Entscheidungsdatum
05.10.2021Norm
AsylG 2005 §10Spruch
W142 2241455-1/2E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Dr. Irene HOLZSCHUSTER Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX XXXX , StA. Indien, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.03.2021, Zl. , zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 AsylG 2005 idgF, § 9 BFA-VG idgF und §§ 52, 55 FPG idgF als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden „BF“), ein indischer Staatsangehöriger, stellte nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am 24.02.2021 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Am selben Tag fand die Erstbefragung durch einen Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes statt. Zu seiner Person gab der BF an, dass er in XXXX , Indien geboren sei und der Volksgruppe der Punjabi sowie der Glaubensrichtung der Sikh angehöre. Er sei ledig, habe 10 Jahre die Grundschule und zwei Jahre die höhere Schule besucht. Seine Mutter sei verstorben, sein Vater und sein Bruder würden nach wie vor im Heimatland leben. Zu seiner Reiseroute gab der BF an, dass er im April 2020 zunächst mit dem Bus aus seinem Wohnort nach Delhi gefahren sei und dann mit dem Flugzeug aus Indien ausgereist sei. Er sei mit einem Reisepass legal ausgereist. Nach seiner Ausreise aus Indien habe sich der BF zuerst ungefähr sechs Monate lang in der Ukraine aufgehalten, anschließend sei er über ihm unbekannte Zwischenstopps nach ungefähr weiteren fünf Monaten nach Österreich gelangt. In der Ukraine habe ein Schlepper ihm den Reisepass abgenommen.
Als Fluchtgrund gab der Beschwerdeführer an: „Ich habe ein politisches Problem in Indien. Wir sind von Akalidal, unsere Gegner sind vom Kongress. Diese politischen Probleme haben 2015, 2016 begonnen. In den letzten Jahren hatten wir zwei bis drei Mal Probleme, wo uns die Gegner zu Hause attackierte. Deswegen wurde mein Bruder verletzt. Im Jahr 2018 hatten wir auch starke Probleme mit unseren Gegnern. Im Jahr 2018 waren Nationalratswahlen. Durch diese Probleme hat mich mein Vater ins Ausland geschickt, um mein Leben zu schützen. “
Als Rückkehrbefürchtung gab der BF zu Protokoll, dass sein Leben in Indien in Gefahr sei.
3. Bei der niederschriftlichen Einvernahme am 10.03.2021 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden „BFA“) gab der BF zu seinen Verhältnissen im Heimatland zunächst an, dass er ungefähr zwei Jahre lang, von Mitte 2017 bis 2018/2019 in XXXX gelebt habe und zuvor sein gesamtes Leben in XXXX verbracht habe. Von 2019 bis zu seiner Abreise aus Indien habe er sich in XXXX bei seinem Vater und seinem Bruder aufgehalten. Sein Vater und sein Bruder würden derzeit nach wie vor dort leben, er habe aber keinen Kontakt zu seinen Familienangehörigen, da sein Vater und sein Bruder ihre Telefonnummern bereits vor einem Jahr geändert hätten. Zu seinen in Indien lebenden Verwandten mütterlicherseits habe der BF seit dem Ableben seiner Mutter, im Jahr 2015, keinen Kontakt mehr. Befragt über seine finanzielle Situation in Indien gab der BF an, dass seine Familie der Mittelklasse angehöre und er sowie sein Vater und sein Bruder von landwirtschaftlicher Arbeit gut gelebt hätten. Sein Vater habe Ackerland besessen, das für die Ausreise des BF verkauft worden sei.
Befragt über seine Fluchtgründe, gab der BF wie folgt an:
[…]
LA: Sie haben nunmehr die Möglichkeit, Ihre Beweggründe für das Verlassen Ihrer Heimat zu schildern. Bitte schildern Sie möglichst lebensnahe, also konkret und mit sämtlichen Details, sodass auch unbeteiligte Personen Ihre Darstellung nachvollziehen können.
VP: Angefangen hat es im Jahr 2013. Es gibt einen Film über die Parteien Kongress und Akalidal. Zuvor war die Partei Akalidal im Punjab an der Macht und jetzt ist die Kongresspartei an der Macht. Mein Vater hat im Jahr 2013 die Akalidal unterstützt. Er war damals auch bei diversen Streitigkeiten der Parteien dabei. Im Jahr 2015 2016 war ein politischer Wechsel der Regierung im Punjab. Die Kongresspartei wurde immer stärker. Mein Vater, mein Bruder und ich wurden in XXXX von Parteimitgliedern der Kongresspartei ( XXXX ) im Jahr 2015 oder 2016 während der Wahl attackiert. Wir wurden zweimal attackiert, die beiden Männer sind zu uns nach Hause gekommen und haben uns geschlagen. Mein Vater wollte bei der Polizei in XXXX eine Anzeige erstatten, diese wurde jedoch nicht entgegengenommen. Ich habe mich in XXXX nicht mehr sicher gefühlt und bin nach XXXX gegangen und habe mich dort fast 3 Jahre versteckt gehalten. Ich bin immer wieder nach Hause gefahren. Das ist alles.
LA: Was konkret ist danach geschehen?
VP: Es kamen immer wieder Drohungen, dass wir umgebracht werden.
LA: Was war schlussendlich der ausschlaggebende Grund, das ausschlaggebende Ereignis für Ihre Ausreise?
VP: Als wir im Jahr 2016 attackiert wurden. Ich habe in XXXX gelebt, aber sie haben immer wieder gesagt, wenn sie mich erwischen, dann bringen sie mich um.
LA: Gab es in XXXX irgendwelche konkreten Vorfälle?
VP: Nein.
LA: Gab es nach dem Übergriff im Jahr 2016 irgendwelche weiteren Probleme?
VP: Nein, es gab keine weiteren Vorfälle. Sie haben mich nicht gefunden. Wenn sie mich erwischt hätten, dann hätten sie mich zusammengeschlagen.
LA: Haben Sie nicht versucht in einem anderen Teil in Indien zu leben? Sie könnten sich gemäß h.o. Amtswissen überall in Indien niederlassen.
VP: Nein. Das Geld ist in den 2 Jahren in XXXX ausgegangen. Ich habe von Freunden gelebt. Die Kongresspartei ist in ganz Indien sehr stark vertreten.
LA: Welche Funktion hatten Sie in dieser Akalidal-Organisation?
VP: Ich hatte keine Funktion.
