe, spreche für den Wegfall der Gefährlichkeit. Somit lägen die Voraussetzungen für die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach „§ 9 Abs. 2 und 3 AsylG“ 2005 nicht vor.

17       Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl. Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Vorlage derselben sowie der Verfahrensakten durch das Bundesverwaltungsgericht das Vorverfahren eingeleitet. Der Mitbeteiligte hat eine Revisionsbeantwortung erstattet.

18       Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision erwogen:

19       Die Revision ist - wie im Folgenden gezeigt wird und anders als der Mitbeteiligte in der Revisionsbeantwortung meint - aus den von der revisionswerbenden Behörde geltend gemachten Gründen zulässig. Sie ist auch begründet.

20       Das Bundesverwaltungsgericht bezieht sich in seinen Überlegungen - was auch durch die von ihm zitierte Rechtsprechung erhärtet wird - auf den in § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 enthaltenen Tatbestand, wonach für die Aberkennung des Status des Asylberechtigten gefordert ist, dass der Fremde von einem inländischen Gericht (oder einem ausländischen Gericht, wenn die Voraussetzungen des § 73 StGB gegeben sind) wegen eines besonders schweren Verbrechens rechtskräftig verurteilt worden ist und wegen dieses strafbaren Verhaltens eine Gefahr für die Gemeinschaft bedeutet. Das Verwaltungsgericht verweist in seinen Erwägungen auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 6. Oktober 1999, 99/01/0288. Dieses Erkenntnis erging zu § 13 Abs. 2 zweiter Fall Asylgesetz 1997. Dabei handelte es sich um eine wortidente Vorläuferbestimmung des § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005. Sodann nimmt das Verwaltungsgericht inhaltlich eine Prüfung anhand der dort angeführten Kriterien vor, insbesondere ob eine Verurteilung wegen eines „besonders schweren Verbrechens“ (iSd § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005) gegeben sei.

21       Im gegenständlichen Fall hatte das Bundesverwaltungsgericht aber zu prüfen, ob einer der in § 9 Abs. 2 Z 2 oder Z 3 AsylG 2005 genannten Gründe, wonach der Status des subsidiär Schutzberechtigten abzuerkennen ist, gegeben ist.

22       Nach § 9 Abs. 2 AsylG 2005 hat eine Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, wenn er nicht schon aus den Gründen des § 9 Abs. 1 AsylG 2005 abzuerkennen ist, (u.a.) dann zu erfolgen, wenn der Fremde eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Republik Österreich darstellt (Z 2) oder der Fremde von einem inländischen Gericht (einer solchen ist eine Verurteilung durch ein ausländisches Gericht gleichzuhalten, die den Voraussetzungen des § 73 StGB entspricht) wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt worden ist (Z 3).

23       Darauf und auf die für die diesbezüglich vorzunehmende Prüfung maßgebliche Rechtsprechung hat der Verwaltungsgerichtshof bereits in seinem - die im ersten Rechtsgang seitens des Bundesverwaltungsgerichts ergangene Entscheidung betreffenden - Erkenntnis Ra 2020/20/0274 hingewiesen. Dazu kann gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen werden.

24       Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht der vom Verwaltungsgerichtshof in diesem Erkenntnis geäußerten Rechtsansicht insoweit Rechnung getragen, als es im fortgesetzten Verfahren eine Verhandlung durchgeführt hat. Jedoch hat der Verwaltungsgerichtshof - auch im Zusammenhang mit dem im ersten Rechtsgang rechtswidrigen Unterbleiben der Verhandlung - zudem betont, dass für eine dem Gesetz entsprechende Beurteilung, ob einer der in § 9 Abs. 2 Z 2 oder Z 3 AsylG 2005 enthaltenen Gründe erfüllt sei, die bisher vom Bundesverwaltungsgericht geschaffenen Entscheidungsgrundlagen unzureichend seien.

25       Eine solche Verbreiterung der Entscheidungsgrundlagen ist aber im fortgesetzten Verfahren - offenkundig, weil das Bundesverwaltungsgericht meinte, es hätte maßgeblich jene Kriterien zu prüfen, die in der Rechtsprechung für die Anwendung des § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 aufgestellt wurden - nur unzureichend erfolgt. Feststellungen zu den Taten und den Umständen der Tat fehlen gänzlich. Insoweit belässt es das Verwaltungsgericht im Wesentlichen bei der Wiedergabe der Urteilsdaten. Die sich in der rechtlichen Beurteilung auf die Tatumstände der Raubdelikte beziehenden Aussagen des Bundesverwaltungsgerichts können somit mangels dazu getroffener Feststellungen nicht nachvollzogen werden. Sie sind auch nicht ohne Weiteres mit dem Akteninhalt in Einklang zu bringen, weil sich aus der in den Verfahrensakten einliegenden Kopie des Urteils des Landesgerichts Salzburg vom 10. Dezember 2019 (u.a.) ergibt, dass der Mitbeteiligte einem Opfer Faustschläge versetzt und ein als Waffe verwendetes Messer an den Hals gesetzt hatte, wodurch das Tatopfer Verletzungen an Nase, Kiefer und Kopf davongetragen hatte, sowie dass er einem anderen Tatopfer Schläge und Tritte versetzt hatte, die eine Platzwunde im Gesicht und zumindest eine Woche lang anhaltende Schmerzen im Bereich der Rippen und eines Armes hervorgerufen hatten. Weiters blendet das Bundesverwaltungsgericht in seinen rechtlichen Überlegungen aus, dass der Mitbeteiligte wiederholt wegen Körperverletzungsdelikten verurteilt worden war, wobei eine dieser Verurteilungen auf die Tatbegehung einer versuchten schweren Körperverletzung nach § 84 Abs. 4 StGB gestützt worden war. Sohin waren die bisherigen Taten des Mitbeteiligten - ausgehend von der bisherigen Aktenlage - stets von erheblichen Gewalttätigkeiten gegen andere Menschen gekennzeichnet.

