Entscheidungsdatum
16.08.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W261 2149908-2/9E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, vom 04.07.2018, Zl. XXXX , zu Recht:
A)
Der Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 68 Abs. 1 AVG stattgegeben und der angefochtene Bescheid wird behoben.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer stellte erstmals am 05.12.2015 gemeinsam mit seiner Ehegattin und seinen zwei minderjährigen Söhnen einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Am selben Tag fand die Erstbefragung des Beschwerdeführers vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab er im Wesentlichen an, afghanischer Staatsangehöriger und schiitischer Muslim zu sein, der Volksgruppe der Ghezelbash anzugehören und die letzten 25 Jahre im Iran gelebt zu haben, da seine Eltern Probleme in Kabul gehabt und Afghanistan verlassen hätten müssen. Den Iran habe er verlassen, da er und seine Familie sich dort illegal aufgehalten hätten, die Kinder nicht zur Schule gehen hätten können und seine Frau sich nach einem Autounfall im Iran nicht richtig behandeln lassen habe können.
3. Die Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden belangte Behörde) fand am 19.12.2016 statt. Dabei gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, dass er in Kabul geboren sei und Afghanistan im Alter von 15 Jahren mit seinen Eltern in Richtung Iran verlassen habe, da es Erbschaftsstreitigkeiten über ein Grundstück mit einem Onkel gegeben habe. Aufgrund der Streitigkeiten habe der Onkel geplant, jemanden aus der Familie als Geisel zu nehmen. Im Iran habe er bis zu seiner Ausreise Richtung Österreich in der Stadt XXXX gelebt. Er habe am 05.02.2000 XXXX , geb. XXXX , geheiratet. Die Heirat habe im Iran stattgefunden und er habe mit seiner Ehegattin ausschließlich im Iran gelebt. In Afghanistan habe er nie Probleme aufgrund seiner Religion, Rasse, Nationalität oder politischen Gesinnung gehabt. Den Iran habe er verlassen, da er Geld, welches er sich geliehen habe, nicht zurückgeben habe können, seine Kinder nicht die Schule besuchen hätten können und aufgrund des Autounfalls seiner Frau.
4. Mit Bescheid vom 09.02.2017 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine bis zum 09.02.2018 befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.).
Begründend führte die Behörde hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten im Wesentlichen aus, dass sich aus den Ausführungen des Beschwerdeführers keine individuelle asylrelevante Verfolgungsgefährdung erkennen lasse und seine Schilderungen nicht glaubhaft seien. Er habe Afghanistan verlassen, weil er sich im Iran eine verbesserte Lebenssituation mit seiner Familie erhofft habe.
Auch betreffend die Anträge der Ehegattin und nunmehr drei minderjährigen Kinder des Beschwerdeführers wurde mit Bescheiden vom 09.02.2017 inhaltsgleich entschieden.
5. Mit Eingabe vom 17.02.2017 erhoben der Beschwerdeführer und seine Familienmitglieder fristgerecht Beschwerde gegen Spruchpunkt I. dieser Bescheide.
6. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 18.04.2017 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der der Beschwerdeführer, seine Ehegattin und sein ältester Sohn einvernommen wurden. Der Beschwerdeführer gab dabei im Wesentlichen an, afghanischer Staatsangehöriger zu sein, am XXXX in Kabul geboren und im 15. Lebensjahr in den Iran gezogen zu sein. Seine Eltern hätten Afghanistan wegen eines Streits zwischen seinem Vater und dessen Bruder über ein Grundstück, welches zwischen den Geschwistern aufgeteilt worden sei, verlassen. Im Zuge der Streitigkeiten habe der Onkel gedroht, den Vater umzubringen bzw. zu entführen. Vor sechs Jahren sei sein Bruder nach Afghanistan zurückgekehrt und daraufhin verschollen. Im Iran habe er im Jahr 2000 seine Cousine mütterlicherseits, XXXX (Mädchenname: XXXX ), geheiratet und mit ihr in der Stadt XXXX gelebt. Dort habe er, weil er keine Arbeitserlaubnis gehabt habe, als Straßenhändler gearbeitet. Den Iran habe er schließlich verlassen, da er keine Dokumente gehabt und sich Geld für die Behandlung seiner Frau ausgeborgt habe. Auch hätten seine Kinder nicht in die Schule gehen können und er wolle ihnen eine bessere Zukunft bieten. Von Nachbarn habe er gehört, dass seine Cousins der Familie nichts Gutes wollen. Als Zugehöriger der Volksgruppe der Quiselbash und als schiitischer Muslim sei er zusätzlich einer Gefahr ausgesetzt. In Österreich kümmere er sich gemeinsam mit seiner Frau um die Kinder. Wichtige Entscheidungen würden er und seine Ehegattin gemeinsam treffen.