LA: Können Sie sich vorstellen, für den Fall, wenn Sie nach Hause zurückkehren müssten, in einem anderen Teil des Landes zu leben?
VP: Nein.
LA: Was würden Sie konkret erwarten, wenn Sie jetzt in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren müssten und sich zum Beispiel in einer anderen Gegend oder größeren Stadt niederlassen.
VP: Die Mitglieder der Kongresspartei würden mich überall finden, darüber hinaus bin ich mittellos und habe gar nichts mehr.
LA: Haben sie somit sämtliche Gründe, die Sie veranlasst haben, Ihr Heimatland zu verlassen, vollständig geschildert.
VP: Ja. Ich habe alles geschildert. Es ist eigentlich die Schuld meines Vaters, die ich büßen muss.
LA: Befürchten Sie irgendwelche konkreten staatlichen Sanktionen bei einer Rückkehr?
VP: Nein.
[…]
LA: Habe ich Sie nun richtig verstanden? Sie möchten ausschließlich wegen der angeführten politischen Probleme Ihres Vaters im Jahr 2016 hier in Österreich bleiben?
VP: Ja, dies ist der alleinige Grund meines Asylantrages.
[…]
LA: Wollen Sie abschließend noch etwas anführen was Ihnen besonders wichtig erscheint?
VP: Meinen Vater hat es nicht gekümmert, was mit uns Kindern ist, ansonsten hätte er diese ganzen Sachen damals nicht gemacht.
LA: Was meine Sie mit den ganzen Sachen?
VP: Es gab wegen seiner politischen Sturheit immer Streit.
LA. Möchten Sie ansonsten noch etwas anführen?
VP: Derzeit geht die Regierung restriktiv gegen die Bauern vor.
[…]
4. Am 16.03.2021 wurde der BF erneut durch das BFA niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er an, dass er nicht nach Indien zurückkehren wolle, da bis zu den Wahlen im Jahr 2022 die Situation für ihn dort sehr schwierig sei. Sollte die Akalidal Partei an die Macht kommen, hätte er keine Probleme mehr. Ferner sei er mittellos und besitze nichts mehr und wisse nicht wo er hingehen solle.
5. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.03.2021 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Indien (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gem. § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung gem. § 46 FPG nach Indien zulässig sei (Spruchpunkt IV. und V.). Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.)
Begründend führte das Bundesamt dazu im Wesentlichen aus, dass sich das Vorbringen des BF wenig detailreich und zu oberflächlich gestaltet habe und daher keinesfalls als glaubhaft zu qualifizieren sei. Dass der BF erst im Jahr 2020 sein Herkunftsland verlassen habe, obwohl die Probleme im Zusammenhang mit der politischen Tätigkeit seines Vaters sich bereits 2015/2016 ereignet hätten, sei weder nachvollziehbar noch glaubhaft. Ferner bestehe in Indien keine solche extreme Gefährdungslage, dass jeder Rückkehrer einer Gefährdung im Sinne der Art. 2 und 3 EMRK ausgesetzt wäre. Es handle sich bei dem BF um einen arbeitsfähigen, jungen, erwachsenen Mann, daher könne von einer grundsätzlichen Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben in Indien ausgegangen werden. Zudem habe der BF in Indien in der familieneigenen Landwirtschaft gearbeitet und seine wirtschaftliche Lage als Mittelklasse beschrieben. Es lägen keine individuellen Umstände vor, die dafür sprechen würden, dass der BF im Falle einer Rückkehr nach Indien in eine derartige Notlage gelangen würde, die eine unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstelle. Ein schützenswertes Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK habe nicht festgestellt werden können und lägen auch keine Hinweise auf eine fortgeschrittene Integration bzw. Verfestigung des Aufenthaltes in Österreich vor, welche einer Rückkehrentscheidung im Hinblick auf Art. 8 Abs. 1 EMRK entgegen stünden.
6. Gegen diesen Bescheid erhob der BF durch seine Rechtsvertretung fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde in vollem Umfang, wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und der Verletzung von Verfahrensvorschriften. Nach Zusammenfassung des Sachverhaltes wurde zusammengefasst ausgeführt, dass das BFA es unterlassen habe seiner Entscheidung einschlägige und aktuelle Länderberichte zugrunde zu legen. Die dem Bescheid zugrunde gelegten Länderberichte seien zu allgemein gehalten und würden sich nicht auf das Kernvorbringen des BF beziehen. Insbesondere die politische Situation im Punjab sei nur unzureichend dargestellt. Auf die vom BF in der Einvernahme erwähnten Bauernproteste sei nicht eingegangen worden. Ferner wurde auf einen Bericht von India Today vom 26.09.2020 („Akali Dal quits NDA over farm bills, says Modi govt being stubborn, insensitive with ist murderous assault“) verwiesen, aus dem hervorgehe, dass die Bauernporteste zu politischen Spannungen geführt hätten. Dem BF sei aufgrund der politischen Tätigkeit seines Vaters eine politische, zumindest oppositionelle Gesinnung unterstellt worden. Er sei in Indien aufgrunddessen verfolgt worden und daher als Flüchtling im Sinne der GFK anzusehen. Aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit zu den Sikh, sei er im Falle einer Rückkehr einem erhöhten Risiko einer Verfolgung bzw. unmenschlichen Behandlung ausgesetzt. Ferner habe die Behörde das Risiko im Zusammenhang mit der Covid-19 Pandemie nicht ausreichend berücksichtigt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des BF:
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Indien und wurde in XXXX geboren. Er gehört der Volksgruppe der Punjabi sowie der Religionsgemeinschaft der Sikhs an. Er führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX ; seine Identität steht nicht fest. Die Muttersprache des BF ist Punjabi. Der BF ist ledig und hat keine Obsorgeverpflichtungen. Er ist gesund und arbeitsfähig.
Der BF hat in Indien mit seinem Vater und seinem Bruder im Haus des Vaters, im Dorf XXXX , Provinz Punjab gelebt. Vor seiner Ausreise lebte der BF für ungefähr zwei Jahre in XXXX , wobei er in dieser Zeit immer wieder zurück nach XXXX zu seinem Vater ging und in dessen Haus wohnte. Die Mutter des BF ist im Jahr 2015 verstorben. In Indien hat der BF Familienangehörige in Form seines Vaters und seines Bruders, welche nach wie vor im Heimatdorf XXXX leben. Ferner leben in Indien auch seine Onkel und Tanten mütterlicherseits. Der BF verfügt über eine 10 jährige Grundschulausbildung sowie über eine 2 jährige Ausbildung an einer höheren Schule (College für Kunst).
