TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/3 W227 2198596-1

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Veröffentlicht am 03.09.2021
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Entscheidungsdatum

03.09.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28

Spruch


W227 2198596-1/33E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin WINTER über die Beschwerde des afghanischen Staatsangehörigen XXXX , geboren am XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 15. Mai 2018, Zl. 1121066704-160919535, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 Asylgesetz 2005 (AsylG) als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX wird gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter für die Dauer von einem Jahr erteilt.

III. Die Spruchpunkte III. bis VIII. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger schiitischen Glaubens und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen. Er stellte am 2. Juli 2016 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 27. November 2017, rechtskräftig seit 27. November 2017, verurteilte das Landesgericht XXXX den Beschwerdeführer wegen des Vergehens der Unterlassung der Verhinderung einer mit Strafe bedrohten Handlung nach § 286 Abs. 1 StGB sowie des Vergehens der Hehlerei nach § 164 Abs. 1 und 2 StGB und behielt sich den Ausspruch der Strafe gemäß § 13 JGG für eine Probezeit von drei Jahren vor.

3. Auf Anregung des BFA übertrug das Bezirksgericht XXXX mit Beschluss vom 21. Dezember 2017 die Obsorge über den Beschwerdeführer auf dessen Schwester XXXX , geboren am XXXX .

4. Bei der Einvernahme vor dem BFA am 19. April 2018 gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass seine Eltern im Jahr 2014 bei einem Selbstmordanschlag in Kunduz getötet worden seien. Danach sei er zu seiner Tante väterlicherseits, ihrem Ehemann und deren Kindern gezogen, welche ebenfalls in der Provinz Kunduz gewohnt hätten. Er sei als Schiit vom sunnitischen Ehemann seiner Tante schlecht behandelt und geschlagen worden, hätte Tiere hüten müssen und nicht die Moschee besuchen dürfen. Er habe seiner Tante Geld gestohlen, um Afghanistan verlassen zu können und befürchte bei einer Rückkehr die Ermordung durch ihren Ehemann.

5. Mit dem (hier) angefochtenen Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status als Asylberechtigter (Spruchpunkt I.) sowie des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.), gewährte ihm eine Frist von vierzehn Tagen für eine freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI.), stellte fest, dass der Beschwerdeführer das Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet verloren habe (Spruchpunkt VII.) und erließ gegen ihn ein auf die Dauer von 18 Monaten befristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt VIII.).

Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, der Beschwerdeführer habe Afghanistan verlassen, weil er von seinem Onkel schlecht behandelt worden sei. Er habe – im Gegensatz zu seinen Angehörigen – keinerlei Bedrohungen durch die Taliban vorgebracht. Auch habe er keine sonstige – ihn individuell betreffende – Verfolgungsgefahr glaubhaft machen können.

6. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde, in welcher er zusammengefasst vorbringt, die Behörde habe es unterlassen, seine Aussagen einer Beweiswürdigung zu unterziehen. Auch habe er sehr wohl eine Verfolgung durch die Taliban vorgebracht, da diese seine Eltern getötet hätten. Zudem habe ihn sein Onkel dazu zwingen wollen, sich den Taliban anzuschließen.

7. Mit Mandatsbescheid vom 15. März 2019 widerrief das BFA die mit dem angefochtenen Bescheid eingeräumte Frist für die freiwillige Ausreise.

8. Am 5. Juli 2019, rechtskräftig seit 9. Juli 2019, verurteilte das Bezirksgericht XXXX den Beschwerdeführer wegen des Vergehens des unbefugten Umgangs mit Suchtmitteln nach § 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall SMG sowie § 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall sowie Abs. 2 SMG zu einer Freiheitsstrafe von vier Wochen, welche unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

9. Am 23. Juli 2021 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, in welcher XXXX sowie ihrem Ehemann und ihren gemeinsamen Kindern der Status von Asylberechtigten zuerkannt wurde. Der Beschwerdeführer blieb dieser Verhandlung unentschuldigt fern.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zum Beschwerdeführer

1.1.1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, bekennt sich zum schiitisch-muslimischen Glauben, gehört der Volksgruppe Paschtunen an, wurde in XXXX , in der Provinz Kunduz, geboren und spricht Dari als seine Muttersprache.

