Entscheidungsdatum
15.10.2021Norm
AsylG 2005 §3Spruch
W124 2128787-4/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. FELSEISEN als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Indien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 1 und Abs. 2 VwGVG iVm § 68 Abs. 1 AVG und § 57 AsylG als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Vorverfahren:
1.1 Der Beschwerdeführer (in der Folge: BF), ein indischer Staatsangehöriger, reiste unrechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am XXXX erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz. In der am selben Tag erfolgten niederschriftlichen Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab er zu seinem Fluchtgrund an, er sei im Herkunftsstaat Mitglied der „Congress Party“ gewesen und sei aus diesem Grund sowohl willkürlichen Festnahmen durch die Polizei als auch gezielten Verfolgungshandlungen von Mitgliedern der Partei Akali Dal ausgesetzt gewesen.
1.2 Am XXXX erfolgte die Einvernahme des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: Bundesamt), im Rahmen welcher er zu seiner Person zusammengefasst angab, er gehöre der Volksgruppe der Jat sowie der Religionsgemeinschaft der Sikhs an. Im Herkunftsstaat habe er 10 Jahre die Schule besucht und als Landwirt gearbeitet. Sein Bruder, seine drei Schwestern, seine Ehefrau, sein Sohn sowie seine gesamte Verwandtschaft würden nach wie vor in Indien leben. Die in der Erstbefragung dargelegten Fluchtgründe hielt er im Wesentlichen aufrecht.
Ferner erstattete er im Wege seiner Vertretung am XXXX eine schriftliche Stellungnahme.
1.3 Mit Bescheid des Bundesamtes vom XXXX wurde der Antrag des Beschwerdeführers sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat abgewiesen (Spruchpunkt I. und II.). Ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Gegen ihn wurde gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Indien zulässig ist (Spruchpunkt III.). Unter Spruchpunkt IV. wurde ihm eine Frist von 14 Tagen zur freiwilligen Ausreise eingeräumt.
Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX , XXXX , als unbegründet abgewiesen. Begründend wurde betreffend die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheids festgehalten, eine Verfolgung aus asylrelevanten Gründen habe der BF nicht glaubhaft machen können und habe eine solche auch sonst nicht festgestellt werden können. Der BF habe den Herkunftsstaat vielmehr aus persönlichen und wirtschaftlichen Gründen verlassen. Diese Gründe würden jedoch keine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention darstellen. Im Ermittlungsverfahren sei nicht hervorgekommen, dass der BF im Fall der Rückkehr nach Indien Folter, einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein könnte. Er habe im Verfahren vorgebracht, an Herzproblemen zu leiden. Dieses gesundheitliche Problem falle jedoch nicht in den Schutzbereich des Art. 3 EMRK, da gegenständlich keine akut lebensbedrohliche Erkrankung vorliege und der BF im Herkunftsstaat Zugang zu hinreichender medizinischer Versorgung habe. Der BF sei überdies arbeitsfähig und verfüge über mehrjährige Schulbildung, sodass er im Herkunftsstaat in der Lage sei, durch die Ausübung einer Erwerbstätigkeit ein ausreichendes Einkommen zu erzielen. Ferner könne davon ausgegangen werden, dass ihm im Rahmen des Familienverbandes eine ausreichende wirtschaftliche und soziale Unterstützung zuteilwerde.
Das Erkenntnis wurde der Vertretung des BF am XXXX im elektronischen Rechtsverkehr hinterlegt, sodass es am XXXX in Rechtskraft erwachsen ist.
1.4. Am XXXX erfolgte vor dem Bundesamt in Anwesenheit seines Vertreters eine niederschriftliche Einvernahme des BF zur Befragung zu seiner Identität und zu seinem Aufenthalt sowie zur Sicherung der Ausreise. Der BF gab unter anderem an, bereits dreimal die Botschaft aufgesucht zu haben, da ihm dies von der Caritas gesagt worden sei. Weiter merkte er an, zweimal täglich den Tempel zu besuchen. Er habe kein Problem damit, nach Indien zurückzukehren; er benötige lediglich einen Reisepass. Im Herkunftsstaat würden noch seine Ehefrau, sein Sohn sowie sein Bruder leben. Zu seiner Ehefrau und seinem Sohn habe er allerdings keinen Kontakt, zumal seine Ehefrau gekränkt sei, weil er bereits so lange in Österreich sei.
Im Rahmen der Einvernahme wurde er auf die Möglichkeit der freiwilligen Ausreise mithilfe des „Verein Menschenrechte“ hingewiesen. Ein entsprechendes Informationsblatt wurde ihm auf eigenen Wunsch ausgehändigt. Abschließend wurde die Niederschrift dem BF und seiner Vertretung zur Durchsicht vorgelegt sowie vorgelesen. Abschließend wurde die Niederschrift sowohl vom BF als auch von seinem Vertreter unterfertigt.
1.5. Mit Bescheid des Bundesamtes vom XXXX wurde gegen den BF gemäß § 10 Abs. 2 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Indien zulässig sei. Ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Ferner wurde ihm keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt und einer Beschwerde gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt. Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 FPG wurde gegen ihn ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.
Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX , XXXX , als unbegründet abgewiesen.
2. Gegenständliches Verfahren:
2.1. Am XXXX stellte der BF den verfahrensgegenständlichen (zweiten) Antrag auf internationalen Schutz.
Am selben Tag erfolgte seine Erstbefragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes, im Rahmen welcher er zur Begründung seines Antrags anführte, er habe bisher aus Scham und Angst nicht erwähnt, dass er bereits sein ganzes Leben homosexuell sei. Dies sei auch einer der Gründe gewesen, weshalb er den Herkunftsstaat verlassen habe. Weder in Dubai, wo er sich im Jahr 2010 aufgehalten habe, noch in seinem Herkunftsstaat werde Homosexualität akzeptiert. Auch seine Religion verbiete Homosexualität. Hätte davon jemand Kenntnis erlangt, wäre er getötet worden.
In der Erstbefragung legte der BF überdies die Vollmacht seiner Vertretung vor.
2.2. Mit Verfahrensanordnung vom XXXX wurde dem BF mitgeteilt, dass beabsichtigt werde, seinen Antrag auf internationalen Schutz wegen entschiedener Sache zurückzuweisen.
Die Verfahrensanordnung sowie das aktuelle Länderinformationsblatt Indien wurden der Vertretung des BF am XXXX zugestellt.
2.3. Am XXXX erfolgte die Einvernahme des BF vor dem Bundesamt, im Rahmen welcher er anführte, gesund zu sein und lediglich aufgrund seines Alters an Vergesslichkeit zu leiden. Gegen COVID-19 sei er bereits geimpft.
Zur Frage, ob seine Angaben in der Erstbefragung den Tatsachen entsprechen würden, führte der BF an, der Dolmetscher sei ein Afghane gewesen. Folglich habe er ihn nicht immer ganz richtig verstanden. Er habe die Niederschrift einem Freund, welcher ein wenig Deutsch könne, zur Durchsicht gegeben. Dieser habe ihm erklärt, in der Niederschrift richte sich alles gegen den BF. Es sei protokolliert worden, dass er einer Beschäftigung nachgehe, was nicht den Tatsachen entspreche. Er habe lediglich angegeben, dass er einem Freund helfe, damit er über die Runden komme. Auf Nachfrage, ob er damit die Befragung vor der Polizei am XXXX oder das Vorverfahren anspreche, fragte der BF nach, ob die Einvernahme dieses Jahr stattgefunden habe. In der Folge wurde ihm seitens der Behörde erklärt, die Frage beziehe sich auf seine Einvernahme, welche vor einem Monat und einer Woche stattgefunden habe. Daraufhin erklärte der BF, sich erinnern zu können und zu wissen, was er gesagt habe.
Nach Aufforderung, sein Vorbringen kurz zusammenzufassen, gab er an, er schäme sich gegenüber der Dolmetscherin. Er habe jetzt mehr Sex mit Männern. Auf Vorhalt, dass in der Erstbefragung auch eine Frau gedolmetscht habe, führte der BF an, er habe sich auch damals geschämt und die Dolmetscherin gefragt, ob es ihr nicht unangenehm sei. Auf Nachfrage, warum dies einer Frau unangenehm sein könnte, antwortete er, in der indischen Kultur werde Homosexualität als sehr schlimm empfunden. Seine Homosexualität sei mitunter auch ein Fluchtgrund gewesen. Er gehöre der Religion der Sikhs an. In seiner Religion sei dies sehr, sehr schlimm. Bei den Sikhs drohe Homosexuellen der Tod.