Der BF reiste illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 24.02.2021 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Seitdem hält er sich im Bundegebiet auf. Er verfügt im Bundesgebiet über keinerlei Familienangehörige oder intensive soziale Kontakte und weist keine nennenswerten Deutschkenntnisse auf. Er geht keiner Arbeit nach und bezieht Leistungen aus der Grundversorgung.
Im Strafregister des BF scheint keine Verurteilung auf.
1.2. Zur Lage in Indien sowie einer möglichen Rückkehr des BF dorthin:
Es liegen keine Gründe vor, die einer Rückkehr oder Rückführung (Abschiebung) des BF in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden.
Der BF läuft nicht konkret Gefahr, in seinem Herkunftsstaat der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe beziehungsweise Todesstrafe unterworfen zu werden oder in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Notlage zu geraten.
Hinsichtlich der aktuellen Lage in Indien wird auf die im Bescheid des BFA getroffenen Länderfeststellungen verwiesen. Im Rahmen des Beschwerdeverfahrens sind auch keine wesentlichen Änderungen der Lage bekannt geworden.
Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 11.11.2020:
COVID-19
Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie verhängte die indische Regierung am 25. März 2020 eine Ausgangssperre über das gesamte Land, die nur in Einzelfällen (Herstellung lebensnotwendiger Produkte und Dienstleistungen, Einkaufen für den persönlichen Bedarf, Arztbesuche, usw.) durchbrochen werden durfte. Trotz der Ausgangssperre sanken die Infektionszahlen nicht. Seit der ersten Aufsperrphase, die am 8. Juni 2020 begann, schießt die Zahl der Infektionen noch steiler als bisher nach oben. Größte Herausforderung während der Krise waren die Millionen von Wanderarbeitern, die praktisch über Nacht arbeitslos wurden, jedoch auf Grund der Ausgangssperre nicht in ihre Dörfer zurückkehren konnten. Viele von ihnen wurden mehrere Wochen in Lagern unter Quarantäne gestellt (also de facto eingesperrt), teilweise mit nur schlechter Versorgung (ÖB 9.2020). Nach Angaben des indischen Gesundheitsministeriums vom 11. Oktober 2020 wurden seit Beginn der Pandemie mehr als sieben Millionen Infektionen mit SARS-CoV-2 registriert. Die täglichen offiziellen Fallzahlen stiegen zwar zuletzt weniger schnell als noch im September, die Neuinfektionen nehmen in absoluten Zahlen jedoch schneller zu als in jedem anderen Land der Welt. Medien berichten in einigen Teilen des Landes von einem Mangel an medizinischem Sauerstoff in Krankenhäusern (BAMF 12.10.2020).
Sorge bereitet die zunehmende Ausbreitung von COVID-19-Infektionen in Kleinstädten und ländlichen Gebieten, wo der Zugang zur medizinischen Versorgung teilweise nur rudimentär oder gar nicht vorhanden ist (WKO 10.2020). Durch die COVID-Krise können Schätzungen zu Folge bis zu 200 Mio. in die absolute Armut gedrängt werden. Ein Programm, demzufolge 800 Mio. Menschen gratis Lebensmittelrationen erhalten, wurde bis November 2020 verlängert. Die Ausmaße dieses Programms verdeutlichen, wie hart Indien von der COVID-Pandemie und dem damit verbundenen Einbruch der Wirtschaft betroffen ist (ÖB 9.2020).
Quellen:
? BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (12.10.2020): https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/BriefingNotes/2020/briefingnotes-kw42-2020.pdf;jsessionid=91E533F0FC7A0F35C0751A9F00F3D711.internet572?__blob=publicationFile&v=4, Zugriff 12.10.2020
? ÖB - Österreichische Botschaft New Delhi (9.2020): Asylländerbericht Indien
? WKO - Aussenwirtschaft Austria (10.2020): Aussen Wirtschaft Wirtschaftsbereich Indien, WIRTSCHAFTSBERICHT Indien (Q1–Q22020), https://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/indien-wirtschaftsbericht.pdfhttps://www.wko.at/service/aussenwirtschaft/indien-wirtschaftsbericht.pdf, Zugriff 21.10.2020
1. Politische Lage
Letzte Änderung: 23.10.2020
Indien ist mit über 1,3 Milliarden Menschen und einer multireligiösen und multiethnischen Gesellschaft die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt (CIA 5.10.2020; vgl. AA 23.9.2020). Im Einklang mit der Verfassung haben die Bundesstaaten und Unionsterritorien ein hohes Maß an Autonomie und tragen die Hauptverantwortung für Recht und Ordnung (USDOS 11.3.2020). Die Hauptstadt New Delhi hat einen besonderen Rechtsstatus (AA 2.2020a).
Der Grundsatz der Gewaltenteilung von Legislative, Exekutive und Judikative ist nach britischem Muster durchgesetzt (AA 2.2020a; vgl. AA 23.9.2020). Die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit ist verfassungsmäßig garantiert, der Instanzenzug ist dreistufig (AA 23.9.2020). Das oberste Gericht (Supreme Court) in New Delhi steht an der Spitze der Judikative und wird gefolgt von den High Courts auf Länderebene (GIZ 8.2020a). Die Pressefreiheit ist von der Verfassung verbürgt, jedoch immer wieder Anfechtungen ausgesetzt (AA 9.2020a). Indien hat eine lebendige Zivilgesellschaft (AA 9.2020a).
Indien ist eine parlamentarische Demokratie und verfügt über ein Mehrparteiensystem und ein Zweikammerparlament (USDOS 11.3.2020). Darüber hinaus gibt es Parlamente auf Ebene der Bundesstaaten (AA 23.9.2020).
Der Präsident ist das Staatsoberhaupt und wird von einem Wahlausschuss gewählt, während der Premierminister der Regierungschef ist (USDOS 11.3.2020). Der Präsident nimmt weitgehend repräsentative Aufgaben wahr. Die politische Macht liegt hingegen beim Premierminister und seiner Regierung, die dem Parlament verantwortlich ist. Präsident ist seit 25. Juli 2017 Ram Nath Kovind, der der Kaste der Dalits (Unberührbaren) entstammt (GIZ 8.2020a).
Im April/Mai 2019 wählten etwa 900 Mio. Wahlberechtigte ein neues Unterhaus. Im System des einfachen Mehrheitswahlrechts konnte die Bharatiya Janata Party (BJP) unter der Führung des amtierenden Premierministers Narendra Modi ihr Wahlergebnis von 2014 nochmals verbessern (AA 23.9.2020).