7. Mit Erkenntnissen vom 17.05.2017 und 22.05.2017, Zl. W255 2149911-1/7E ua, gab das Bundesverwaltungsgericht den Beschwerden der Ehegattin und der drei minderjährigen Kinder des Beschwerdeführers statt und erkannte ihnen gemäß § 3 Abs. 1 (bezüglich die Kinder: iVm. § 34 Abs. 2) AsylG 2005 den Status der Asylberechtigten zu.
Begründend führte das Gericht im Wesentlichen aus, dass es sich bei der Ehegattin des Beschwerdeführers um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau handle, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als „westlich“ bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert sei. Aus diesem Grund drohe ihr in Afghanistan asylrelevante Verfolgung. Ihren minderjährigen Kindern sei im Wege des Familienverfahrens derselbe Schutz zu gewähren.
8. Mit Erkenntnis vom 27.07.2017, Zl. W255 2149908-1/10E, wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde des Beschwerdeführers als unbegründet ab.
Begründend führte das Gericht im Wesentlichen aus, es könne nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan Verfolgung seitens der Familie väterlicherseits aufgrund von Grundstücksstreitigkeiten oder Verfolgung aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Quiselbash (Quezelbash) ausgesetzt gewesen sei oder im Falle der Rückkehr sein würde. Auch aus anderen Gründen könne nicht erkannt werden, dass ihm im Herkunftsstaat asylrelevante Verfolgung drohe. Der Beschwerdeführer sei auch kein Familienangehöriger seiner Ehegattin iSd § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005, da die Ehe ausschließlich im Iran, nicht aber im Herkunftsstaat bestanden habe.
9. Eine gegen dieses Erkenntnis erhobene außerordentliche Revision des Beschwerdeführers wurde mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 22.11.2017, Zl. Ra 2017/19/0355-8, zurückgewiesen.
10. Am 29.01.2018 stellte der Beschwerdeführer den gegenständlichen (zweiten) Antrag auf internationalen Schutz. Am selben Tag fand seine Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Dabei gab er im Wesentlichen an, seine Asylgründe blieben aufrecht. Seine Ehefrau und Kinder hätten hier Asyl bekommen und er nur subsidiären Schutz. Er möchte den gleichen Schutz wie seine Familienangehörigen. Im Fall seiner Rückkehr habe er Angst, von seinem Onkel väterlicherseits umgebracht zu werden.
11. Die Einvernahme vor der belangten Behörde fand am 09.05.2018 statt. Dabei gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, er habe seine Ehegattin XXXX 1378 (= 1999/2000) im Iran geheiratet und habe mit ihr drei Kinder. Seine Ehegattin sei in Österreich asylberechtigt. Wenn er nach Afghanistan gehe, würden sie dadurch, dass Schiiten eine sehr schlecht angesehene Religionszugehörigkeit seien, schlechte Zeiten erleben. Auch da sie Gezelbash seien, seien sie sehr schlecht angesehen und bedroht. Den Folgeantrag habe er gestellt, weil seine Kinder ständig fragen würden, warum ihre Mutter einen Pass habe und er nur ein Visum. Auch andere Leute hätten ihn gefragt, warum er keinen Pass habe. Es störe ihn, dass er einen niedrigeren Status gegenüber seiner Frau und nicht die Macht habe. Seine alten Fluchtgründe würden aufrecht bleiben. Wenn er einen Fuß nach Afghanistan setze, würde ihn sein Onkel umbringen.
12. Mit verfahrensgegenständlichem Bescheid vom 04.07.2018 wies die belangte Behörde den Antrag auf internationalen Schutz vom 29.01.2018 hinsichtlich des Status des Asylberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurück (Spruchpunkt I.).
Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, der Beschwerdeführer habe im Zuge seines gegenständlichen zweiten Rechtsganges seine bisher vorgebrachten Fluchtgründe aufrecht erhalten. Zudem habe er ausgeführt, dass seine Ehefrau und Kinder Asyl bekommen hätten und er den gleichen Schutz wie seine Familienangehörigen wolle. Soweit er die Fluchtgründe seines ersten Rechtsganges aufrecht halte, liege zweifelsfrei entschiedene Sache vor, da er im Ergebnis die erneute Behandlung einer bereits rechtskräftig entschiedenen Sache bezwecke. Er habe diesbezüglich im gegenständlichen Verfahren keine Änderungen vorgebracht. Im Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27.07.2017 sei auch ausführlich ausgeführt worden, dass der Beschwerdeführer kein Familienangehöriger seiner Ehegattin iSd § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 sei, da die Ehe ausschließlich im Iran und nicht im Herkunftsstaat bestanden habe. Er sei Familienangehöriger seiner drei minderjährigen Kinder, von diesen könne er den Schutzstatus jedoch gemäß § 34 Abs. 6 Z 2 AsylG 2005 nicht ableiten. Die Behörde gelange im Ergebnis zur Ansicht, dass ein neuer Sachverhalt nicht vorliege, sondern es sich um eine entschiedene Sache iSd § 68 Abs. 1 AVG handle.
13. Mit Eingabe vom 13.08.2018 erhob der Beschwerdeführer gegen diesen Bescheid durch seine bevollmächtigte Vertretung fristgerecht Beschwerde. Darin wurde im Wesentlichen vorgebracht, eine entschiedene Sache iSd § 68 Abs. 1 AVG liege vor, wenn sich gegenüber dem Vorbescheid weder die Rechtslage noch der wesentliche Sachverhalt geändert habe. Berufe sich die Partei zu Recht auf eine neue Rechtslage, könne ihr – selbst wenn der nunmehrige mit dem ursprünglich eingebrachten Antrag ident sei – nicht entgegengehalten werden, dass res iudicata vorliege, weil es sich infolge der geänderten Rechtslage in rechtlicher Hinsicht um eine andere Sache handle. Wie bereits die Behörde und das Bundesverwaltungsgericht festgestellt hätten, sei die Eheschließung des Beschwerdeführers mit seiner mittlerweile asylberechtigten Ehefrau im Iran erfolgt, bevor die Familie nach Österreich gereist sei. Rechtliche Grundlage der Entscheidung hinsichtlich des ersten Antrages auf internationalen Schutz vom 05.12.2015 sei das AsylG 2005 vor dem Fremdenrechtsänderungsgesetz 2017 gewesen, wonach gemäß § 34 Abs. 2 iVm § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 darauf abgestellt worden sei, dass die Ehe bereits „im Herkunftsland“ bestanden habe. Dementsprechend sei dem Beschwerdeführer kein Asyl gewährt worden. Demgegenüber sei sein neuerlicher Asylantrag vom 29.01.2018 nunmehr auf Grundlage der geänderten Rechtslage zu beurteilen. Der seit 01.11.2017 geltende § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 bestimme, dass die Ehe bereits „vor der Einreise“ bestanden haben müsse. Diese Voraussetzung erfülle der Beschwerdeführer. Die Behörde habe sich in ihrer Entscheidung an keiner Stelle mit der Änderung der Rechtslage auseinandergesetzt und sich weiter auf die alte – nicht mehr anzuwendende – Rechtslage gestützt. Da sich die Rechtslage maßgeblich geändert habe, könne nicht von einer Identität der Sache gemäß § 68 AVG gesprochen werden. Dem Beschwerdeführer sei der Status des Asylberechtigten zu gewähren.
14. Die belangte Behörde legte das Beschwerdeverfahren mit Schreiben vom 16.08.2018 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor, wo dieses am 20.08.2018 in der Gerichtsabteilung W201 einlangte.
15. Mit Eingabe vom 05.12.2018 übermittelte die belangte Behörde ein Ersuchen des Standesamts- und Staatsbürgerschaftsverbands XXXX um Bekanntgabe des Familienstandes des Beschwerdeführers.
16. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 29.06.2021 wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung W201 abgenommen und in weiterer Folge der Gerichtsabteilung W261 neu zugewiesen, wo dieses am 07.07.2021 einlangte.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen
Die unter Punkt I. getroffenen Ausführungen werden als entscheidungswesentlicher Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende Feststellungen getroffen:
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Angehöriger der Volksgruppe der Quiselbash und schiitischer Muslim. Seine Muttersprache ist Dari.
