Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schwarzenbacher, Hon.-Prof. PD Dr. Rassi, Dr. Parzmayr sowie die Hofrätin Mag. Istjan, LL.M., als weitere Richter in der Unterhaltssache der C***** P*****, geboren am ***** 2001, *****, vertreten durch Dr. Johann Grandl, Rechtsanwalt in Mistelbach, über den Revisionsrekurs (Interesse 5.508 EUR) des Vaters Mag. K***** P*****, vertreten durch Dr. Josef Sailer und Dr. Romana Schön, Rechtsanwälte in Bruck an der Leitha, gegen den Beschluss des Landesgerichts Korneuburg als Rekursgericht vom 10. November 2020, GZ 20 R 285/20g-134, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Gänserndorf vom 22. September 2020, GZ 6 Pu 383/13w-123, abgeändert wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Der Vater ist schuldig, der Tochter deren mit 626,52 EUR (darin 104,42 EUR USt) bestimmte Kosten der Revisionsrekursbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Begründung:
[1] Die mittlerweile zwanzigjährige Tochter lebt im Haushalt der Mutter. Der Vater war bisher aufgrund des Beschlusses des Erstgerichts vom 8. 11. 2013 zur Zahlung eines monatlichen Unterhaltsbetrags von 256 EUR für die Tochter verpflichtet. Dieser Unterhaltsfestsetzung lag der Bezug von Arbeitslosengeld in Höhe von 1.440 EUR monatlich netto zugrunde. Nachdem der Vater von seinem damaligen Dienstgeber im Mai 2013 entlassen worden war, kam es vor dem Arbeits- und Sozialgericht zum Abschluss eines Vergleichs, mit dem das Dienstverhältnis einvernehmlich zum 31. 4. 2013 aufgelöst wurde. Im Juni 2014 machte sich der Vater selbstständig, wobei er in den Jahren 2015 bis 2018 kein unterhaltsrelevantes Nettoeinkommen erzielte. Seine Ausgaben finanzierte er mit Hilfe finanzieller Zuschüsse seiner Ehefrau, die seinen Naturalunterhalt zur Gänze deckte und deren monatliches Durchschnittsnettoeinkommen inklusive anteiliger Sonderzahlungen im Jahr 2015 14.696 EUR und im Jahr 2016 7.760 EUR betrug.
[2] Das Erstgericht gab dem Erhöhungsantrag der Tochter für den im Revisionsrekursverfahren noch relevanten Zeitraum vom 1. 5. 2015 bis 31. 12. 2016 teilweise statt und erhöhte den monatlichen Unterhaltsbeitrag für den Zeitraum von 1. 5. 2015 bis 31. 12. 2015 um 114 EUR auf insgesamt 370 EUR; den Unterhalt für den Zeitraum vom 1. 1. 2016 bis 31. 12. 2016 ließ es unverändert. Der Vater sei nach einer ihm im Rahmen der Selbstständigkeit zuzugestehenden Anlaufphase von rund zweieinhalb Jahren spätestens ab 1. 1. 2017 auf eine unselbstständige Tätigkeit anzuspannen. Für die Jahre 2015 und 2016 sei der Taschengeldanspruch des Vaters gegenüber seiner Ehegattin in der Höhe von 5 % als Bemessungsgrundlage für den Kindesunterhalt heranzuziehen.
[3] Das Rekursgericht erhöhte den Unterhalt für den Zeitraum vom 1. 5. 2015 bis 31. 12. 2015 um 324 EUR auf 580 EUR, für den Zeitraum vom 1. 1. 2016 bis 31. 3. 2016 um 204 EUR auf 460 EUR und für den Zeitraum vom 1. 4. 2016 bis 31. 12. 2016 um 256 EUR auf 512 EUR. Bei der Unterhaltsbemessung sei im Rahmen der Anspannungsobliegenheit als Bemessungsgrundlage für den Kindesunterhalt der dem Vater gegenüber seiner Ehegattin zustehende Geldunterhaltsanspruch in Höhe von 33 % des Nettoeinkommens heranzuziehen. Dadurch werde die Tochter in die Lage versetzt, an den überdurchschnittlichen Lebensverhältnissen des Vaters angemessen teilzunehmen. Den fiktiven Ehegattenunterhaltsanspruch auch für die Vergangenheit als Bemessungsgrundlage heranzuziehen sei nicht unbillig, hätten es andernfalls doch der Vater und seine Ehegattin in der Hand, ihre überdurchschnittlichen Lebensverhältnisse zu Lasten der Tochter des Mannes zu gestalten und die Tochter vom finanziellen Wohlergehen des Vaters, das auf dem satten Verdienst seiner Ehefrau beruhe, auszuschließen.