Als deutlicher Sieger mit 352 von 542 Sitzen stellt das Parteienbündnis „National Democratic Alliance (NDA)“, mit der BJP als stärkster Partei (303 Sitze) erneut die Regierung. Der BJP-Spitzenkandidat und amtierende Premierminister Narendra Modi wurde im Amt bestätigt. Die United Progressive Alliance rund um die Congress Party (52 Sitze) erhielt insgesamt 92 Sitze (ÖB 9.2020; vgl. AA 19.7.2019). Die Wahlen verliefen, abgesehen von vereinzelten gewalttätigen Zusammenstößen v. a. im Bundesstaat Westbengal, korrekt und frei. Im Wahlbezirk Vellore (East) im Bundesstaat Tamil Nadu wurden die Wahlen wegen des dringenden Verdachts des Stimmenkaufs ausgesetzt und werden zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt (AA 19.7.2019). Mit der BJP-Regierung unter Narendra Modi haben die hindu-nationalistischen Töne deutlich zugenommen. Die zahlreichen hindunationalen Organisationen, allen voran das Freiwilligenkorps RSS, fühlen sich nun gestärkt und versuchen verstärkt, die Innenpolitik aktiv in ihrem Sinn zu bestimmen (GIZ 8.2020a). Mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts treibt die regierende BJP ihre hindunationalistische Agenda weiter voran. Die Reform wurde notwendig, um die Defizite des Bürgerregisters des Bundesstaats Assam zu beheben und den Weg für ein landesweites Staatsbürgerregister zu ebnen. Kritiker werfen der Regierung vor, dass die Vorhaben vor allem Muslime und Musliminnen diskriminieren, einer großen Zahl von Personen den Anspruch auf die Staatsbürgerschaft entziehen könnten und Grundwerte der Verfassung untergraben (SWP 2.1.2020; vgl. TG 26.2.2020). Kritiker der Regierung machten die aufwiegelnde Rhetorik und die Minderheitenpolitik der regierenden Hindunationalisten, den Innenminister und die Bharatiya Janata Party (BJP) für die Gewalt verantwortlich, bei welcher Ende Februar 2020 mehr als 30 Personen getötet wurden. Hunderte wurden verletzt (FAZ 26.2.2020; vgl. DW 27.2.2020).
Bei der Wahl zum Regionalparlament der Hauptstadtregion Neu Delhi musste die Partei des Regierungschefs Narendra Modi gegenüber der regierenden Antikorruptionspartei Aam Aadmi (AAP) eine schwere Niederlage einstecken. Diese gewann die Regionalwahl erneut mit 62 von 70 Wahlbezirken. Die AAP unter Führung von Arvind Kejriwal, punktete bei den Wählern mit Themen wie Subventionen für Wasser und Strom, Verbesserung der Infrastruktur für medizinische Dienstleistungen sowie die Sicherheit von Frauen, während die BJP für das umstrittene Staatsbürgerschaftsgesetz warb (KBS 12.2.2020). Modis Partei hat in den vergangenen zwei Jahren bereits bei verschiedenen Regionalwahlen in den Bundesstaaten Maharashtra und Jharkhand heftige Rückschläge hinnehmen müssen (quanatra.de 14.2.2020; vgl. KBS 12.2.2020).
Unter Premierminister Modi betreibt Indien eine aktivere Außenpolitik als zuvor. Die frühere Strategie der „strategischen Autonomie“ wird zunehmend durch eine Politik „multipler Partnerschaften“ mit allen wichtigen Ländern in der Welt überlagert. Wichtigstes Ziel der indischen Außenpolitik ist die Schaffung eines friedlichen und stabilen globalen Umfelds für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes und als aufstrebende Großmacht die zunehmende verantwortliche Mitgestaltung regelbasierter internationaler Ordnung (BICC 7.2020). Ein ständiger Sitz im UN-Sicherheitsrat ist dabei weiterhin ein strategisches Ziel (GIZ 8.2020a). Gleichzeitig strebt Indien eine stärkere regionale Verflechtung mit seinen Nachbarn an, wobei nicht zuletzt Alternativkonzepte zur einseitig sino-zentrisch konzipierten „Neuen Seidenstraße“ eine wichtige Rolle spielen. In der Region Südasien setzt Indien zudem zunehmend auf die Regionalorganisation BIMSTEC (Bay of Bengal Initiative for Multi-Sectoral Technical and Economic Cooperation). Indien ist Dialogpartner der südostasiatischen Staatengemeinschaft und Mitglied im „Regional Forum“ (ARF). Überdies nimmt Indien am East Asia Summit und seit 2007 auch am Asia-Europe Meeting (ASEM) teil. Die Shanghai Cooperation Organisation (SCO) hat Indien und Pakistan 2017 als Vollmitglieder aufgenommen. Der Gestaltungswille der BRICS-Staatengruppe (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) schien zuletzt abzunehmen (BICC 7.2020).