Der BF sei verheiratet und habe einen Sohn; er habe dieses Verlangen jedoch bereits seit seiner Jugend. Aufgrund seiner Religion habe er seine Homosexualität in den Vorverfahren nicht erwähnt. Sein Anwalt sei ein indischer Staatsangehöriger gewesen. Deshalb habe er sich ihm ebenso wenig anvertrauen können. Nunmehr habe er seinen Anwalt gewechselt.
Im Fall der Rückkehr fürchte er, von den Sikhs aufgrund seiner Homosexualität getötet zu werden. Auf Vorhalt, dass seit September 2018 Homosexualität in Indien zwischen einwilligenden Erwachsenen rechtlich nicht mehr strafbar sei und Diskriminierung aus diesem Grund verboten worden sei, gab der BF zu Protokoll, dies möge wohl so sein; im Glauben der Sikhs gehe man aber davon aus, dass es eine gute Tat sei, einen Homosexuellen zu töten. Im Herkunftsstaat habe er seine sexuelle Orientierung nie offengelegt.
Auf Vorhalt seiner Angaben in der Einvernahme am XXXX , wonach er mit der Rückkehr in den Herkunftsstaat keine Probleme habe, führte der BF an, dies sei ein Problem, welches der Dolmetscher verursacht habe. Der BF habe so etwas nie gesagt. Er habe den Dolmetscher nicht gut verstanden. Dieser habe seine eigene Sprache gehabt und habe dazwischen ein wenig Hindi gesprochen. Seinem Anwalt habe er von den Problemen berichtet, dieser habe jedoch nichts unternommen.
Befragt, ob der BF Kontakt zur „Homosexuellen-Szene“ in Wien habe, führte er an, er sei einmal in einem Club gewesen, ansonsten gehe er nicht in solche Clubs. Zur Szene in Wien habe er keinen Kontakt, nur zu jener in Indien. Auf explizite Nachfrage führte er an, in Indien gebe es eine solche Szene nicht. In ihrem Haushalt in Indien habe ein Nepalese gearbeitet, mit welchem er aktiv geworden sei, als er sehr jung gewesen sei. Seine Eltern hätten den BF später verheiratet. Sie hätten natürlich nichts über seine Neigung gewusst.
Auf Nachfrage, ob er Fotos von Partnern habe, führte der BF an, in Dubai habe er schon solche Fotos von ihm und einem Freund gehabt.
Zur Frage, warum er noch an seiner Religion hänge, obwohl diese seine sexuelle Orientierung ablehne, führte der BF an, er gehe aktuell nur mehr einmal im Jahr zum Tempel, er lebe allerdings seinen Glauben, auch wenn er anders sei.
2.4. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , wurde der gegenständliche Antrag auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten zurückgewiesen (Spruchpunkt I. und II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.).
Festgestellt wurde zusammengefasst, dass der BF gesund und arbeitsfähig sei. Ferner sei er gegen COVID-19 geimpft und gehöre keiner Risikogruppe an. Seit rechtskräftigem Abschluss seines ersten Asylverfahrens habe sich der maßgebliche Sachverhalt nicht geändert. Im gegenständlichen Verfahren habe er keine neuen und glaubhaften Gründe vorgebracht. Auf den Seiten 12 bis 33 des angefochtenen Bescheids wurden Feststellungen zur allgemeinen Situation in Indien getroffen.
Beweiswürdigend wurde hinsichtlich seines Fluchtvorbringens angeführt, es sei nicht nachvollziehbar, weshalb der BF nicht bereits früher angeführt habe, homosexuell zu sein und aus diesem Grund Verfolgung zu befürchten. Auch gegenüber seinen rechtlichen Vertretungen habe er sich diesbezüglich nicht geäußert.
Im Jahr XXXX sei eine Einvernahme des BF in Anwesenheit seines Rechtsanwaltes erfolgt. Der BF habe seinerzeit angeführt, der einzige Grund, der seiner Rückkehr nach Indien entgegenstünde, sei das fehlende Reisedokument. Sein Vorbringen im gegenständlichen Verfahren, wonach seine Angaben seinerzeit falsch protokolliert worden seien, sei nicht glaubhaft, zumal ihm seine Angaben rückübersetzt worden seien und sowohl er als auch sein Vertreter die Niederschrift unterfertigt hätten. Auch der Umstand, dass der BF verheiratet sei und einen Sohn habe, spreche gegen die Annahme, dass er homosexuell sei. Festgehalten wurde weiter, dass er in der Einvernahme vor dem Bundesamt am XXXX angeführt habe, zweimal täglich den Sikh-Tempel zu besuchen. Warum er derart an seiner Religion festhalte, obwohl ihn Anhänger dieser Religion bei Kenntnis seiner sexuellen Orientierung töten würden, sei nicht nachvollziehbar. Sein Vorbringen, wonach er im Fall der Rückkehr nach Indien bedroht oder verfolgt werde, stelle lediglich eine Mutmaßung dar, zumal er vor seiner Ausreise nie aufgrund seiner sexuellen Orientierung verfolgt worden sei. Ferner wurde darauf hingewiesen, dass der BF nicht angeführt habe einen Partner zu haben, sondern lediglich erwähnt habe, in seiner Jugend mit einem nepalesischen Hausangestellten intim gewesen zu sein. Ein darüberhinausgehendes Vorbringen zu Partnerschaften habe er nicht erstattet. Fotos oder andere Beweismittel, welche ihn mit Partner zeigen würden, habe er überdies nicht vorgelegt. In einer Gesamtschau sei davon auszugehen, dass er mit seinem Vorbringen zu seiner Sexualität lediglich versucht habe, einen asylrelevanten Sachverhalt zu konstruieren. Aus dem Länderinformationsblatt ergebe sich überdies, dass Homosexuelle in Indien keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt seien. Es werde nicht verkannt, dass es in ländlichen Gebieten zu Diskriminierung komme. Eine systematische Verfolgung finde jedoch nicht statt und seien die indischen Sicherheitsbehörden überdies schutzfähig.
Rechtlich wurde erwogen, dass weder hinsichtlich der maßgeblichen Sachlage noch hinsichtlich des Begehrens und/oder der anzuwendenden Rechtsnormen seit rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens über den ersten Antrag auf internationalen Schutz eine Änderung eingetreten sei, welche eine andere rechtliche Beurteilung des Antrags nicht von vornherein als ausgeschlossen erscheinen ließe. Folglich stehe die Rechtskraft des Erkenntnisses vom XXXX , XXXX , dem neuerlichen Antrag entgegen. Die Voraussetzungen zur Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG würden im Übrigen nicht vorliegen.
2.5. Mit Schriftsatz vom XXXX erhob der BF im Wege seiner Vertretung gegen den oben genannten Bescheid vollinhaltlich Beschwerde. Nach Darstellung des Sachverhalts wurde zunächst ausgeführt, es werde nicht in Frage gestellt, dass das entscheidende Organ der Behörde mit der nötigen Feinfühligkeit und offensichtlichen Unvoreingenommenheit die vorgebrachten Gründe des BF einer Überprüfung unterzogen habe. Allerdings habe die Behörde ausgeführt, es sei nicht nachvollziehbar, dass der BF in den Vorverfahren seine sexuelle Orientierung und die daraus resultierende Gefährdung im Herkunftsstaat gegenüber seiner rechtsfreundlichen Vertretung nicht erwähnt habe. In diesem Zusammenhang habe die Behörde jedoch nicht berücksichtigt, dass der BF von einem indischen Staatsangehörigen rechtlich vertreten worden sei, weshalb es für den BF völlig denkunmöglich gewesen sei, sich gegenüber seinem Vertreter zu outen. Der einzige Grund, weshalb der BF angeführt habe, kein Problem mit einer Rückkehr nach Indien zu haben, sei gewesen, dass ihm der seinerzeitige Rechtsvertreter versichert habe, er werde für den BF einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels stellen. Im Bescheid werde weiter ausgeführt, dass der BF verheiratet sei und einen Sohn habe, weshalb seine Angaben zur Homosexualität nicht glaubhaft seien. Diese Argumentation sei nicht nachvollziehbar, da in Ländern, in welchen Homosexualität bestraft werde, die Betroffenen sich den Vorstellungen der Gesellschaft anpassen und nach außen ein einwandfreies Leben führen. Der BF habe überdies mit seiner Religion nicht völlig gebrochen, da er in der Gesellschaft der Sikhs verwurzelt sei. Der Umstand, dass der BF noch nie wegen seiner sexuellen Orientierung bedroht worden sei, ändere nichts an der grundsätzlich bestehenden Verfolgungsgefahr. Überdies stelle es Allgemeinwissen dar, dass Homosexuelle nicht gleich die Möglichkeit zu Kontakt mit Gleichgesinnten hätten und daher zur Enthaltsamkeit gezwungen werden. Hiermit lasse sich auch begründen, dass der BF in Bezug auf seine Partnerschaften lediglich von der Begegnung mit einem nepalesischen Hausangestellten in seiner Jugend berichtet habe.