26       Im Besonderen stellt sich der Rechtsirrtum des Verwaltungsgerichts aber auch für die Prüfung des in § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 enthaltenen Tatbestandes als wesentlich dar. Dazu hat der Verwaltungsgerichtshof im den Mitbeteiligten betreffenden Erkenntnis Ra 2020/20/0274 - auch mit Hinweis auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union - ausgeführt, es sei die ordnungsgemäße Ermittlung jener Gegebenheiten notwendig, die die Beurteilung ermöglichten, ob der Zweck dieses Ausschlussgrundes, der darin besteht, jene Personen, die als des subsidiären Schutzes unwürdig anzusehen sind, von diesem Status auszuschließen, der Beibehaltung des Status des subsidiär Schutzberechtigten im Fall des Mitbeteiligten entgegenstehe.

27       Dem ist das Bundesverwaltungsgericht überhaupt nicht nachgekommen. Eine Beurteilung, ob davon auszugehen sei, der Mitbeteiligte sei aufgrund seines Verhaltens und der daraus resultierenden Verurteilung unwürdig, den ihm früher zuerkannten Status als subsidiär Schutzberechtigter beizubehalten, hat das Bundesverwaltungsgericht gänzlich unterlassen (vgl. dazu, dass es nach § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 gerade nicht auf die Prognose ankommt, ob weiterhin eine vom Fremden ausgehende Gefahr vorliegt, auch VwGH 22.10.2020, Ro 2020/20/0001). Auch in diesem Punkt führt das - auf die Verkennung der Rechtslage zurückzuführende - Unterlassen der Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts zu den vom Mitbeteiligten gesetzten strafbaren Handlungen dazu, dass sich die nach dem Gesetz vorzunehmende Beurteilung als nicht möglich darstellt.

28       Sollte das Bundesverwaltungsgericht - was anhand der Ausführungen im anzufechtenden Erkenntnis nicht auszuschließen ist - die Ansicht vertreten, eine Aberkennung nach § 9 Abs. 2 AsylG 2005 erfordere, dass die in den Z 1 bis Z 3 enthaltenen Tatbestände kumulativ erfüllt sein müssten, ist es darauf hinzuweisen, dass eine solche Sichtweise nicht der Rechtslage entspricht. Für die Aberkennung nach § 9 Abs. 2 AsylG 2005 ist es hinreichend, dass einer der in den Z 1 bis Z 3 enthaltenen Tatbestände gegeben ist (sh. das in der Z 2 enthaltene Verbindungswort „oder“).

29       Aus dem Gesagten ergibt sich letztlich auch, dass das Bundesverwaltungsgericht der gemäß § 63 Abs. 1 VwGG bestehenden Pflicht, in der betreffenden Rechtssache mit den ihm zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzüglich den der im Vorerkenntnis Ra 2020/20/0274 geäußerten Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechenden Rechtszustand herzustellen, nicht nachgekommen ist (vgl. zu dieser Pflicht etwa VwGH 2.7.2021, Ra 2019/13/0088; 13.7.2021, Ra 2021/01/0061, jeweils mwN).

30       Das Bundesverwaltungsgericht wird im Übrigen für das (weiterhin) fortzusetzende Verfahren - vor dem Hintergrund jener Gründe, die zur Zuerkennung des Status des Mitbeteiligten geführt haben - darauf hingewiesen, dass einer Prüfung der Aberkennungsgründe nach § 9 Abs. 2 AsylG 2005 die Prüfung der in § 9 Abs. 1 AsylG 2005 genannten Gründe voranzugehen hat (vgl. zur Prüfreihenfolge und der Sache des Beschwerdeverfahrens im Fall der Aberkennung von subsidiärem Schutz nach § 9 AsylG 2005, VwGH 17.10.2019, Ro 2019/18/0005).

31       Das angefochtene, mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastete Erkenntnis war sohin aus dem - vorrangig wahrzunehmenden - erstgenannten Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

32       Bei diesem Ergebnis war dem Mitbeteiligten gemäß § 47 Abs. 3 VwGG kein Aufwandersatz für die Erstattung der Revisionsbeantwortung zuzusprechen.

Wien, am 20. Oktober 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021200252.L00

Im RIS seit

16.11.2021

Zuletzt aktualisiert am

16.11.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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