Quellen:
? AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (23.9.2020): Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien (Stand: Juni 2020), https://www.ecoi.net/en/file/local/2038579/Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_zur_asyl-_und_abschiebungsrelevanten_Lage_in_der_Republik_Indien_%28Stand_Juni_2020%29%2C_23.09.2020.pdf, Zugriff 15.10.2020
? AA – Auswärtiges Amt (Deutschland) (19.7.2019): Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Indien (Stand: Mai 2019), https://www.ecoi.net/en/file/local/2014276/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt%2C_Bericht_zur_asyl-_und_abschiebungsrelevanten_Lage_in_der_Republik_Indien_%28Stand_Mai_2019%29%2C_19.07.2019.pdf, Zugriff 15.10.2020
? AA – Auswärtiges Amt (9.2020a): Indien: Politisches Porträt, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/indien-node/politisches-portrait/206048, Zugriff 15.10.2020
? BICC - Bonn International Centre for Conversion (7.2020): Informationsdienst - Sicherheit, Rüstung und Entwicklung in Empfängerländern deutscher Rüstungsexporte: Länderinformation Indien, http://ruestungsexport.info/user/pages/04.laenderberichte/indien/2020_Indien.pdf, Zugriff 20.10.2020
? CIA - Central Intelligence Agency (5.10.2020): The World Factbook – India, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/in.html, Zugriff 15.10.2020
? DW – Deutsche Welle (27.2.2020): Sierens China: Schwieriges Dreiecksverhältnis, https://www.dw.com/de/sierens-china-schwieriges-dreiecksverh%C3%A4ltnis/a-52556817, Zugriff 28.2.2020
? FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung (26.2.2020): Immer mehr Tote nach Unruhen in Delhi, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/indien-tote-bei-gewalt-zwischen-hindus-und-muslimen-in-delhi-16652177.html, Zugriff 28.2.2020
? GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (8.2020a): Indien, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/indien/geschichte-staat/, Zugriff 15.10.2020
? KBS – Korean Broadcasting System (12.2.2020): Niederlage für Indiens Regierungschef Modi bei Wahl in Neu Delhi, http://world.kbs.co.kr/service/contents_view.htmlang=g&board_seq=379626, Zugriff 14.2.2020
? ÖB - Österreichische Botschaft New Delhi (9.2020): Asylländerbericht Indien
? Quantara.de (14.2.2020): Herbe Niederlage für Indiens Regierungschef Modi bei Wahl in Neu Delhi, https://de.qantara.de/content/herbe-niederlage-fuer-indiens-regierungschef-modi-bei-wahl-in-neu-delhi, Zugriff 20.2.2020
? SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (8.2019): Indiens Ringen um die Staatsbürgerschaft, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2020A02_wgnArora_WEB.pdf, Zugriff 18.2.2020
? SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (8.2019): Keine Ruhe in Kaschmir. Die Auflösung des Bundesstaats und die Folgen für Indien, https://www.swp-berlin.org/10.18449/2019A45/, Zugriff 16.1.2020
? TG – The Guardian (26.2.2020): Anti-Muslim violence in Delhi serves Modi well, https://www.theguardian.com/commentisfree/2020/feb/26/violence-delhi-modi-project-bjp-citizenship-law, Zugriff 28.2.2020
? USDOS – US Department of State (11.3.2020): 2019 Country Reports on Human Rights Practices: India, https://www.ecoi.net/de/dokument/2026357.html, Zugriff 13.3.2020
2. Sicherheitslage
Letzte Änderung: 06.11.2020
Es gibt in Indien eine Vielzahl von Spannungen und Konflikten, Gewalt ist an der Tagesordnung (GIZ 8.2020a). Aufstände gibt es auch in den nordöstlichen Bundesstaaten Assam, Manipur, Nagaland sowie in Teilen Tripuras. In der Vergangenheit konnte eine Zunahme von Terroranschlägen in Indien, besonders in den großen Stadtzentren, verzeichnet werden. Mit Ausnahme der verheerenden Anschläge auf ein Hotel in Mumbai im November 2008, wird Indien bis heute zwar von vermehrten, jedoch kleineren Anschlägen heimgesucht (BICC 7.2020). Aber auch in den restlichen Landesteilen gab es in den letzten Jahren Terroranschläge mit islamistischem Hintergrund. Im März 2017 platzierte eine Zelle des „Islamischen Staates“ (IS) in der Hauptstadt des Bundesstaates Madhya Pradesh eine Bombe in einem Passagierzug. Die Terrorzelle soll laut Polizeiangaben auch einen Anschlag auf eine Kundgebung von Premierminister Modi geplant haben (BPB 12.12.2017). Das Land unterstützt die US-amerikanischen Maßnahmen gegen den internationalen Terrorismus. Intern wurde eine drakonische neue Anti-Terror-Gesetzgebung verabschiedet, die Prevention of Terrorism Ordinance (POTO), von der Menschenrechtsgruppen fürchten, dass sie auch gegen legitime politische Gegner missbraucht werden könnte (BICC 7.2020).
Konfliktregionen sind Jammu und Kashmir (ÖB 9.2020; vgl. BICC 7.2020) und der und im von separatistischen Gruppen bedrohten Nordosten Indiens (ÖB 9.2020; vgl. BICC 7.2020, AA 23.9.2020). Der Punjab blieb im vergangenen Jahren von Terroranschlägen und Unruhen verschont (SATP 8.10.2020). Neben den islamistischen Terroristen tragen die Naxaliten zur Destabilisierung des Landes bei. Von Chattisgarh aus kämpfen sie in vielen Unionsstaaten (von Bihar im Norden bis Andrah Pradesh im Süden) mit Waffengewalt gegen staatliche Einrichtungen. Im Nordosten des Landes führen zahlreiche Separatistengruppen (United Liberation Front Assom, National Liberation Front Tripura, National Socialist Council Nagaland, Manipur People’s Liberation Front etc.) einen Kampf gegen die Staatsgewalt und fordern entweder Unabhängigkeit oder mehr Autonomie (ÖB 9.2020; vgl. AA 23.9.2020). Der gegen Minderheiten wie Moslems und Christen gerichtete Hindu-Radikalismus wird selten von offizieller Seite in die Kategorie Terror eingestuft, sondern vielmehr als „communal violence“ bezeichnet (ÖB 9.2020).
Gewalttätige Operationen maoistischer Gruppierungen in den ostzentralen Bergregionen Indiens dauern an (ÖB 9.2020; vgl. AA 23.7.2020, FH 4.3.2020). Rebellen heben illegale Steuern ein, beschlagnahmen Lebensmittel und Unterkünfte und beteiligen sich an Entführungen und Zwangsrekrutierungen von Kindern und Erwachsenen. Zehntausende Zivilisten wurden durch die Gewalt vertrieben und leben in von der Regierung geführten Lagern. Unabhängig davon greifen in den sieben nordöstlichen Bundesstaaten Indiens mehr als 40 aufständische Gruppierungen, welche entweder eine größere Autonomie oder die vollständige Unabhängigkeit ihrer ethnischen oder Stammesgruppen anstreben, weiterhin Sicherheitskräfte an. Auch kommt es weiterhin zu Gewalttaten unter den Gruppierungen, welche sich in Bombenanschlägen, Morden, Entführungen, Vergewaltigungen von Zivilisten und in der Bildung von umfangreichen Erpressungsnetzwerken ausdrücken (FH 4.3.2020).
Das South Asia Terrorism Portal verzeichnet in einer Aufstellung für das Jahr 2016 insgesamt 907 Todesopfer durch terroristische Gewalt. Im Jahr 2017 wurden 812 Personen durch terroristische Gewalt getötet und im Jahr 2018 kamen 940 Menschen durch Terrorakte. 2019 belief sich die Opferzahl terroristischer Gewalt landesweit auf insgesamt 621 Tote. 2020 wurden bis zum 1.11. insgesamt 511 Todesopfer durch terroristische Gewaltanwendungen registriert [Anmerkung: die angeführten Zahlen beinhalten Zivilisten, Sicherheitskräfte und Terroristen] (SATP 1.11.2020).