2.6. Das Bundesamt legte dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde unter Anschluss der Verfahrensakten vor, wo diese am XXXX einlangten.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1 Zur Person des Beschwerdeführers
Der BF ist indischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Jat an und bekennt sich zum Sikhismus. Er stammt aus dem indischen Bundesstaat Punjab. Seine Erstsprache ist Punjabi. Im Herkunftsstaat hat er 10 Jahre die Schule besucht und in der Folge als Landwirt gearbeitet. Seine Ehefrau, sein volljähriger Sohn sowie sein Bruder leben nach wie vor in Indien.
Der BF ist arbeitsfähig und gesund. Es ist nicht wahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer im Fall einer COVID-19-Erkrankung einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf erleiden würde.
1.2. Zum Aufenthalt des Beschwerdeführers sowie zu seinen Anträgen auf internationalen Schutz
Der BF stellte in Österreich nach unrechtmäßiger Einreise am XXXX erstmalig einen Antrag auf internationalen Schutz. Zu seinen Fluchtgründen gab er in diesem Vorverfahren zusammengefasst an, er sei Mitglied der Kongresspartei gewesen und sei im Herkunftsstaat aus politischen Gründen verfolgt worden.
Mit Bescheid des Bundesamtes vom XXXX wurde sein erster Antrag auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf Indien abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus besonders berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm nicht erteilt. Gegen den BF wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen und gleichzeitig festgestellt, dass seine Abschiebung nach Indien zulässig ist. Die Frist zur freiwilligen Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX , XXXX , als unbegründet abgewiesen. Dieses Erkenntnis wurde dem BF im Wege seiner Vertretung am XXXX im elektronischen Rechtsverkehr hinterlegt.
Da der BF unrechtmäßig in Österreich verblieb, wurde nach Durchführung eines Ermittlungsverfahrens mit Bescheid des Bundesamtes vom XXXX gegen ihn eine Rückkehrentscheidung sowie ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen. Seine Abschiebung nach Indien wurde für zulässig erklärt. Einer Beschwerde wurde die aufschiebende Wirkung aberkannt und dem BF wurde keine Frist zur freiwilligen Ausreise eingeräumt. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX , XXXX , als unbegründet abgewiesen.
Am XXXX stellte der BF den verfahrensgegenständlichen zweiten Antrag auf internationalen Schutz. Zu seinen Flucht- und Verfolgungsgründen brachte er vor, bereits sein gesamtes Leben homosexuell zu sein und daher im Fall der Rückkehr nach Indien einer asylrelevanten Verfolgung aufgrund seiner sexuellen Orientierung ausgesetzt zu sein. Diesem Vorbringen kommt jedoch bereits im Kern keine Glaubhaftigkeit zu.
Er brachte auch keine sonstige einen glaubhaften Kern aufweisende Sachverhaltsänderung vor, welche denkmöglich zu einem anderen Ergebnis als im ersten mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom XXXX rechtskräftig abgeschlossenen Asylverfahren führen kann. Im Herkunftsstaat ist der Beschwerdeführer keiner Verfolgung aus einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen ausgesetzt. In der Zwischenzeit sind auch keine Umstände eingetreten, wonach dem BF in Indien aktuell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit seiner Person drohen würde oder ihm im Falle einer Rückkehr nach Indien die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre.
1.3. Auszüge aus dem Länderinformationsblatt Indien, Version 4
COVID-19
Letzte Änderung: 21.05.2021
Im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie verhängte die indische Regierung am 25. März 2020 eine Ausgangssperre über das gesamte Land, die nur in Einzelfällen (Herstellung lebensnotwendiger Produkte und Dienstleistungen, Einkaufen für den persönlichen Bedarf, Arztbesuche, usw.) durchbrochen werden durfte. Trotz der Ausgangssperre sanken die Infektionszahlen nicht. Seit der ersten Aufsperrphase, die am 8. Juni 2020 begann, schießt die Zahl der Infektionen noch steiler als bisher nach oben. Größte Herausforderung während der Krise waren die Millionen von Wanderarbeitern, die praktisch über Nacht arbeitslos wurden, jedoch auf Grund der Ausgangssperre nicht in ihre Dörfer zurückkehren konnten (ÖB 9.2020; vgl. HRW 13.1.2021). Viele von ihnen wurden mehrere Wochen in Lagern unter Quarantäne gestellt (also de facto eingesperrt), teilweise mit nur schlechter Versorgung (ÖB 9.2020). Menschen mit Beeinträchtigungen sind von coronabedingten Maßnahme wie Abriegelungen und sozialen Distanzierungen besonders betroffen. Der Zugangs zu medizinischer Versorgung und lebenswichtigen Gütern und der Ausübung sozialer Distanzierung, insbesondere für diejenigen, die persönliche Unterstützung für Aufgaben des täglichen Lebens erhalten (HRW 13.1.2021). Während der ersten Wochen der COVID-19 Pandemie, wurden Muslime für die Verbreitung des Coronavirus, auch von Vertretern der Regierungsparteien verantwortlich gemacht (FH 3.3.2021; vgl. HRW 13.1.2021).
Nach Angaben des indischen Gesundheitsministeriums vom 11. Oktober 2020 wurden seit Beginn der Pandemie mehr als sieben Millionen Infektionen mit COVID registriert. Die täglichen offiziellen Fallzahlen stiegen zwar zuletzt weniger schnell als noch im September, die Neuinfektionen nehmen in absoluten Zahlen jedoch schneller zu als in jedem anderen Land der Welt. Medien berichten in einigen Teilen des Landes von einem Mangel an medizinischem Sauerstoff in Krankenhäusern (BAMF 12.10.2020).
Die Lage in Indien, dass mit Bezug auf das Infektionsgeschehen (neben den USA und Brasilien) zu den am schwersten von der COVID-19-Pandemie betroffenen Ländern weltweit zählt, hat sich sich gegenüber dem Sommer 2020 mit damals fast 100.000 Neuinfektionen pro Tag inzwischen etwas entspannt. Es erkranken offiziellen Angaben zufolge nach wie vor etwa 40.000 Menschen täglich am Virus. In den Ballungszentren kann die medizinische Versorgung weitestgehend aufrecht erhalten werden (GTAI 3.12.2020). Indiens Wirtschaft wurde durch die COVID-19-Pandemie stark beeinträchtigt (DFAT 10.12.2020; vgl. GTAI 3.12.2020). Das Land rutschte im zweiten Quartal des Geschäftsjahres 2020-21 erstmals in eine wirtschaftliche Rezession (PRC 18.3.2021). Es wird allgemein erwartet, dass das Land ab 2021 zu einem nachhaltigen Wachstum zurückkehren wird (DFAT 10.12.2020; vgl. GTAI 3.12.2020). Nach dem zweimonatigen harten Lockdown im Frühjahr 2020 hat die indische Regierung das öffentliche Leben im Rahmen ihrer Unlock-Strategie schrittweise wieder hochgefahren. Die Bundesstaaten und Unionsterritorien haben dabei weitreichendere Entscheidungsbefugnisse, welche Lockerungen sie umsetzen und welche nicht. Mit den bestehenden Einschränkungen sollen vor allem Superspreader-Events wie religiöse Großveranstaltungen und Hochzeiten eingedämmt werden. Massentests, Kontaktnachverfolgung, Isolierung von Infizierten und die Abschottung von Gebieten mit hohen Fallzahlen (Containment Zones) sollen helfen, das Virus zurückzudrängen (GTAI 3.12.2020; vgl. WKO 13.1.2021). Es kann daher vereinzelt und regional sowie zeitlich begrenzt zu erneuten Lockdowns kommen. Eine Skizzierung in „Red Zone“, „Orange Zone“ und „Green Zone“ wird von der Regierung des Bundesstaates/Unionsterritoriums in Absprache mit dem Gesundheitsministerium und der nationalen Regierung entschieden (WKO 13.1.2021).