Er wurde in Kabul geboren und übersiedelte im Alter von ca. 15 Jahren gemeinsam mit seinen Eltern in den Iran, wo er bis zu seiner Ausreise Anfang 2015 lebte.
Der Beschwerdeführer hat im Jahr 2000 im Iran die afghanische Staatsangehörige XXXX , geb. XXXX , geheiratet. Dieser Ehe entstammen die im Iran geborenen Söhne XXXX , geb XXXX und XXXX , geb. XXXX alias XXXX , sowie die in Österreich geborene Tochter XXXX , geb XXXX .
Der Ehegattin des Beschwerdeführers wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 17.05.2017, Zl. W255 2149911-1/7E, der Status der Asylberechtigten zuerkannt.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
2. Beweiswürdigung
Der festgestellte Verfahrensgang ergibt sich aus dem Inhalt der vorliegenden Verwaltungs- und Gerichtsakten.
Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des Beschwerdeführers gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des Beschwerdeführers im Asylverfahren.
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seiner Muttersprache und seinem Lebenslauf gründen sich auf seine diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben sowie die vorgelegten Nachweise. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren (und schon im Vorverfahren) gleich gebliebenen bzw. nachvollziehbar aktualisierten Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln.
Auch die Feststellungen zu den Familienmitgliedern des Beschwerdeführers und seiner Eheschließung im Iran ergeben sich aus seinen diesbezüglich stets gleichlautenden Angaben, an denen weder im Vorverfahren noch im gegenständlichen Verfahren Zweifel aufgekommen sind. Inhaltsgleiche Feststellungen wurden bereits im rechtskräftigen Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27.07.2017, Zl. W255 2149908-1/10E, und im angefochtenen Bescheid der belangten Behörde getroffen.
Die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten an die Ehegattin des Beschwerdeführers ergibt sich aus dem genannten Erkenntnis.
Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.
3. Rechtliche Beurteilung
Zu A) Stattgabe der Beschwerde:
3.1. Gemäß § 68 Abs. 1 AVG sind Anbringen von Beteiligten, die außer den Fällen der §§ 69 und 71 AVG die Abänderung eines der Berufung nicht oder nicht mehr unterliegenden Bescheides begehren, wenn die Behörde nicht den Anlass zu einer Verfügung gemäß § 68 Abs. 2 bis 4 AVG findet, wegen entschiedener Sache zurückzuweisen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes steht die Rechtskraft einer Entscheidung einem neuerlichen Antrag entgegen, wenn keine relevante Änderung der Rechtslage oder des Begehrens vorliegt und in dem für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt keine Änderung eingetreten ist (vgl. VwGH 29.06.2015, Ra 2015/18/0122).
Die objektive (sachliche) Grenze dieser Wirkung der Rechtskraft wird durch die „entschiedene Sache“, also durch die Identität der Verwaltungssache, über die bereits mit einem formell rechtskräftigen Bescheid abgesprochen wurde, mit der im neuen Antrag intendierten bestimmt (vgl. VwGH 17.02.2015, Ra 2014/09/0029).
Res judicata gemäß § 68 Abs 1 AVG liegt nur dann vor, wenn seit Erlassung des ersten Bescheides die maßgebende Sach- und Rechtslage in den entscheidungswichtigen Punkten unverändert geblieben ist. Die Sache verliert hingegen ihre Identität, wenn in den entscheidungsrelevanten Fakten bzw. in den die Entscheidung tragenden Normen wesentliche, das heißt die Erlassung eines inhaltlich anderslautenden Bescheides ermöglichende oder gebietende Änderungen eintreten. Es kann dabei nur eine solche Änderung des Sachverhaltes die Behörde zu einer neuen Sachentscheidung berechtigen und verpflichten, die für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen den Schluss zulässt, dass nunmehr eine andere rechtliche Beurteilung nicht von vornherein als ausgeschlossen gelten kann. Dabei ist das Wesen der Sachverhaltsänderung nicht nach der objektiven Rechtslage, sondern nach der Wertung zu beurteilen, die das geänderte Sachverhaltselement in der seinerzeitigen rechtskräftigen Entscheidung erfahren hat. (vgl. VwGH 18.05.2004, Zl. 2001/05/1152).