Gegen militante Gruppierungen, die meist für die Unabhängigkeit bestimmter Regionen eintreten und/oder radikalen (z. B. Maoistisch-umstürzlerische) Auffassungen anhängen, geht die Regierung mit großer Härte und Konsequenz vor. Sofern solche Gruppen der Gewalt abschwören, sind in der Regel Verhandlungen über ihre Forderungen möglich. Gewaltlose Unabhängigkeitsgruppen können sich politisch frei betätigen (AA 23.9.2020).
Indien und Pakistan
Pakistan erkennt weder den Beitritt Jammu und Kaschmirs zur indischen Union im Jahre 1947 noch die seit dem ersten Krieg im gleichen Jahr bestehende de-facto-Aufteilung der Region auf beide Staaten an. Indien hingegen vertritt den Standpunkt, dass die Zugehörigkeit Jammu und Kaschmirs in seiner Gesamtheit zu Indien nicht zur Disposition steht (Piazolo 2008). Die äußerst angespannte Lage zwischen Indien und Pakistan hat sich in der Vergangenheit immer wieder in Grenzgefechten entladen, welche oft zu einem größeren Krieg zu eskalieren drohten. Seit 1947 gab es bereits drei Kriege aufgrund des umstrittenen Kaschmir-Gebiets (BICC 12.2019; vgl. BBC 23.1.2018). Bewaffnete Zusammenstöße zwischen indischen und pakistanischen Streitkräften entlang der sogenannten „Line of Control (LoC)“ haben sich in letzter Zeit verschärft und Opfer auf militärischer wie auch auf ziviler Seite gefordert. Seit Anfang 2020 wurden im von Indien verwalteten Kaschmir 14 Personen durch Artilleriebeschuss durch pakistanische Streitkräfte über die Grenz- und Kontrolllinie hinweg getötet und fünf Personen verletzt (FIDH 23.6.2020; vgl. KO 25.6.2020).
Indien wirft Pakistan dabei unter anderem vor, in Indien aktive terroristische Organisationen zu unterstützen. Pakistan hingegen fordert eine Volksabstimmung über die Zukunft der Region, da der Verlust des größtenteils muslimisch geprägten Gebiets als Bedrohung der islamischen Identität Pakistans wahrgenommen wird (BICC 12.2019). Es kommt immer wieder zu Schusswechseln zwischen Truppenteilen Indiens und Pakistans an der Waffenstillstandslinie in Kaschmir (BICC 12.2019). So drang die indische Luftwaffe am 26.2.2019 als Vergeltung für einen am 14.2.2019 verübten Selbstmordanschlag erstmals seit dem Krieg im Jahr 1971 in den pakistanischen Luftraum ein, um ein Trainingslager der islamistischen Gruppierung Jaish-e-Mohammad in der Region Balakot, Provinz Khyber Pakhtunkhwa, zu bombardieren (SZ 26.2.2019; vgl. FAZ 26.2.2019, WP 26.2.2019).
Indien und China
Der chinesisch-indische Grenzverlauf im Himalaya ist weiterhin umstritten (FAZ 27.2.2020). Zusammenstöße entlang der „Line of Actual Control (LAC)“, der De-facto-Grenze zwischen der von Indien verwalteten Region des Ladakh Union Territory und der von China verwalteten Region Aksai Chin forderten am 15.6.2020 in den ersten Vorfällen seit 45 Jahren mindestens 20 Tote auf indischer Seite und eine unbekannte Anzahl von Opfern auf chinesischer Seite (FIDH 23.6.2020; vgl. BBC 3.7.2020, BAMF 8.6.2020). Viele indische Experten sehen in der Entscheidung der Modi-Regierung vom August 2019, den Bundesstaat Jammu und Kaschmir aufzulösen, einen Auslöser für die gegenwärtige Krise (SWP 7.2020; vgl. Wagner C. 2020). Die chinesischen Gebietsübertretungen können somit als Reaktion auf die indische Politik in Kaschmir in den letzten Monaten gesehen werden (SWP 7.2020). Weitere Eskalationen drohen auch durch Gebietsverletzungen an anderen Stellen der mehr als 3.400 Kilometer langen Grenze (FAZ 27.2.2020; vgl. SWP 7.2020). Sowohl Indien als auch China haben Ambitionen, ihren Einflussbereich in Asien auszuweiten (BICC 7.2020).
Zwar hat der amerikanisch-chinesische Handelskrieg die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Indien und China gestärkt und neue Möglichkeiten für indische Unternehmen auf dem chinesischen Markt geschaffen, dennoch fühlt sich Indien von Peking geopolitisch herausgefordert, da China innerhalb seiner „Neuen Seidenstraße“ Allianzen mit Indiens Nachbarländern Pakistan, Bangladesch, Nepal und Sri Lanka geschmiedet hat. Besonders der Wirtschaftskorridor mit dem Erzfeind Pakistan ist den Indern ein Dorn im Auge (FAZ 27.2.2020). Bestimmender Faktor des indischen Verhältnisses zu China ist das immer wieder auch in Rivalität mündende Neben- und Miteinander zweier alter Kulturen, die heute die beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Welt sind. Das bilaterale Verhältnis ist von einem signifikanten Ungleichgewicht zu Gunsten Chinas gekennzeichnet (BICC 7.2020).
Indien und Bangladesch
Die Beziehungen zu Bangladesch sind von besonderer Natur, teilen die beiden Staaten doch eine über 4.000 km lange Grenze. Indien kontrolliert die Oberläufe der wichtigsten Flüsse Bangladeschs und war historisch maßgeblich an der Entstehung Bangladeschs während seines Unabhängigkeitskrieges beteiligt. Schwierige Fragen wie Transit, Grenzverlauf, ungeregelter Grenzübertritt und Migration, Wasserverteilung und Schmuggel werden in regelmäßigen Regierungsgesprächen erörtert (GIZ 8.2020a). Darüber hinaus bestehen kleinere Konflikte zwischen den beiden Ländern (BICC 7.2020).