Gegen regierungskritische Äußerungen, auch im Zusammenhang mit Maßnahmen der Regierung im Umgang mit der COVID-19 Pandemie wurden mittels aus der Kolonialzeit stammenden Gesetzen zur Staatsverhetzung und dem im Jahr 2000 erlassenen IT-Gesetz vorgegangen (FH 3.3.2021). Medienvertreter sehen sich Drohungen, Verhaftungen, Strafverfahren oder körperlichen Angriffen durch Mobs oder der Polizei wegen der Berichterstattung über die Pandemie ausgesetzt (HRW 13.1.2021). Mehrere von der Regierung zur Eindämmung einer Verbreitung der Pandemie getroffenen Maßnahmen wurden von Menschenrechtsanwälten als invasiv angesehen (FH 3.3.2021).
Im ersten Quartal 2021 wird Indien mit einem Anstieg der Fallzahlen vor einer zweiten COVID-19 Welle erfasst (TOI 21.3.2021; vgl. TFE 20.3.2021) und verzeichnete im Zeitraum ab April/Mai 2021 die höchsten Zahlen an täglichen Todesfällen wegen des Coronavirus seit Beginn der Pandemie (BAMF 3.5.2021). Kritik äußert sich aus dem Umstand heraus, dass Indien, ob seiner Pharmaindustrie, als "Apotheke der Welt" durch die Lieferung von Covid-19-Impfstoffen an viele Länder der Welt genießt (FE 20.3.2021; vgl. TOI 21.3.2021), gleichzeitig jedoch bei der Durchimpfung der eigenen Bevölkerung landesweit lediglich einen Wert von rund zwei Prozent erreicht (HO 28.4.2021).
Auch der Umstand, dass im Zuge der Regionalwahlen in einigen Bundesstaaten große Kundgebungen mit zum Teil Zehntausender Besucher abgehalten wurden, wie auch die Durchführung des hinuistischen Festes Kumbh-Mela in Haridwar im nördlichen Bundesstaat Uttarakhand, an dem im Zeitraum von Jänner 2021 bis zum 27. April knapp 25 Millionen Hindus vor Ort teilgenommen haben, attestieren der indischen regierung eine "praktizierte Sorglosigkeit". Die Aussage der BJP bei einer Wahlveranstaltung im Bundestaat Assam in der verkündet wurde, "Wahlveranstaltungen und religiöse Zusammenkünfte tragen nicht zur Verbreitung von Covid-19 bei", wird kritisiert (BAMF 3.5.2021; vgl. HO 28.4.2021).
Seit Mai 2021 sind alle Erwachsenen impfberechtigt, davor nur über 45-Jährige. In mehreren Bundesstaaten des Landes ist der Impfstoff ausgegangen, Hilfsgüter aus mehreren Ländern wie Beatmungsgeräte, Anlagen zur Sauerstofferzeugung, Medikamente und Impfstoff werden Indien von der internationalen Staatengemeionschaft zur Verfügung gestellt. Medienberichten zufolge will Indien die eigene Impfstoffproduktion bis Juni 2021 erhöhen, von der staalichen indischen Eisenbahngesellschaft gab bekannt, 4.000 Waggons mit einer Kapazität von 64.000 Betten als provisorische Stationen für Corona-Patienten bereitzustellen (BAMF 3.5.2021).
Alle Experten davon aus, dass kurzfristig die Fallzahlen wie auch die Zahlen der Toten weiter ansteigen werden, da das staatliche Gesundheitssystem in vielen Landesteilen schon jetzt an seine Grenzen gestoßen ist. Eine mittelfristige Prognose ist noch unklar. Eine Hoffnung stellt, bedingt durch den bereits erfolgten sehr breiten Ansteckung der Bevölkerung das Erreichen einer Herdenimmunität dar (HO 25.4.2021).
[…]
Sicherheitslage
Letzte Änderung: 28.05.2021
Indien hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einer regionalen Hegemonialmacht in Südostasien entwickelt. Nachdem sich das Land während des Kalten Krieges vor allem innerhalb der Blockfreienbewegung profilierte, verfolgt es heute eine eindeutig pro-westliche Politik. Das Land ist ein wichtiger Handelspartner der EU und der Vereinigten Staaten (BICC 1.2021).
Es gibt in Indien eine Vielzahl von Spannungen und Konflikten, Gewalt ist an der Tagesordnung (GIZ 1.2021a). Aufstände gibt es auch in den nordöstlichen Bundesstaaten Assam, Manipur, Nagaland sowie in Teilen Tripuras. In der Vergangenheit konnte eine Zunahme von Terroranschlägen in Indien, besonders in den großen Stadtzentren, verzeichnet werden. Mit Ausnahme der verheerenden Anschläge auf ein Hotel in Mumbai im November 2008, wird Indien bis heute zwar von vermehrten, jedoch kleineren Anschlägen heimgesucht (BICC 1.2021). Aber auch in den restlichen Landesteilen gab es in den letzten Jahren Terroranschläge mit islamistischem Hintergrund. Im März 2017 platzierte eine Zelle des „Islamischen Staates“ (IS) in der Hauptstadt des Bundesstaates Madhya Pradesh eine Bombe in einem Passagierzug. Die Terrorzelle soll laut Polizeiangaben auch einen Anschlag auf eine Kundgebung von Premierminister Modi geplant haben (bpb 12.12.2017). Das Land unterstützt die US-amerikanischen Maßnahmen gegen den internationalen Terrorismus. Intern wurde eine drakonische neue Anti-Terror-Gesetzgebung verabschiedet, die Prevention of Terrorism Ordinance (POTO), von der Menschenrechtsgruppen fürchten, dass sie auch gegen legitime politische Gegner missbraucht werden könnte (BICC 1.2021).
Konfliktregionen sind Jammu und Kashmir (ÖB 9.2020; vgl. BICC 1.2021) und der von separatistischen Gruppen bedrohte Nordosten Indiens (ÖB 9.2020; vgl. BICC 1.2021, AA 23.9.2020). Der Punjab blieb im vergangenen Jahren von Terroranschlägen und Unruhen verschont (im Punjab wurden 2020 insgesamt 18 Vorfälle im Zusammenhang mit Terrorismus registriert (SATP 3.5.2021a). Neben den islamistischen Terroristen tragen die Naxaliten zur Destabilisierung des Landes bei. Von Chattisgarh aus kämpfen sie in vielen Unionsstaaten (von Bihar im Norden bis Andrah Pradesh im Süden) mit Waffengewalt gegen staatliche Einrichtungen. Im Nordosten des Landes führen zahlreiche Separatistengruppen (United Liberation Front Assom, National Liberation Front Tripura, National Socialist Council Nagaland, Manipur People’s Liberation Front etc.) einen Kampf gegen die Staatsgewalt und fordern entweder Unabhängigkeit oder mehr Autonomie (ÖB 9.2020; vgl. AA 23.9.2020). Der gegen Minderheiten wie Moslems und Christen gerichtete Hindu-Radikalismus wird selten von offizieller Seite in die Kategorie Terror eingestuft, sondern vielmehr als „communal violence“ bezeichnet (ÖB 9.2020).
Gewalttätige Operationen maoistischer Gruppierungen in den ostzentralen Bergregionen Indiens dauern an (ÖB 9.2020; vgl. AA 23.7.2020, FH 3.3.2021). Rebellen heben illegale Steuern ein, beschlagnahmen Lebensmittel und Unterkünfte und beteiligen sich an Entführungen und Zwangsrekrutierungen von Kindern und Erwachsenen. Zehntausende Zivilisten wurden durch die Gewalt vertrieben und leben in von der Regierung geführten Lagern. Unabhängig davon greifen in den sieben nordöstlichen Bundesstaaten Indiens mehr als 40 aufständische Gruppierungen, welche entweder eine größere Autonomie oder die vollständige Unabhängigkeit ihrer ethnischen oder Stammesgruppen anstreben, weiterhin Sicherheitskräfte an. Auch kommt es weiterhin zu Gewalttaten unter den Gruppierungen, welche sich in Bombenanschlägen, Morden, Entführungen, Vergewaltigungen von Zivilisten und in der Bildung von umfangreichen Erpressungsnetzwerken ausdrücken (FH 3.3.2021).