[4] Über Antrag des Vaters nach § 63 AußStrG sprach das Rekursgericht nachträglich aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs doch zulässig sei, weil Rechtsprechung des Höchstgerichts zur Frage fehle, ob im Rahmen der Anspannung für die Vergangenheit ein fiktiver Ehegattenunterhalt in die Bemessungsgrundlage einzubeziehen sei.
[5] Gegen die Entscheidung des Rekursgerichts richtet sich der Revisionsrekurs des Vaters mit einem Abänderungsantrag, der auf die Abweisung des Unterhaltserhöhungsbegehrens der Tochter für den Zeitraum vom 1. 5. 2015 bis 31. 12. 2016 abzielt; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[6] Mit ihrer Revisionsrekursbeantwortung beantragt die Tochter, das Rechtsmittel des Vaters zurückzuweisen, in eventu diesem nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[7] Der Revisionsrekurs ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, er ist aber nicht berechtigt.
[8] 1. Der Vater wendet sich in seinem Revisionsrekurs nur gegen die Unterhaltsbemessung für die Jahre 2015 und 2016. Er vertritt zusammengefasst die Rechtsansicht, sein fiktiver Ehegattenunterhaltsanspruch für die Vergangenheit hätte nicht als Bemessungsgrundlage für den Kindesunterhalt herangezogen werden dürfen. Dass das Rekursgericht den Unterhaltsanspruch gegen die Ehegattin rechnerisch richtig errechnet hat, wird im Revisionsrekurs nicht bestritten.
[9] 2.1. Zu den als Unterhaltsbemessungsgrundlage dienenden Einkünften zählen alle tatsächlich erzielten Einnahmen des Unterhaltspflichtigen in Geld oder geldwerten Leistungen, über die er verfügen kann, wovon grundsätzlich nur solche Einnahmen ausgenommen sind, die der Abgeltung von effektiven Auslagen dienen. Es besteht kein zwingender Grund, Unterhaltsempfänge eines Ehegatten aus seinem Einkommen auszuscheiden, wenn es um die gegen ihn gerichteten Unterhaltsansprüche seiner Kinder geht. Dies gilt auch für Sachleistungen und Naturalunterhaltsleistungen (RIS-Justiz RS0107262 [T8, T11]; RS0113068; 1 Ob 288/04s; 9 Ob 100/06f; 6 Ob 148/09x; 1 Ob 337/99m; 1 Ob 218/00s; 4 Ob 42/01g). Es sind nur solche Zuwendungen als die Bemessungsgrundlage erhöhend anzusehen, auf die der Unterhaltsschuldner einen Rechtsanspruch hat (RS0107262 [T15, T20]).
[10] 2.2. Bis zum EheRÄG 1999, BGBl I 125/99, wurde einem Ehegatten während aufrechter Haushaltsgemeinschaft neben dem Naturaltunterhalt nur ein Anspruch auf Taschengeld als durchsetzbarer Geldunterhaltsanspruch zugestanden (5 Ob 140/98v; 6 Ob 2360/96v; 2 Ob 4/99y).
[11] 2.2.1. Die Rechtsprechung ging einerseits davon aus, dass der vom Unterhaltspflichtigen bezogene Naturalunterhalt zwar nicht als Fonds für die Unterhaltsansprüche des Kindes zur Verfügung stehe, jedoch die Einkünfte des Unterhaltspflichtigen nicht mehr mit eigenen Lebenshaltungskosten belastet sind und für die Erfüllung des Geldunterhaltsanspruchs des Kindes – auch bis zur Gänze (5 Ob 140/98v) – verwendet werden können (siehe auch 9 Ob 100/06f zur Rechtslage nach dem EheRÄG 1999).
[12] 2.2.2. Andererseits wurde das dem haushaltsführenden Ehegatten zustehende Taschengeld als eigenes, bei der Festsetzung des Unterhalts seiner Kinder zu berücksichtigendes, Einkommen angesehen (6 Ob 2126/96g; 9 Ob 373/97m; 6 Ob 285/98z). Die gerechtfertigte Anspannung verpflichtete den Unterhaltsschuldner auch in dem Fall, in dem er vom Ehegatten keinen Geldunterhalt erhielt, diesen einzufordern, damit er in die Lage versetzt werde, seinen Unterhaltspflichten nachzukommen (6 Ob 2126/96g; 6 Ob 2360/96v).