Sache des gegenständlichen Verfahrens ist allein die verfahrensrechtliche Frage, ob die belangte Behörde die Zurückweisung zu Recht vorgenommen hat. Es ist der Beschwerdeinstanz diesfalls verwehrt, erstmals – unter Übergehen einer Instanz – den eigentlichen Verfahrensgegenstand einer meritorischen Erledigung zuzuführen (vgl. dazu etwa VwGH 09.11.2010, 2007/21/0493, mit Verweis auf VwGH 15.06.1987, 86/10/0168; VwGH 29.05.2009, 2007/03/0157 sowie auch VfGH vom 18.06.2014, G 5/2014-9 zu § 28 VwGVG).
3.2. Gemäß § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG idF vor BGBl. I Nr. 145/2017 war Familiengehöriger, soweit hier wesentlich, wer Ehegatte eines Asylwerbers oder eines Fremden ist, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten zuerkannt wurde, sofern die Ehe bereits im Herkunftsstaat bestanden hat.
Gemäß § 2 Abs. 1 Z 22 lit. b AsylG 2005 idgF ist Familienangehöriger, wer Ehegatte oder eingetragener Partner eines Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten ist, sofern die Ehe oder eingetragene Partnerschaft bereits vor der Einreise bestanden hat.
Gemäß § 34 Abs. 2 leg. cit. hat die Behörde auf Grund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn dieser nicht straffällig geworden ist (Z 1) und gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status (§ 7) anhängig ist (Z 3).
3.3. Sowohl die belangte Behörde als auch das Bundesverwaltungsgericht sind im ersten Asylverfahren des Beschwerdeführers – nach der damaligen Rechtslage zurecht – davon ausgegangen, dass es sich bei ihm um keinen Familienangehörigen seiner Ehegattin iSd § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 handelt, weil die Ehe nur im Iran, nicht aber im Herkunftsstaat Afghanistan bestanden hat. Entsprechend wurde dem Beschwerdeführer auch nicht im Wege des Familienverfahrens gemäß § 34 Abs. 2 AsylG 2005 der seiner Ehegattin zuerkannte Status der Asylberechtigten gewährt.
Wie die Beschwerde zurecht ausführt, hat sich die diesbezüglich maßgebliche Rechtslage aber mit dem Fremdenrechtsänderungsgesetz 2017 (FrÄG 2017, BGBl. I Nr. 145/2017) geändert: Seither ist Voraussetzung für die Angehörigeneigenschaft von Ehegatten nur noch, dass die Ehe „vor der Einreise“ bestanden hat. Dies ist im Fall des Beschwerdeführers und seiner Ehegattin, die im Jahr 2000 im Iran geheiratet haben, unstrittig der Fall.
Die angesprochene Änderung des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005 trat mit 01.11.2017, somit nach rechtskräftigem Abschluss des ersten Asylverfahrens mit Erkenntnis vom 27.07.2017, in Kraft. Auf den gegenständlichen, am 29.01.2018 gestellten (zweiten) Asylantrag des Beschwerdeführers wäre die neue Rechtslage jedoch bereits anzuwenden gewesen und, da auch keine Hinweise auf das Vorliegen von Ausschlussgründen nach § 34 Abs. 2 Z 1 oder 3 AsylG 2005 bestehen, diesem der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen gewesen. Dies hat die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid, der sich erkennbar weiterhin auf die Rechtslage vor dem FrÄG 2017 stützt (vgl. AS 470), übersehen.
Da in den die Entscheidung im ersten Asylverfahren tragenden Normen somit wesentliche, das heißt die Erlassung eines inhaltlich anderslautenden Bescheides ermöglichende oder gebietende Änderungen eingetreten sind, liegt gegenständlich keine idente, bereits entschiedene Sache mehr vor (vgl. VwGH 18.05.2004, Zl. 2001/05/1152).
Die Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des Asylberechtigten gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache erfolgte somit zu Unrecht, weswegen der Beschwerde spruchgemäß stattzugeben und der angefochtene Bescheid zu beheben war.
Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG konnte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterbleiben.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil die Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, wenn es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehlt oder wenn die Frage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird bzw. sonstige Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vorliegen.
In der Beschwerde findet sich kein Hinweis auf das Bestehen von Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit dem gegenständlichen Verfahren und sind solche auch aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht gegeben. Die Entscheidung folgt der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.
Schlagworte
Behebung der Entscheidung entschiedene Sache Kassation Voraussetzungen Wegfall der GründeEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2021:W261.2149908.2.00Im RIS seit
15.11.2021Zuletzt aktualisiert am
15.11.2021