Das South Asia Terrorism Portal verzeichnet in einer Aufstellung für das Jahr 2017 insgesamt 812 Todesopfer durch terroristische Gewalt. Im Jahr 2018 wurden 940 Personen durch terroristische Gewalt getötet und im Jahr 2019 kamen 621 Menschen durch Terrorakte. 2020 belief sich die Opferzahl terroristischer Gewalt landesweit auf insgesamt 591 Tote. 2021 wurden bis zum 3. Mai insgesamt 164 Todesopfer durch terroristische Gewaltanwendungen registriert [Anmerkung: die angeführten Zahlen beinhalten Zivilisten, Sicherheitskräfte und Terroristen] (SATP 3.5.2021b).
Gegen militante Gruppierungen, die meist für die Unabhängigkeit bestimmter Regionen eintreten und/oder radikalen (z. B. Maoistisch-umstürzlerische) Auffassungen anhängen, geht die Regierung mit großer Härte und Konsequenz vor. Sofern solche Gruppen der Gewalt abschwören, sind in der Regel Verhandlungen über ihre Forderungen möglich. Gewaltlose Unabhängigkeitsgruppen können sich politisch frei betätigen (AA 23.9.2020).
Bauernproteste, die sich gegen die von der indischen Regierung verabschiedeten Gesetze zur Liberalisierung des Agrarsektors richten, dauern seit Monaten an. Widerstand hat sich vor allem bei Sikhs im Punjab – dem Brotkorb Indiens - formiert. Inzwischen protestieren aber auch Bauern in anderen Teilen des Landes. Als im Januar 2021 die Proteste in New Delhi gewalttätig wurden, antwortete die Regierung mit harten Maßnahmen. Da bei den Protesten viele Sikhs beteiligt sind und u.a. eine Sikh-Flagge im Roten Fort in Delhi gehisst wurde, unterstellt die indische Regierung eine Beteiligung der Khalistan-Bewegung an den Protesten (BAMF 22.3.2021).
Indien und Pakistan
Indien und Pakistan teilen sprachliche, kulturelle, geografische und wirtschaftliche Verbindungen, doch sind die Beziehungen der beiden Staaten aufgrund einer Reihe historischer und politischer Ereignisse in ihrer Komplexität verstrickt und werden durch die gewaltsame Teilung Britisch-Indiens im Jahr 1947, dem Jammu & Kashmir-Konflikt und die zahlreichen militärischen Konflikte zwischen den beiden Nationen bestimmt (EFSAS o.D.).
Pakistan erkennt weder den Beitritt Jammu und Kaschmirs zur indischen Union im Jahre 1947 noch die seit dem ersten Krieg im gleichen Jahr bestehende de-facto-Aufteilung der Region auf beide Staaten an. Indien hingegen vertritt den Standpunkt, dass die Zugehörigkeit Jammu und Kaschmirs in seiner Gesamtheit zu Indien nicht zur Disposition steht (Piazolo 2008). Die äußerst angespannte Lage zwischen Indien und Pakistan hat sich in der Vergangenheit immer wieder in Grenzgefechten entladen, welche oft zu einem größeren Krieg zu eskalieren drohten. Seit 1947 gab es bereits drei Kriege aufgrund des umstrittenen Kaschmir-Gebiets (BICC 1.2021; vgl. BBC 23.1.2018, DFAT 10.12.2020). Bewaffnete Zusammenstöße zwischen indischen und pakistanischen Streitkräften entlang der sogenannten "Line of Control (LoC)" haben sich in letzter Zeit verschärft und Opfer auf militärischer wie auch auf ziviler Seite gefordert. Seit Anfang 2020 wurden im von Indien verwalteten Kaschmir 14 Personen durch Artilleriebeschuss durch pakistanische Streitkräfte über die Grenz- und Kontrolllinie hinweg getötet und fünf Personen verletzt (FIDH 23.6.2020; vgl. KO 25.6.2020).
Indien wirft Pakistan dabei unter anderem vor, in Indien aktive terroristische Organisationen zu unterstützen. Pakistan hingegen fordert eine Volksabstimmung über die Zukunft der Region, da der Verlust des größtenteils muslimisch geprägten Gebiets als Bedrohung der islamischen Identität Pakistans wahrgenommen wird (BICC 1.2021). Es kommt immer wieder zu Schusswechseln zwischen Truppenteilen Indiens und Pakistans an der Waffenstillstandslinie in Kaschmir (BICC 1.2021). So drang die indische Luftwaffe am 26.2.2019 als Vergeltung für einen am 14. Februar 2019 verübten Selbstmordanschlag erstmals seit dem Krieg im Jahr 1971 in den pakistanischen Luftraum ein, um ein Trainingslager der islamistischen Gruppierung Jaish-e-Mohammad in der Region Balakot, Provinz Khyber Pakhtunkhwa, zu bombardieren (SZ 26.2.2019; vgl. FAZ 26.2.2019, WP 26.2.2019).
Modi nutzte den Konflikt mit Pakistan zur politischen Mobilisierung im Wahlkampf 2019. Dadurch wurde die pakistanfeindliche Stimmung in Indien so stark angeheizt, dass eine erneute Annäherung Indiens an Pakistan immer schwieriger wird. Seit der Veränderung des Status von Jammu und Kaschmir haben die Verletzungen des Waffenstillstands am Grenzverlauf zwischen Indien und Pakistan ("Line of Control") deutlich zugenommen (bpb 29.4.2021).
In einer Vereinbarung zwischen Indien und Pakistan mit dem Ziel "einen gegenseitig vorteilhaften und nachhaltigen Frieden zu erreichen", heißt es, dass nach längeren Verhandlungen die zuletzt bestehende Vereinbarung von 2003 über eine Waffenruhe "in Wort und Geist" ab dem 25. Februar 2021 umsetzen ist (Gov. o. I. 25.2.2021; vgl. SZ 26.2.2021).
Indien und China
Indien und China teilt eine 4.056 km lange Grenze (DFAT 10.12.2020). Der chinesisch-indische Grenzverlauf im Himalaya ist weiterhin umstritten (FAZ 27.2.2020). Nach wie vor gibt es zwischen Indien und China eine Reihe ungelöster territorialer Streitigkeiten, die 1962 zu einem kurzen Krieg zwischen den beiden Nachbarstaaten und zu mehreren Unruhen führten, darunter 2013, 2017 und 2020. Zusammenstöße zwischen Grenzpatrouillen an der 1996 vereinbarten "Line of Actual Control" (LAC), der De-facto-Grenze zwischen der von Indien verwalteten Region des Ladakh Union Territory und der von China verwalteten Region Aksai Chin sind häufig (DFAT 10.12.2020; vgl. FIDH 23.6.2020) und forderten am 15.6.2020 mindestens 20 Tote auf indischer Seite und eine unbekannte Anzahl von Opfern auf chinesischer Seite (FIDH 23.6.2020; vgl. BBC 3.7.2020, BAMF 8.6.2020). Dies waren die ersten Todesopfer an der LAC seit 1975. Von beiden Seiten wurden eine Reihe von Gesprächen auf politischer, diplomatischer und militärischer Ebene geführt. Die Situation bleibt jedoch festgefahren (DFAT 10.12.2020). Viele indische Experten sehen in der Entscheidung der Modi-Regierung vom August 2019, den Bundesstaat Jammu und Kaschmir aufzulösen, einen Auslöser für die gegenwärtige Krise (SWP 7.2020; vgl. Wagner C. 2020). Die chinesischen Gebietsübertretungen können somit als Reaktion auf die indische Politik in Kaschmir in der letzten Zeit gesehen werden (SWP 7.2020). Weitere Eskalationen drohen auch durch Gebietsverletzungen an anderen Stellen der mehr Grenze (FAZ 27.2.2020; vgl. SWP 7.2020). Sowohl Indien als auch China haben Ambitionen, ihren Einflussbereich in Asien auszuweiten (BICC 1.2021).