[13] 2.3. Seit dem EheRÄG 1999 BGBl I 125/99 ist der Ehegattenunterhalt nach § 94 Abs 3 S 1 ABGB auf Verlangen auch bei aufrechter Haushaltsgemeinschaft ganz oder zum Teil in Geld zu leisten, soweit nicht ein solches Verlangen, insbesondere im Hinblick auf die zur Deckung der Bedürfnisse zur Verfügung stehenden Mittel, unbillig wäre.
[14] 2.4. Ausgehend von den Erwägungen des Gesetzgebers (siehe ErläutRV 1653 BlgNR 20. GP 22) ist § 94 Abs 3 Satz 1 ABGB nicht restriktiv zu handhaben, weil der Gesetzgeber mit dieser Unterhaltsregelung deutlich über das in der Rechtsprechung bis dahin zuerkannte „Taschengeld“ hinausgehen wollte (9 Ob 120/03t).
[15] 2.5. In die Bemessungsgrundlage kann nur der tatsächlich hereingebrachte eigene Unterhalt herangezogen werden, es sei denn, der unterhaltsverpflichtete Elternteil hätte die Hereinbringung des eigenen Unterhalts schuldhaft unterlassen. In einem solchen Fall wäre im Sinne der herrschenden Anspannungstheorie vorzugehen (vgl RS0107262 [T5]). Kommt daher einem Elternteil ein Geldunterhaltsanspruch gegenüber seinem Ehegatten nach § 94 Abs 3 Satz 1 ABGB zu, macht er davon aber keinen Gebrauch, kann dies, ausgehend von der anzuwendenden Anspannungstheorie, nicht zu Lasten eines geldunterhaltsberechtigten Kindes gehen (9 Ob 120/03t). So ist auch ein fiktiver Geldunterhaltsanspruch des Unterhaltspflichtigen gegenüber seinem wesentlich besser verdienenden Ehegatten als Bestandteil der Unterhaltsbemessungsgrundlage für ein Kind heranzuziehen (7 Ob 164/06b unter Bezugnahme auf Gitschthaler, Unterhaltsrecht1 Rz 180 Z 4).
[16] 3.1. Nach den Feststellungen finanziert der Vater seine Ausgaben mit Hilfe finanzieller Zuschüsse seiner Ehefrau, die seinen Naturalunterhalt zur Gänze abdecken.
[17] 3.2. Das Rekursgericht hat als Bemessungsgrundlage nicht den tatsächlich dem Vater zufließenden – in Geld bewerteten – Naturalunterhalt, sondern seinen fiktiven gesetzlichen Geldunterhaltsanspruch gegenüber der Ehefrau zugrunde gelegt. Da der vom Vater der Tochter im Zeitraum vom 1. 5. 2015 bis 31. 12. 2016 tatsächlich geleistete Unterhalt von monatlich 256 EUR weit unter dem Regelbedarf von 443 EUR für das Jahr 2015 bzw 446 EUR für das Jahr 2016 liegt (zu den Regelbedarfssätzen siehe Neuhauser in Schwimann/Neumayr, ABGB TaKom5 [2020] § 231 Rz 44), trifft den Vater eine Anspannungsobliegenheit, in deren Rahmen er alle rechtlichen Möglichkeiten ausnützen muss, um den Naturalunterhalt in Geldunterhalt umzuwandeln. Da es ihm aufgrund der Regelung des § 94 Abs 3 Satz 1 ABGB rechtlich möglich ist, auch während aufrechter Ehe den Ehegattenunterhalt in Geld zu verlangen, ist er auf den fiktiven Geldunterhaltsanspruch anzuspannen (siehe dazu auch Schwimann/Kolmasch, Unterhaltsrecht9 [2019] 20).
[18] 3.3. Wenn der Vater dem entgegenhält, er habe immer einen regelmäßigen Unterhalt von 256 EUR an die Tochter geleistet, und es dürfe daher keine weitere Anspannung auf seinen Geldunterhaltsanspruch gegenüber der Ehegattin erfolgen, verkennt er, dass eine Anspannung auf ein mögliches erzielbares Einkommen immer dann Platz greift, wenn dem Unterhaltspflichtigen die Erzielung eines höheren als des tatsächlichen Einkommens zugemutet werden kann (RS0047550; RS0047686 [T29]; 6 Ob 76/18x).