In seiner Heimatprovinz besuchte er etwa fünf Jahre lang die Schule. Im Jahr 2014 wurden die Eltern des Beschwerdeführers bei einem Bombenanschlag auf das Krankenhaus in Kunduz zufällig getötet. Daraufhin zog der Beschwerdeführer zu seiner Tante väterlicherseits, welche nur unweit von XXXX lebte. Dort lebte der Beschwerdeführer bis zu seiner Ausreise im Jahr 2016. Er arbeitete als Hirte und wurde vom Ehemann seiner Tante schlecht behandelt. Um der schlechten Behandlung durch seine Tante und deren Ehemann zu entgehen, stahl der Beschwerdeführer ihnen Geld und verließ im Frühjahr 2016 Afghanistan.

Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Ehemann der Tante den Beschwerdeführer dazu drängte, sich den Taliban anzuschließen und er sich diesem Anschluss durch seine Flucht entzog.

Auf seiner Reise in Richtung Europa hielt sich der Beschwerdeführer unter anderem in der Türkei auf, wo er zufällig auf seine Schwester XXXX traf, zu der er zuvor zumindest zwei Jahre keinen Kontakt gehabt hatte. Gemeinsam reisten sie nach Österreich, wo sie gemeinsam am 2. Juli 2016 ihre Anträge auf internationalen Schutz stellten. Im Zeitpunkt der Antragstellung bestand zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Schwester kein Eltern-Kind-ähnliches Verhältnis.

1.1.2. Am 27. November 2017, rechtskräftig seit 27. November 2017, verurteilte das Landesgericht XXXX den Beschwerdeführer wegen des Vergehens der Unterlassung der Verhinderung einer mit Strafe bedrohten Handlung nach § 286 Abs. 1 StGB sowie des Vergehens der Hehlerei nach § 164 Abs. 1 und 2 StGB und behielt sich den Ausspruch der Strafe gemäß § 13 JGG für eine Probezeit von drei Jahren vor.

Am 5. Juli 2019, rechtskräftig seit 9. Juli 2019, verurteilte das Bezirksgericht XXXX den Beschwerdeführer wegen des Vergehens des unbefugten Umgangs mit Suchtmitteln nach § 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall SMG sowie § 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall sowie Abs. 2 SMG zu einer Freiheitsstrafe von vier Wochen, welche unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

1.1.3. Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.

1.2. Zur hier relevanten Situation in Afghanistan

Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:

-        Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan in der Fassung der Gesamtaktualisierung vom 11. Juni 2021

-        UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan, August 2021

1.2.1. Ethnische Gruppen

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 32 und 36 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht. Schätzungen zufolge sind: 40 bis 42% Paschtunen, 27 bis 30% Tadschiken, 9 bis 10% Hazara, 9% Usbeken, ca. 4% Aimaken, 3% Turkmenen und 2% Belutschen. Weiters leben in Afghanistan eine große Zahl an kleinen und kleinsten Völkern und Stämmen, die Sprachen aus unterschiedlichsten Sprachfamilien sprechen.

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: „Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimak, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane‘ wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet“. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnischen Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Artikel 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen zu haben, in denen sie eine Minderheit darstellen.

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag bestehen fort und werden nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen.

Paschtunen

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 40 % der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime (MRG o.D.e). Die Paschtunen haben viele Sitze in beiden Häusern des Parlaments - jedoch nicht mehr als 50 % der Gesamtsitze. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44 % in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert.

Paschtunen siedeln in einem halbmondförmigen Gebiet, das sich von Nordwestafghanistan über den gesamten Süden und die Gebiete östlich von Kabul bis in den Nordwesten Pakistans erstreckt. Kleinere Gruppen sind über das gesamte Land verstreut, auch im Norden des Landes, wo Paschtunen Ende des 19. Jahrhunderts speziell angesiedelt wurden und sich seitdem auch selbst angesiedelt haben.

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Paschtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen.

Die Taliban sind eine vorwiegend paschtunische Bewegung, werden aber nicht als nationalistische Bewegung gesehen. Die Taliban rekrutieren auch aus anderen ethnischen Gruppen. Die Unterstützung der Taliban durch paschtunische Stämme ist oftmals in der Marginalisierung einzelner Stämme durch die Regierung und im Konkurrenzverhalten oder der Rivalität zwischen unterschiedlichen Stämmen begründet.

(Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 11. Juni 2021, S. 302 ff)

1.2.2. Aktuelle Situation in Afghanistan

Als Folge des Rückzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan hat sich die Sicherheits- und Menschenrechtslage in großen Teilen des Landes rapide verschlechtert. Die Taliban haben in einer schnell wachsenden Anzahl an Provinzen die Kontrolle übernommen, wobei sich ihr Vormarsch im August 2021 nochmals beschleunigte, als sie 26 von 34 Provinzhauptstädten innerhalb von zehn Tagen einnahmen und schließlich den Präsidentenpalast in Kabul unter ihre Kontrolle brachten. Die stark zunehmende Gewalt hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern. UNHCR ist besorgt über die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung, einschließlich Frauen und Kindern, sowie an Afghan*innen, bei denen die Taliban davon ausgehen, dass sie mit der afghanischen Regierung oder den internationalen Streitkräften in Afghanistan oder mit internationalen Organisationen im Land in Verbindung stehen oder standen.

Aufgrund der Unbeständigkeit der Situation in Afghanistan hält UNHCR es nicht für angemessen, afghanischen Staatsangehörigen und Personen mit vormaligem gewöhnlichen Aufenthalt in Afghanistan internationalen Schutz mit der Begründung einer internen Flucht- oder Neuansiedlungsperspektive zu verwehren.

(UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan, August 2021, S. 1 f)

1.2.3. Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität.

Taliban

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde; nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt. Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten.

Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik einer eventuellen Regierung der Machtteilung, die die Taliban einschließt, zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab. Sie sehen sich nicht als bloße Rebellengruppe, sondern als eine Regierung im Wartestand und bezeichnen sich selbst als „Islamisches Emirat Afghanistan“, der Name, den sie benutzten, als sie von 1996 bis zu ihrem Sturz nach den Anschlägen vom 11.9.2001 an der Macht waren.

(Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 11. Juni 2021, S. 239 f)

2. Beweiswürdigung

Der festgestellte Sachverhalt stützt sich auf die im Rahmen der Feststellungen jeweils in Klammer angeführten Beweismittel und im Übrigen auf nachstehende Beweiswürdigung:

2.1. Die Feststellungen hinsichtlich der persönlichen Daten sowie der Lebenssituation des Beschwerdeführers in Afghanistan beruhen auf den Angaben des Beschwerdeführers vor dem BFA sowie der Aussage der Schwester des Beschwerdeführers im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht (VHS vom 23. Juli 2021, S. 5 ff).

2.2. Dass der Beschwerdeführer Afghanistan (bloß deshalb) verließ, um der schlechten Behandlung durch seine Tante und deren Ehemann zu entgehen, ergibt sich aus den Angaben des Beschwerdeführers vor dem BFA (AS 157) sowie aus der Aussage der Schwester des Beschwerdeführers, welche zum Fluchtgrund ihres Bruders befragt, angab:

„Mein Bruder hat erzählt, dass der Ehemann meiner Tante ihn schlecht behandelt hat. Er musste immer für ihn arbeiten und musste sich vorwiegend um das Vieh kümmern. Er durfte nicht mehr zur Schule gehen. Hätten meine Tante und ihr Ehemann meinen Bruder wie ihr Kind behandelt, wäre er nicht geflüchtet.“ (VHS vom 23. Juli 2021, S. 9).

Diesen glaubwürdigen und nachvollziehbaren Angaben des Beschwerdeführers und seiner Schwester steht die – erstmals in der Beschwerde vorgebrachte – Behauptung gegenüber, die Tötung der Eltern sowie Rekrutierungsversuche durch den Ehemann der Tante würden auf eine Gefährdung des Beschwerdeführers durch die Taliban hinweisen. Da der Beschwerdeführer der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, in welcher ihm die Erläuterung seines Fluchtvorbringens möglich gewesen wäre, unentschuldigt fernblieb, war dem gesteigerten und unsubstantiierten Fluchtvorbringen keine Glaubwürdigkeit zuzusprechen (VHS vom 21. Juli 2021, S. 2).

2.3. Die Feststellungen zu den strafgerichtlichen Verurteilungen des Beschwerdeführers ergeben sich aus dem Akt (AS 119 ff) und dem Strafregister.

2.4. Dass zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Schwester zum Zeitpunkt der Antragstellung kein Eltern-Kind-ähnliches Verhältnis bestand, ergibt sich einerseits aus der Tatsache, dass diese bis zum Zeitpunkt ihres Wiedersehens in der Türkei zumindest zwei Jahre davor überhaupt keinen Kontakt gehabt hatten. Dies wiederum ergibt sich aus der Aussage der Schwester des Beschwerdeführers vor dem Bundesverwaltungsgericht, wonach sie erst beim Wiedersehen im Jahr 2016 vom Tod der gemeinsamen Eltern im Jahr 2014 erfuhr (VHS vom 21. Juli 2021, S. 6). Andererseits ist zu beachten, dass sich der Beschwerdeführer und seine Schwester erst etwa dreieinhalb Monate vor ihrer Asylantragstellung wieder begegneten (vgl. dazu AS 17) und der Beschwerdeführer zu diesem Zeitpunkt bereits etwa 14 Jahre alt war. Überdies wurde das Vorliegen eines derartigen Verhältnisses vor Antragstellung nie vorgebracht.