Zwar hat der amerikanisch-chinesische Handelskrieg die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Indien und China gestärkt und neue Möglichkeiten für indische Unternehmen auf dem chinesischen Markt geschaffen, dennoch fühlt sich Indien von Peking geopolitisch herausgefordert, da China innerhalb seiner „Neuen Seidenstraße“ Allianzen mit Indiens Nachbarländern Pakistan, Bangladesch, Nepal und Sri Lanka geschmiedet hat. Besonders der Wirtschaftskorridor mit dem Erzfeind Pakistan ist den Indern ein Dorn im Auge (FAZ 27.2.2020).
Indien und Bangladesch
Die Beziehungen zu Bangladesch sind von besonderer Natur, teilen die beiden Staaten doch eine über 4.000 km lange Grenze. Indien kontrolliert die Oberläufe der wichtigsten Flüsse Bangladeschs und war historisch maßgeblich an der Entstehung Bangladeschs während seines Unabhängigkeitskrieges beteiligt. Schwierige Fragen wie Transit, Grenzverlauf, ungeregelter Grenzübertritt und Migration, Wasserverteilung und Schmuggel werden in regelmäßigen Regierungsgesprächen erörtert (GIZ 1.2021a). In Nordost-Indien leben etwa 100.000 illegal eingewanderte Personen aus Bangladesch. Diese Einwanderer werden als ein erhöhtes Konfliktpotential wahrgenommen (BICC 1.2021). Auch bestehen kleinere Konflikte zwischen den beiden Ländern (BICC 1.2021).
Indien und Nepal
Die Beziehungen zwischen Indiens zu Nepal haben sich im Laufe des vergangenen Jahres [2020] verschlechtert (HRW 13.1.2021), nachdem das nepalesische Parlament im Juni 2020 eine Aufnahme dreier umstrittener Grenzgebiete in das nepalesische geographische Kartenwerk abgesegnet hat. Die kratographische Erfassung der umstrittenen Gebiete ist eine Reaktion auf den Bau einer Straße durch eines der umstrittenen Gebiete durch Indien, von welchem in einer im November 2019 überarbeitete Karte als zu Indien gehörig ausgewiesen wurde (HRW 13.1.2021). Nepal ist für Indien von besonderer sicherheitspolitischer Bedeutung (GIZ 1.2021a). Indien unterstützt die nepalesische Regierung mit Waffen und Gerät in ihrem Kampf gegen die maoistischen Guerilla (BICC 1.2021).
Indien und Sri Lanka
Die beiden Staaten pflegen ein eher ambivalentes Verhältnis (GIZ 1.2021a). Indien belieferte in der Vergangenheit Waffen die LTTE ("Tamil Tigers") in Sri Lanka (BICC 1.2021). Die tamilische Bevölkerungsgruppe in Indien umfasst ca. 65 Millionen Menschen, woraus sich ein gewisser Einfluss auf die indische Außenpolitik ergibt (GIZ 1.2021a). Indiensetzt sich für einen Prozess der Versöhnung der ehemaligen Gegnerschaften des Bürgerkrieges in Sri Lanka ein (HRW 13.1.2021).
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Punjab
Letzte Änderung: 31.05.2021
Der Terrorismus im Punjab ist Ende der 1990er Jahre nahezu zum Erliegen gekommen. Die meisten hochkarätigen Mitglieder der verschiedenen militanten Gruppen haben den Punjab verlassen und operieren von anderen Unionsstaaten oder Pakistan aus. Finanzielle Unterstützung erhalten sie auch von Sikh-Exilgruppierungen im westlichen Ausland (ÖB 9.2020).
Der illegale Waffen- und Drogenhandel von Pakistan in den indischen Punjab hat sich in letzter Zeit verdreifacht. Es gibt Anzeichen von konzertierten Versuchen militanter Sikh-Gruppierungen im Ausland gemeinsam mit dem pakistanischen Geheimdienst ISI, die aufständische Bewegung in Punjab wiederzubeleben. Indischen Geheimdienstinformationen zufolge werden Kämpfer der Babbar Khalsa International (BKI), einer militanten Sikh-Organisation in Pakistan von islamischen Terrorgruppen wie Lashkar-e-Toiba (LeT) trainiert, BKI hat angeblich ein gemeinsames Büro mit der LeT im pakistanischen West-Punjab errichtet. Die Sicherheitsbehörden im Punjab konnten bislang die aufkeimende Wiederbelebung der aufständischen Sikh-Bewegung erfolgreich neutralisieren (ÖB 9.2020). Im Punjab (und anderen Konfliktzonen) haben die Behörden besondere Befugnisse, ohne Haftbefehl Personen zu suchen und zu inhaftieren (USDOS 30.3.2021; vgl. BBC 20.10.2015). Die Menschenrechtslage im Punjab stellt sich nicht anders dar als im übrigen Indien (ÖB 9.2020).
Neben den angeführten Formen der Gewalt, stellen Ehrenmorde vor allem in Punjab (sowie Uttar Pradesh und Haryana) weiterhin ein Problem dar (USDOS 30.3.2021).
Laut Angaben des indischen Innenministeriums zu den Zahlen der Volkszählung im Jahr 2011 leben von den 21 Mio. Sikhs 16 Mio. im Punjab (MoHA o.D.). Es gibt derzeit keine Hinweise darauf, dass Sikhs alleine auf Grund ihrer Religionszugehörigkeit von der Polizei willkürlich verhaftet oder misshandelt würden. Auch stellen die Sikhs 60 Prozent der Bevölkerung des Punjabs, einen erheblichen Teil der Beamten, Richter, Soldaten und Sicherheitskräfte. Auch hochrangige Positionen stehen ihnen offen (ÖB 9.2020).
Das South Asia Terrorism Portal verzeichnet in einer Aufstellung für das Jahr 2016 insgesamt 25 Todesopfer durch terrorismusrelevante Gewalt in Punjab. Im Jahr 2018 wurden drei Personen durch Terrorakte getötet, 2019 waren es zwei Todesopfer und im Jahr 2020 wurden durch terroristische Gewalt drei Todesopfer registriert [Anmerkung: die angeführten Zahlen beinhalten Zivilisten, Sicherheitskräfte und Terroristen]. Bis zum 3.5.2021 wurden für Beobachtungszeitraum 2020 keine Opfer von verübten Terrorakten aufgezeichnet (SATP 3.5.2021).
In Indien ist die Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit rechtlich garantiert und praktisch von den Behörden auch respektiert. In manchen Grenzgebieten sind allerdings Sonderaufenthaltsgenehmigungen notwendig. Sikhs aus dem Punjab haben die Möglichkeit sich in anderen Landesteilen niederzulassen, Sikh-Gemeinden gibt es im ganzen Land verstreut. Sikhs können ihre Religion in allen Landesteilen ohne Einschränkung ausüben (ÖB 9.2020).
Im Zuge der Bauernproteste gegen die 2020 beschlossene Liberalisierung des Agrarsektors ist ein neues, gegen die religiöse Minderheit der Sikhs gerichtetes politisches Narrativ von der hindunationalistischen BJP instrumentalisiert worden, nachdem sich Widerstand gegen die Marktrefom auch bei den Sikhs aus dem Punjab formiert hatte. Politiker der Bharatiya Janata Party (BJP) unterstellten den protestierenden Sikhs vereinzelt, für ein unabhängiges Khalistan zu kämpfen und weckten damit in der Bevölkerung Erinnerungen an die Bewegung aus den 1980er und 1990er Jahren (BAMF 12.4.2021).
Aktive Mitglieder von verbotenen militanten Sikh-Gruppierungen, wie Babbar Khalsa International, müssen mit polizeilicher Verfolgung rechnen (ÖB 9.2020).
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Religionsfreiheit
Letzte Änderung: 31.05.2021
Die Verfassung garantiert Religionsfreiheit (USDOS 10.6.2020; vgl. AA 23.9.2020), sieht einen säkularen Staat vor, fordert den Staat auf, alle Religionen unparteiisch zu behandeln und verbietet Diskriminierung auf religiöser Basis. Nationales und bundesstaatliches Recht gewähren die Religionsfreiheit jedoch unter dem Vorbehalt der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral (USDOS 10.6.2020).