[19] 3.4. Da der vom Vater bisher geleistete Unterhalt gerade einmal die Hälfte des Regelbedarfs erreicht, ist eine Anspannung jedenfalls erforderlich, setzt die Anspannung doch nicht erst bei der Gefährdung des Unterhaltsberechtigten, sondern bereits bei der Verletzung des angemessenen Unterhalts ein (7 Ob 192/97d; 6 Ob 116/00b; 8 Ob 44/03h). Ebensowenig liegt – wie vom Vater vermeint – eine doppelte Anspannung im Zeitraum vom 1. 5. 2015 bis 31. 12. 2016 vor, wurde er doch vom Rekursgericht erst ab 1. 1. 2017 auf ein Einkommen aus einer unselbstständigen Tätigkeit als Verkaufsleiter angespannt.
[20] 3.5. Der erstmals im Revisionsrekurs erhobene Einwand, die Ehefrau hätte gegen die Geltendmachung des Unterhaltsanspruchs in der Höhe von 33 % einwenden können, der Vater hätte den Versuch einer selbstständigen Tätigkeit unterlassen und früher in ein Dienstverhältnis eintreten müssen, verstößt gegen das im Revisionsrekursverfahren geltende Neuerungsverbot und ist daher unbeachtlich (vgl RS0119918).
[21] 3.6. Wenn der Vater vermeint, durch die Heranziehung seines Ehegattenunterhaltsanspruchs in die Bemessungsgrundlage für den Kindesunterhalt werde unzulässigerweise in die Privatsphäre der Ehefrau eingegriffen, da sie bei einer Eheschließung mit der Heranziehung ihres Einkommens für fremde Unterhaltszahlungen sogar im Nachhinein rechnen müsse, so ist ihm entgegenzuhalten, dass die Ehegattin mit den von ihr zu erbringenden Unterhaltsleistungen ausschließlich ihre Unterhaltspflicht dem Vater (ihrem Ehegatten) gegenüber und keine mittelbare Unterhaltspflicht für dessen Kinder erfüllt (vgl 1 Ob 337/99m; 9 Ob 100/06f). Die Verwendung der Unterhaltsleistungen für den Kindesunterhalt berührt nur das Verhältnis zwischen dem gemäß § 231 ABGB unterhaltspflichtigen Ehegatten und seinen Kindern, hat aber auf die Leistungspflicht des gegenüber diesem Ehegatten Unterhaltspflichtigen keinen Einfluss (5 Ob 3/97w; 1 Ob 288/04s). Die unterhaltsrechtliche Beziehung zwischen den Ehegatten ist somit von derjenigen zwischen einem der Ehegatten und seinen Kindern zu unterscheiden (1 Ob 288/04s).
[22] 4.1. Es ergibt sich somit bereits aus der bisherigen Rechtsprechung hinlänglich, dass ein fiktiver Geldunterhaltsanspruch des Unterhaltspflichtigen gegenüber seinem besser verdienenden Ehegatten grundsätzlich als Bestandteil der Unterhaltsbemessungsgrundlage für ein Kind heranzuziehen ist.
[23] 4.2. Die Frage, ob das auch für den Unterhalt für die Vergangenheit gilt, ist schon deswegen zu bejahen, weil Unterhalt grundsätzlich auch für die Vergangenheit begehrt werden kann (RS0034969; 9 Ob 53/18m, 9 Ob 77/18s) und allein der Umstand, dass Geldunterhaltsbeiträge erst im Nachhinein eingefordert werden, das Unterschreiten der geschuldeten Höhe des Unterhaltsbeitrags nicht rechtfertigt (vgl 6 Ob 204/19x).
[24] 4.3. In der Durchsetzung von berechtigten Unterhaltsansprüchen liegt auch kein unzulässiger Eingriff in höchstpersönliche Rechte des Unterhaltsschuldners, weil ihm grundsätzlich jedes Recht auf eine Vermeidungsstrategie abzusprechen ist, die ausschließlich dem Zweck dient, sich seiner Unterhaltspflichten zu entziehen. Auch vorsätzliche Unterhaltsflucht führt zur Anwendung des Anspannungsgrundsatzes als eine Art Missbrauchsvorbehalt gegen die schuldhafte Vermeidung der Erzielung von Einkünften (vgl 5 Ob 25/19s).
[25] Dem Revisionsrekurs des Vaters ist somit nicht Folge zu geben.
[26] 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 78 Abs 2 AußStrG.
Textnummer
E133062European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2021:0040OB00067.21P.0922.000Im RIS seit
15.11.2021Zuletzt aktualisiert am
05.01.2022