2.5. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan beruhen auf den genannten Quellen. Angesichts der Seriosität dieser Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen besteht für das Bundesverwaltungsgericht kein Grund, an deren Richtigkeit zu zweifeln.

3. Rechtliche Beurteilung

3.1. Zur Abweisung der Beschwerde [Spruchpunkt A)]

3.1.1. Zur Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten

3.1.1.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht und keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F GFK genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.

Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG ist der Antrag abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offensteht oder er einen Asylausschlussgrund (§ 6 AsylG) gesetzt hat.

Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

3.1.1.2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (siehe zuletzt etwa VwGH 21.05.2021, Ra 2019/19/0428, m.w.N.).

3.1.1.3. Familienangehöriger im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 22 lit. d AsylG ist der gesetzliche Vertreter eines minderjährigen ledigen Asylwerbers, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten sowie ein zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind, für das einem Asylwerber, Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten die gesetzliche Vertretung zukommt, sofern die gesetzliche Vertretung jeweils bereits vor der Einreise bestanden hat. Die Familienangehörigeneigenschaft liegt auch dann vor, wenn zwischen den beiden Personen zum Zeitpunkt der Antragstellung ein Eltern-Kind-ähnliches Verhältnis bestanden hat (siehe dazu VfGH 26.06.2019, G 298/2019-11 Rn 31).

Die Prüfung des Vorliegens eines Eltern-Kind-ähnlichen Verhältnisses unterliegt – analog zur Annahme an Kindesstatt – einer Einzelfallprüfung, in deren Rahmen dem erkennenden Gericht ein gewisser Ermessensspielraum zukommt (vgl. dazu etwa OGH 25.11.2008,
9 Ob 60/08a, m.w.N.).

Gemäß § 34 Abs. 2 AsylG ist auf Grund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn dieser nicht straffällig geworden ist
(Z 1) und gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (Z 3).

3.1.1.4.1. Da die Schwester des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt der Antragstellung weder die gesetzliche Vertretung für den – damals minderjährigen und ledigen – Beschwerdeführer innehatte noch – wie festgestellt – ein Eltern-Kind-ähnliches Verhältnis zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Schwester bestand, war eine Ableitung des Status als Asylberechtigter im gegenständlichen Fall bereits aufgrund der fehlenden Familienangehörigeneigenschaft nicht möglich.

3.1.1.4.2. Weiters droht dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch aus individuellen Gründen keine asylrelevante Verfolgung:

Das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers beschränkt sich auf einen nicht asylrelevanten Konflikt zwischen ihm und dem Ehemann seiner Tante väterlicherseits (siehe etwa VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0010). Überdies kommt einer dem Beschwerdeführer drohenden – legitimen – (Straf-)Verfolgung aufgrund des von ihm begangenen Diebstahls („prosecution“) keine Asylrelevanz zu (vgl. VwGH 06.12.2019, Ra 2019/20/0547). Eine Verfolgungsgefahr durch die Taliban konnte, wie bereits oben ausgeführt, nicht festgestellt werden. Auch sonst ergaben sich keine Hinweise auf eine asylrelevante Verfolgungsgefahr.

3.1.2. Zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten

3.1.2.1. Gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG ist einem Fremden (unter anderem) bei Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status als Asylberechtigter der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung oder Zurückschiebung in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

Die Beurteilung eines drohenden Verstoßes gegen Art. 2 oder 3 EMRK setzt eine Einzelfall-prüfung voraus, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) insbesondere einer gegen Art. 2 oder 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (siehe etwa VwGH 23.01.2018, Ra 2017/20/0361, m.w.N.). Dabei ist auf den tatsächlichen Zielort eines Beschwerdeführers bei seiner Rückkehr abzustellen. Dies ist in der Regel seine Herkunftsregion, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. etwa EuGH 17.02.2009, C-465/07, Elgafaji; VfGH 13.09.2013, U370/2012; VwGH 12.11.2014, Ra 2014/20/0029).

Gemäß § 8 Abs. 3 AsylG ist einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen, wenn für ihn eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11 AsylG) offensteht. Eine innerstaatliche Fluchtalternative liegt dann vor, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates sowohl die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht vorliegen. Dabei ist auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände des Asylwerbers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen (siehe VwGH 06.11.2018, Ra 2018/01/0106, mit Verweis auf VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001).

Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG ist einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wird, vom Bundesverwaltungsgericht gleichzeitig eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter zu erteilen. Die Aufenthaltsberechtigung gilt ein Jahr und wird im Falle des weiteren Vorliegens der Voraussetzungen über Antrag des Fremden vom Bundesamt für jeweils zwei weitere Jahre verlängert. Nach einem Antrag des Fremden besteht die Aufenthaltsberechtigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Verlängerung des Aufenthaltsrechts, wenn der Antrag auf Verlängerung vor Ablauf der Aufenthaltsberechtigung gestellt worden ist.

Gemäß § 8 Abs. 3 i.V.m. § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG ist einem Fremden der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen, wenn er von einem inländischen Gericht wegen eines Verbrechens (§ 17 StGB) rechtskräftig verurteilt worden ist. Verbrechen gemäß § 17 StGB sind vorsätzliche Handlungen, die mit lebenslanger oder mit mehr als dreijähriger Freiheitsstrafe bedroht sind.

3.1.2.2. Für den Beschwerdeführer bedeutet dies Folgendes:

In Anbetracht des jüngst erfolgten Regierungsumsturzes durch die Taliban und der derzeit vorherrschenden unsicheren Sicherheitslage kann zum Entscheidungszeitpunkt nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass für den Beschwerdeführer als Zivilperson mit der Abschiebung eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen Konflikts verbunden ist:

Mit nur (noch) wenigen Ausnahmen befindet sich ganz Afghanistan, auch die Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers, unter der Kontrolle der Taliban. Zwar ergibt sich aus den vorhandenen Berichten, dass die Taliban das Land künftig regieren wollen, eine etablierte Nachfolgeregierung nach dem Umsturz der bisherigen ist jedoch noch nicht erfolgt. Im Hinblick darauf gibt es momentan kein Gebiet in Afghanistan, das nicht unter der Kontrolle regierungsfeindlicher Kräfte steht bzw. ohne Kontakt mit solchen erreichbar wäre – und somit als Fluchtalternative in Betracht käme.

Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass IOM aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration für Afghanistan mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen musste.

Wie festgestellt wurde der Beschwerdeführer von inländischen Gerichten wegen § 286 Abs. 1 und § 164 Abs. 1 und 2 StGB sowie §§ 27 Abs. 1 und Abs. 2 SMG rechtskräftig verurteilt. Da diese Delikte jedoch lediglich Vergehen und somit jedenfalls keine „schweren Straftaten“ darstellen, liegt kein Ausschlussgrund im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG vor (vgl. etwa VwGH 22.10.2020, Ra 2020/20/0274, m.w.N.). Die Anwendbarkeit des § 5 Z 10 JGG konnte somit im gegenständlichen Fall dahingestellt bleiben.

3.1.2.3. Das Bundesverwaltungsgericht erkennt dem Beschwerdeführer mit vorliegendem Erkenntnis den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu, sodass ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung in der Dauer von einem Jahr zu erteilen ist.

3.1.3. Zur Ersatzlosen Behebung der übrigen Spruchpunkte

Aufgrund der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und der damit verbundenen Aufenthaltsberechtigung für den Beschwerdeführer liegen die Voraussetzungen für die Versagung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Anordnung einer Ausreiseverpflichtung sowie die Erlassung eines Einreiseverbotes nicht mehr vor, weshalb die Spruchpunkte III. bis VIII. des angefochtenen Bescheides zu beheben sind (siehe dazu VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0134, m.w.N.).

3.2. Zur Unzulässigkeit der Revision [Spruchpunkt B)]

3.2.1. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

3.2.2. Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt: Dass dem Beschwerdeführer nicht der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen ist, entspricht der oben angeführten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs. Ebenso entspricht es der oben angeführten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs, dass dem Beschwerdeführer der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen ist.

Schlagworte

Aberkennungstatbestand § 9 Abs. 2 befristete Aufenthaltsberechtigung gesteigertes Vorbringen Glaubwürdigkeit mangelnde Asylrelevanz private Verfolgung Rückkehrsituation Sicherheitslage strafrechtliche Verurteilung subsidiärer Schutz Suchtmitteldelikt Verfolgungsgefahr Vergehen Zwangsrekrutierung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:W227.2198596.1.00

Im RIS seit

15.11.2021

Zuletzt aktualisiert am

15.11.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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