Indien und Sri Lanka
Die beiden Staaten pflegen ein eher ambivalentes Verhältnis, das durch den mittlerweile beendeten Bürgerkrieg auf Sri Lanka zwischen der tamilischen Minderheit und singhalesischen Mehrheit stark beeinflusst wurde. Die tamilische Bevölkerungsgruppe in Indien umfasst ca. 65 Millionen Menschen, woraus sich ein gewisser Einfluss auf die indische Außenpolitik ergibt (GIZ 8.2020a).
Quellen:
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Jammu und Kaschmir
Letzte Änderung: 05.11.2020
Indien hat am 5.8.2019 den in der Verfassung festgelegten Sonderstatus (ZO 6.8.2019) der mehrheitlich muslimischen Region (FAZ 6.8.2019; vgl. GIZ 8.2020a) des indischen Teils von Kaschmir per Dekret beendet (ÖB 9.2020; vgl. AA 23.9.2020, ZO 6.8.2019). Unmittelbar darauf hat das Parlament in Delhi die Aufhebung jenes Artikels 370 der indischen Verfassung beschlossen (FAZ 7.8.2019), welcher Jammu und Kaschmir einen Sonderstatus einräumt und vorgeschlagen, den Staat in zwei Unionsterritorien, nämlich Jammu und Kaschmir sowie Ladakh aufzuteilen (IT 6.8.2019). Der Artikel 370 gewährt der Region eine gewisse Autonomie, wie eine eigene Verfassung, eine eigene Flagge und die Freiheit, Gesetze (BBC 6.8.2019) mit Ausnahme zu Belangen der Außen- wie auch der Verteidigungspolitik (DS 7.8.2019) zu erlassen. Dies stellte einen Kompromiss zwischen der zu großen Teilen muslimischen Bevölkerung und der hinduistischen Führung in Neu-Delhi dar (ARTE 7.8.2019). Neben dem Artikel 370 wurde auch der Artikel 35A aufgehoben, welcher dem lokalen Parlament erlaubte festzulegen, wer Bürger des Teilstaats ist und wer dort Land besitzen und Regierungsämter ausüben kann (NZZ 5.8.2019).
Die auch in Indien umstrittene Aufhebung der Autonomierechte befeuert die Spannungen in der Region. Kritiker befürchten, dass der hindunationalistische Ministerpräsident Narendra Modi und seine Regierung eine 'Hinduisierung' des Gebiets anstreben (TNYT 6.8.2019). Zur Verhinderung von Unruhen haben die indischen Behörden sämtliche Kommunikationskanäle unterbrochen und zusätzlich 10.000 Soldaten (SO 4.8.2019) in die ohnehin hoch militarisierte Region entsendet (ARTE 7.8.2019) und führende Regionalpolitiker wurden unter Hausarrest gestellt (FAZ 7.8.2019). Die Rücknahme des verwaltungsrechtlichen Sonderstatus des Bundesstaates Jammu und Kaschmir ist mit zahlreichen Verfassungs- und Menschenrechtsverletzungen einhergegangen (RLS 1.2020).
Jammu und Kaschmir gehörten 2018 zu den am stärksten vom Terrorismus betroffen Bundesstaaten in Indien (USDOS 1.11.2019). Militante Gruppen in Jammu und Kaschmir kämpfen weiterhin gegen Sicherheitskräfte, kaschmirische Einrichtungen und lokale Politiker, die sie für "Statthalter" und "Kollaborateure" der indischen Zentralregierung halten. Überläufer zur Regierungsseite und deren Familien werden besonders grausam 'bestraft'. Die Zahl der als terroristisch eingestuften Vorfälle in Jammu und Kaschmir hat nach einem rückläufigen Trend im Jahr 2015 in den Jahren 2016 und 2017 zugenommen (AA 23.9.2020; vgl. FH 3.4.2020).
Bei einem Selbstmordanschlag (TOI 15.2.2019) auf indische Sicherheitskräfte im Gebiet von Goripora bei Awantipora im Distrikt Pulwama in Kaschmir wurden am 14.2.2019 mindestens 44 Menschen getötet. Dutzende wurden verletzt (TOI 15.2.2019; vgl. IT 15.2.2019). Die in Pakistan ansässige Jaish-e-Mohammed Gruppe übernahm für den Angriff die Verantwortung. Als Vergeltungsschlag flog die indische Luftwaffe einen Luftangriff auf pakistanisches Hoheitsgebiet außerhalb des pakistanischen Teils Kaschmirs und somit auf unbestritten pakistanisches Gebiet. Über die Anzahl und Zugehörigkeit der Todesopfer gab es sehr divergierende Angaben (ÖB 9.2020).
In Indien bleibt das zentrale Ziel islamistischer Fundamentalisten die Abspaltung Kaschmirs. Im Einklang mit der Dschihad-Ideologie sehen sich viele islamistische Gruppierungen zudem im Krieg gegen alle Ungläubigen und streben die gewaltsame Islamisierung des gesamten Subkontinents an. Befördert wird der Konflikt durch die anhaltende wirtschaftliche Benachteiligung und Diskriminierung vieler Muslime (BPB 12.12.2017).
In Jammu und Kaschmir, im Punjab und in Manipur haben die Behörden besondere Befugnisse, ohne Haftbefehl Personen zu suchen und zu inhaftieren (USDOS 11.3.2020; vgl. BBC 20.10.2015). Das Gesetz über Sondervollmachten der Streitkräfte (AFSPA) räumt dem Militär weitreichende Befugnisse im Rahmen von Operationen zu Aufstandsbekämpfungen, tödlichen Schusswaffengebrauch, erweiterte Festnahmebestimmungen und Beschlagnahmungen, bei gleichzeitiger Immunität vor Strafverfolgung ein. Zwar wird von den Sicherheitsbehörden behauptet, dass die Truppen solche Befugnisse benötigen, doch erklärt der Oberste Gerichtshof, dass solche Gewaltanwendungen selbst Gebieten die im Rahmen des AFSPA zu Unruheregionen erklärt wurden, nicht zulässig sind (HRW 14.8.2020). Nach Bekanntwerden des Todes eines im Polizeigewahrsam befindlichen Terrorverdächtigen brachen am 23.9.2020 Proteste aus. Zuvor war es am 17.9.2020 zu einem größeren Protest in Srinagar gekommen, als Reaktion auf einen Militäreinsatz, bei dem drei mutmaßliche Rebellen und eine Frau getötet worden waren (BAMF 28.9.2020). Um große Menschenansammlungen zu verhindern werden Begräbnisse mutmaßlicher Aufständischer staatlicherseits in entlegenen Waldgebieten auch unter Ausschluss der Familienangehörigen durchgeführt (BAMF 28.9.2020).