Neben den vier Religionen indischen Ursprungs - dem Hinduismus, dem Buddhismus, dem Jainismus und dem Sikhismus - gibt es in Indien den Islam und das Christentum sowie noch wenige andere Religionen. Die Inder sind laut dem indischen Zensus von 2011 zu 79,8 Prozent Hindus, 14,2 Prozent Muslime, 2,3 Prozent Christen und zu 1,7 Prozent Sikhs. Die restlichen 2 Prozent verteilen sich auf die anderen Religionsgemeinschaften (GIZ 1.2021d). Das friedliche Nebeneinander im multiethnischen und multireligiösen Indien ist zwar die Norm, allerdings sind in einigen Unionsstaaten religiöse Minderheiten immer wieder das Ziel fundamentalistischer Fanatiker, oft auch mit Unterstützung lokaler Politiker (ÖB 9.2020). Muslime, Sikhs, Christen, Parsis, Janais und Buddhisten gelten als gesetzlich anerkannte Minderheitengruppen unter den religiösen Gruppierungen (USDOS 10.6.2020). Das Gesetz legt fest, dass die Regierung die Existenz dieser religiösen Minderheiten schützt und Konditionen für die Förderung ihrer individuellen Identitäten begünstigt. Bundesstaatliche Regierungen sind dazu befugt, religiösen Gruppen gesetzlich den Status von Minderheiten zuzuerkennen (USDOS 10.6.2020).
Trotz des insgesamt friedlichen Zusammenlebens existieren zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften Spannungen, die in der Vergangenheit auch zu massiven Gewaltausbrüchen („riots“, Pogrome) führten (AA 23.9.2020). Im Jahr 2019 verschlechterten sich die Bedingungen für Religionsfreiheit weiter drastisch und religiöse Minderheiten werden zunehmend bedroht. Nach der Wiederwahl der Bharatiya Janata Party (BJP) im Mai nutzte die nationale Regierung ihre gestärkte parlamentarische Mehrheit, um auf nationaler Ebene die Religionsfreiheit einzuschränken. Besonders betroffen von diesen Maßnahmen sind Angehörige der Muslime (USCIRF 4.2020). Berichten zufolge kommt es zu religiös motivierten Diskriminierungen, Morden, Überfällen, Unruhen, Zwangskonversionen, Aktionen, die das Recht des Einzelnen auf Ausübung seiner religiösen Überzeugung einschränken sollen sowie zu Diskriminierung und Vandalismus (USDOS 10.6.2020). In den letzten Jahren häufen sich Berichte, wonach die Religionszugehörigkeit noch mehr als zuvor zu einem bestimmenden Identitätsmerkmal für den Einzelnen in der indischen Gesellschaft wird, wodurch Angehörige religiöser Minderheiten ein Gefühl des Ausgeschlossen-Werdens entwickeln (AA 23.9.2020). Der gegen Minderheiten wie Moslems und Christen gerichtete Hindu-Radikalismus wird selten von offizieller Seite in die Kategorie Terror eingestuft, vielmehr als „communal violence“ bezeichnet (ÖB 9.2020).
Gewalt gegen religiöse Minderheiten, wurde 2017 in Indien zu einer zunehmenden Bedrohung (HRW 18.1.2018), doch hat es die Regierung verabsäumt, Richtlinien des Obersten Gerichtshofs zur Verhinderung, wie auch der Untersuchung von Angriffen auf religiöse Minderheiten und andere gefährdete Gemeinschaften, welche häufig von BJP-Anhängern angeführt werden, umzusetzen (HRW 14.1.2020). 2019 hat es die Regierung verabsäumt, die Vorgaben des Obersten Gerichtshofs zur Verhinderung und Aufklärung von Übergriffen des in vielen Fällen von Bharatiya Janata Party (BJP)-Anhängern angeführten Mobs auf religiöse Minderheiten und andere vulnerable Bevölkerungsgruppen umzusetzen (HRW 14.1.2020).
Die Gesetzgebung in mehreren Staaten mit hinduistischer Mehrheit verbietet religiöse Konversion, die aus Zwang oder "Verlockung" erfolgt, was sehr weit ausgelegt werden kann, um Personen, die missionarisch tätig sind, zu verfolgen, manche Bundesstaaten fordern für Konversion eine Genehmigung der Regierung (FH 3.3.2021). Neun der 28 Bundesstaaten haben Gesetze, die religiöse Konversion einschränken: Arunachal Pradesh, Chhattisgarh, Gujarat, Himachal Pradesh, Jharkhand, Madhya Pradesh, Odisha, Rajasthan und Uttarakhand. Ein solches Gesetz in Rajasthan, das 2008 verabschiedet wurde, wurde 2017 von der Zentralregierung zurückgewiesen und ist nach wie vor nicht implementiert. Im August 2019 fügte die Legislative des Bundesstaates Himachal Pradesh "Nötigung" der Liste der Konversionsverbrechen hinzu, die auch Bekehrung durch "Betrug", "Gewalt" und "Anstiftung" umfassen. Die Definition von "Verführung" wurde erweitert und umfasst nun auch „das Angebot einer Versuchung“ (USDOS 10.6.2020).
Die Nationale Kommission für Minderheiten, welcher Vertreter der sechs ausgewiesenen religiösen Minderheiten und der Nationalen Menschenrechtskommission angehören, untersucht Vorwürfe von religiöser Diskriminierung. Das Ministerium für Minderheitenangelegenheiten ist auch befugt, Untersuchungen anzustellen. Diese Stellen verfügen jedoch über keine Durchsetzungsbefugnisse, sondern legen ihre gewonnenen Erkenntnisse zu Untersuchungen auf Grundlage schriftlicher Klagen durch Beschwerdeführer bei, welche strafrechtliche oder zivilrechtliche Verstöße geltend machen, und legen ihre Ergebnisse den Strafverfolgungsbehörden zur Stellungnahme vor. 18 der 28 Bundesstaaten des Landes und das National Capital Territory of Delhi verfügen über staatliche Minderheitenkommissionen, die auch Vorwürfe religiöser Diskriminierung untersuchen (USDOS 10.6.2020).
Personenstandsgesetze gelten nur für bestimmte Religionsgemeinschaften in Fragen der Ehe, Scheidung, Adoption und Vererbung. Das hinduistische, das christliche, das Parsi und das islamische Personenstandsgesetz sind rechtlich anerkannt und gerichtlich durchsetzbar (USDOS 10.6.2020).
Der Wahlsieg der Hindu-nationalistischen BJP im Jahr 2014 löste in der Öffentlichkeit eine intensive Diskussion über das Spannungsfeld zwischen den Werten einer säkularen Verfassung und einer in Teilen zutiefst religiösen Bevölkerung aus; und ging auch mit der Zunahme eines strammen (Hindu-) Nationalismus einher. Den erneuten deutlichen Wahlsieg der BJP 2019 sehen einzelne Gruppen daher mit Sorge (AA 23.9.2020).
Nach Angaben des Innenministeriums (MHA) fanden zwischen 2008 und 2017 7.484 Vorfälle gemeinschaftlicher Gewalt statt, bei denen mehr als 1.100 Menschen getötet wurden. Daten des Innenministeriums für 2018 bis 2019 liegen nicht vor, doch halten Vorfälle kommunaler Gewalt an (USDOS 10.6.2020). Hassverbrechen, gegen religiöse Minderheiten werden zumeist ungestraft begangen (AI 7.4.2021).
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Sikhs
Letzte Änderung: 31.05.2021
In Indien leben rund 20,8 Millionen Sikhs. Der Sikhismus ist die vorherrschende Religion im Bundesstaat Punjab (ca. 16 Millionen Menschen) mit bedeutenden Bevölkerungszahlen in Haryana (1,2 Millionen), Delhi (570.581), Rajasthan (872.930), Uttar Pradesh (643.500) und Uttarakhand (295.530) (DFAT 10.12.2020).
Die Sikhs (60 Prozent der Bevölkerung des Punjabs), stellen im Punjab einen erheblichen Teil der Beamten, Richter, Soldaten und Sicherheitskräfte. Auch hochrangige Positionen stehen ihnen (auch bundesweit – praktisch alle indischen Generalstabschefs der Bundesarmee waren bisher Sikhs) offen (ÖB 9.2020).