Das South Asia Terrorism Portal verzeichnet in einer Aufstellung für das Jahr 2016 insgesamt 267 Todesopfer durch terrorismusrelevante Gewalt in der Region Jammu und Kashmir. Im Jahr 2017 wurden 357 Personen durch Terrorakte getötet, 2018 waren es 452 Todesopfer und im Jahr 2019 wurden durch terroristische Gewalt 283 Todesopfer registriert. Im Jahr 2020 wurden bis zum 1.11. insgesamt 285 Todesfälle durch terroristische Gewaltanwendungen aufgezeichnet [Anmerkung: die angeführten Zahlen beinhalten Zivilisten, Sicherheitskräfte und Terroristen] (SATP 1.11.2020).
Die 1997 eingesetzte staatliche Menschenrechtskommission von Jammu und Kaschmir hat kaum Wirkungen entfaltet. Insbesondere hat sie keine Möglichkeit, Übergriffe von Armee und paramilitärischen Kräften zu untersuchen (ÖB 9.2020). Im Juli 2019 veröffentlichte das Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) einen Bericht, der die Menschenrechtsverletzungen in der Kaschmir-Region im Zeitraum Mai 2018 bis Juni 2019 hervorhob und ein ähnliches Dokument aus dem Jahr 2018 aktualisierte. In dem Bericht werden die exzessive und außergerichtliche Gewalt, welche von indischen Sicherheitskräften ausgeübt wurde, verurteilt und die Weigerung der indischen Regierung, die gemeldeten Verletzungen zu untersuchen, kritisiert (OHRC 8.7.2019; vgl. AI 30.1.2020). Im September 2019 äußerte die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte ihre Besorgnis über die Menschenrechtsverletzungen in Jammu und Kaschmir und forderte Indien auf, die andauernden Beschränkungen aufzuheben und die Rechte und Grundfreiheiten der betroffenen Bevölkerung zu wahren. In einer Sonderdebatte des Europäischen Parlaments wurde zudem eine Sonderdebatte über Kaschmir abgehalten, in der sowohl Indien als auch Pakistan nachdrücklich aufgefordert wurden, ihre internationalen Menschenrechtsverpflichtungen einzuhalten (HRW 14.1.2020).
Die angespannte Lage zwischen Indien und Pakistan entlädt sich immer wieder in Grenzgefechten, welche oft zu eskalieren drohen (BICC 7.2020). Im östlichsten Teil der Kaschmir-Region zeichnet sich möglicherweise eine friedliche Einigung zwischen Indien und China ab, nachdem im Mai 2020 Truppenbewegungen der chinesischen Volksbefreiungsarmee bis in das angrenzende, indisch kontrollierte Ladakh festgestellt worden sind. Zusammenstöße entlang der "Line of Actual Control (LAC)" forderten mindestens 20 Tote auf indischer Seite und eine unbekannte Anzahl von Opfern auf chinesischer Seite. Laut einer offiziellen Stellungnahme vom 5.6.2020 wollen beide Länder die Situation friedlich deeskalieren und eine gemeinsame Grenzlösung finden (FIDH 23.6.2020; vgl. BBC 3.7.2020, BAMF 8.6.2020).
Quellen:
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Punjab
Letzte Änderung: 23.10.2020
Der Terrorismus im Punjab ist Ende der 1990er Jahre nahezu zum Erliegen gekommen. Die meisten hochkarätigen Mitglieder der verschiedenen militanten Gruppen haben den Punjab verlassen und operieren von anderen Unionsstaaten oder Pakistan aus. Finanzielle Unterstützung erhalten sie auch von Sikh-Exilgruppierungen im westlichen Ausland (ÖB 9.2020).
Der illegale Waffen- und Drogenhandel von Pakistan in den indischen Punjab hat sich in letzter Zeit verdreifacht. Es gibt Anzeichen von konzertierten Versuchen militanter Sikh-Gruppierungen im Ausland gemeinsam mit dem pakistanischen Geheimdienst ISI, die aufständische Bewegung in Punjab wiederzubeleben. Indischen Geheimdienstinformationen zufolge werden Kämpfer der Babbar Khalsa International (BKI), einer militanten Sikh-Organisation in Pakistan von islamischen Terrorgruppen wie Lashkar-e-Toiba (LeT) trainiert, BKI hat angeblich ein gemeinsames Büro mit der LeT im pakistanischen West-Punjab errichtet. Die Sicherheitsbehörden im Punjab konnten bislang die aufkeimende Wiederbelebung der aufständischen Sikh-Bewegung erfolgreich neutralisieren (ÖB 9.2020). Im Punjab haben die Behörden besondere Befugnisse, ohne Haftbefehl Personen zu suchen und zu inhaftieren (USDOS 11.3.2020; vgl. BBC 20.10.2015).
Die Menschenrechtslage im Punjab stellt sich nicht anders als im übrigen Indien dar. Jüngste Berichte internationaler Menschenrechts-NGOs (Amnesty International, Human Rights Watch), aber auch jene des US State Department enthalten keine gesonderten Informationen zum Punjab (ÖB 9.2020).
Neben den angeführten Formen der Gewalt, stellen Ehrenmorde vor allem in Punjab, Uttar Pradesh und Haryana weiterhin ein Problem dar (USDOS 11.3.2020).
Laut Angaben des indischen Innenministeriums zu den Zahlen der Volkszählung im Jahr 2011 leben von den 21 Mio. Sikhs 16 Mio. im Punjab (MoHA o.D.). Es gibt derzeit keine Hinweise darauf, dass Sikhs alleine auf Grund ihrer Religionszugehörigkeit von der Polizei willkürlich verhaftet oder misshandelt würden. Auch stellen die Sikhs 60 Prozent der Bevölkerung des Punjabs, einen erheblichen Teil der Beamten, Richter, Soldaten und Sicherheitskräfte. Auch hochrangige Positionen stehen ihnen offen (ÖB 9.2020).
Das South Asia Terrorism Portal verzeichnet in einer Aufstellung für das Jahr 2016 insgesamt 25 Todesopfer durch terrorismusrelevante Gewalt in Punjab. Im Jahr 2017 wurden 8 Personen durch Terrorakte getötet, 2018 waren es 3 Todesopfer und im Jahr 2019 wurden durch terroristische Gewalt 2 Todesopfer registriert [Anmerkung: die angeführten Zahlen beinhalten Zivilisten, Sicherheitskräfte u