In der Verfassung werden Sikhs, Buddhisten und Jains im Hinduismus zusammengefasst. Der Sikhismus stellt also rechtlich keine eigenständige Religion dar. Streitpunkte zwischen den Sikh-Gruppen ist das Ausmaß in dem die Autonomie eines unabhängigen Sikh-Staates, bekannt als "Khalistan", unterstützt werden soll (DFAT 10.12.2020). Im Dezember 2019 verabschiedete das Parlament das Citizenship (Amendment) Act (CAA), dass einen beschleunigten Weg zur Staatsbürgerschaft für Sikhs vorsieht (USDOS 30.3.2021).
Die sezessionistische Terrorbewegung für ein unabhängiges "Khalistan" wurde 1993 zerschlagen. Es gibt allerdings Anzeichen von konzertierten Versuchen militanter Sikh-Gruppierungen im Ausland gemeinsam mit dem pakistanischen Geheimdienst ISI, die militante Bewegung in Punjab wieder zu beleben, auch wenn der harte Kern der in Indien verbotenen Sikh-Gruppierungen wie der Babbar Khalsa International (BKI) in andere Unionsstaaten bzw. nach Pakistan ausgewichen ist. Unterstützung in finanzieller- und logistischer Form erfolgt insbesondere aus Pakistan (vom Geheimdienst ISI) und vom westlichen Ausland (UK, Deutschland, Kanada usw.) (ÖB 9.2020).
Andere in Indien verbotenen militanten Sikh-Organisationen sind: Babbar Khalsa International, Khalistan Commando Force, Khalistan Zindabad Force und International Sikh Youth Federation. Aktive Mitglieder von verbotenen militanten Sikh-Gruppierungen müssen mit polizeilicher Verfolgung rechnen (ÖB 9.2020). Indischen Geheimdienstinformationen zufolge werden BKI-Militante in Pakistan von islamischen Terrorgruppen wie Lashkar-e-Toiba (LeT) trainiert. Angeblich hat der BKI gemeinsam mit der LeT im pakistanischen West Punjab ein gemeinsames Büro errichtet. Die Sicherheitsbehörden im Punjab konnten bislang die aufkeimende Wiederbelebung der militanten Sikh-Bewegung erfolgreich neutralisieren (ÖB 9.2020). Es erfolgen jedoch Verhaftungen, sobald jemand offen eine verbotene Organisation (z.B. die Bewegung Khalistan) untersützt (ÖB 9.2020).
Sikhs können Ziele von örtlich begrenzter Diskriminierung sein. Es wird angenommen, dass Sikhs in Indien im Allgemeinen einem geringes Maß an offizieller und gesellschaftlicher Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt sind (DFAT 10.12.2020). Es gibt derzeit keine Hinweise darauf, dass Sikhs alleine auf Grund ihrer Religionszugehörigkeit von der Polizei willkürlich verhaftet oder misshandelt würden (ÖB 9.2020). Doch werden die seit Monaten in Indien andauernden Bauernproteste gegen die von der Regierung verabschiedeten Gesetze zur Liberalisierung des Agrarsektors auch von den Sikhs im Punjab, die vom bisherigen System profitierten, mitgetragen. Das hissen einer Sikh-Flagge im Roten Fort in Delhi interpretiert die indische Regierung als Beteiligung der "Khalistan-Bewegung" an den Protesten (BAMF 22.3.2021). Gegen protestierende Angehörige der Sikhs wurden Ermittlungen wegen ihrer angeblichen Verbindung zu separatistischen Gruppen einleitet (HRW 19.2.2021).
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Relevante Bevölkerungsgruppen
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Sexuelle Minderheiten
Letzte Änderung: 31.05.2021
Die indische Gesellschaft hat über die „Hijras“ (Trans-Personen, Intersexuelle) einen traditionellen Zugang zu Transgender-Themen (AA 23.9.2020). Indien hat seiner Transgender-Bevölkerung besondere Rechte eingeräumt. Seit 2014 werden diese offiziell als drittes Geschlecht (z.B. auch in Dokumenten) anerkannt. Die Gründe dafür sind aber nicht Toleranz gegenüber nicht-binären Formen der Sexualität, sondern die Tradition der Hijras, welche historisch gesehen Eunuchen in Frauenkleidung waren und eine eigene Schutzgöttin im Hinduismus haben (ÖB 8.2019). Angehörige sexueller Minderheiten sind weiterhin auf Vorurteile und vielfältige Formen der Diskriminierung, vor allem im ländlichen Raum Indiens, ausgesetzt. Angehörige sexueller Minderheiten (LGBTI) werden vereinzelt Opfer von Gewalttaten und Erpressung (AA 23.9.2020; vgl. USDOS 30.3.2021, FH 3.3.2021). Manche Polizisten begehen Verbrechen gegen LGBTI-Personen und benutzen die Androhung einer Verhaftung als Einschüchterung der Opfer, die Vorfälle nicht anzuzeigen (USDOS 30.3.2021). Von verstärkter Diskriminierung und Gewalt gegen die lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle und intersexuelle Gemeinschaft (LGBTI) im östlichen Teil des Landes während der Abriegelungsmaßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie wird berichtet (USDOS 30.3.2021).
Im September 2018 wurde vom Obersten Gerichtshof einstimmig der in den letzten Jahren immer wieder oszillierende Umgang mit dem Abschnitt 377 des Strafgesetzbuches (Indian Penal Code) endgültig entschieden und die Bestimmung aufgehoben. Demnach ist Homosexualität zwischen einwilligenden Erwachsenen nicht mehr strafbar, ebenso ist die Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung nunmehr verboten (ÖB 9.2020; vgl. CNS 6.9.2018, FH 3.3.2021).
Die Polizei beteiligt sich an Programmen zur Aufklärung und Sensibilisierung. Aktivisten zufolge haben transsexuelle Personen weiterhin Schwierigkeiten medizinische Behandlung zu erhalten (USDOS 30.3.2021).
Das Ergebnis einer vor dem Delhi High Court im September [2020] eingereichten Petition, die gleichgeschlechtlichen Paare das Recht einräumt, nach dem Hindu Marriage Act zu heiraten, steht noch aus (HRW 13.1.2021).
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Grundversorgung und Wirtschaft
Letzte Änderung: 31.05.2021
Die Anzahl jener Personen, die in Indien unter der absoluten Armutsgrenze (1,90 USD/Tag Kaufkraft) leben, konnte zwischen 2012 und 2019 von 256 Mio. auf 76 Mio. reduziert werden. Gemäß Schätzungen könnten durch die COVID-Krise allerdings bis zu 200 Millionen Menschen wieder in die absolute Armut zurückgedrängt werden (ÖB 9.2020).
Im Geschäftsjahr 2020/21 (1.April 2020 – 31.März 2021) brach Indiens BIP Wachstum mit einem Minus von sieben bis neun Prozent deutlich ein. Der massivste Wachstumsrückgang seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1947, verdeutlicht die Auswirkungen der strengen Lockdown Maßnahmen in der ersten sechs Monaten des Vorjahres (WKO 4.2021; vgl. TIE 26.1.2021). 80 Prozent der Arbeiterschaft im informellen Sektor während des Lockdown ihre Arbeit verloren (AAAI 8.2020). Hundertausende Wanderarbeiter flohen in den Wochen danach aus den Städten. Weil auch der Zug- und Bahnverkehr von der Regierung ausgesetzt wurde, müssten viele Arbeiter zum Teil auf den Autobahnen und Gleisen Hunderte Kilometer zu Fuß in ihre Dörfer zurücklegen. Hunderte starben dabei (HO 28.4.2021). Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen sind für die Armen besonders gravierend (SZ 25.1.2021; vgl. HO 28.4.2021).
Ab Oktober 2020 konnte wieder ein starker Wachstumsanstieg verzeichnet werden. Die Investitionsförderungsprogramm der Regierung und die Erleichterung der Vergabebedingungen für Investitionskredite haben sehr wesentlich zum Wiederanspringen der Konjunktur beigetragen (WKO 4.2021). Für 2021 wird ein Wirtschaftswachstum von mehr als sieben Prozent erwartet (TIE 26.1.2021).
Der indische Arbeitsmarkt wird durch den informellen Sektor dominiert. Er umfasst Familien- und Kleinbetriebe der Landwirtschaft, des produzierenden Gewerbes sowie des Dienstleistungsbereichs und unterliegt keiner Kontrolle oder Besteuerung des Staates. Infolgedessen bestehen in diesem Berei