TE OGH 2021/9/22 4Ob66/21s

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Veröffentlicht am 22.09.2021
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schwarzenbacher, Hon.-Prof. PD Dr. Rassi, Dr. Parzmayr und die Hofrätin Mag. Istjan, LL.M., als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei J*****, vertreten durch die Prutsch & Partner Rechtsanwälte in Graz, gegen die beklagte Partei H*****, vertreten durch Fetz Fetz Wlattnig & Partner, Rechtsanwälte in Leoben, wegen 18.440,20 EUR sA und Feststellung (31.203,90 EUR), über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 20. Jänner 2021, GZ 5 R 134/20w-15, mit dem das Urteil des Landesgerichts Leoben vom 29. Juli 2020, GZ 28 Cg 35/19h-11, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

[1]            Der beklagte Verein betreibt eine Privatschule mit Öffentlichkeitsrecht einschließlich Internat. Er schloss den volljährigen Kläger im November seines Abschlussjahres ohne Mitwirkung der Schulbehörde vom weiteren Schulbesuch aus, weil dem Kläger vorgeworfen wurde, einen Schüler der neunten Schulstufe sexuell missbraucht zu haben. Außerdem beendete der Beklagte den Schulaufnahmevertrag mit sofortiger Wirkung.

[2]            Gegen den Kläger wurde ein Strafverfahren wegen des Verdachts der versuchten Nötigung sowie des sexuellen Missbrauchs eingeleitet. Der Beklagte schloss sich in diesem Strafverfahren als Privatbeteiligter an.

[3]            Im folgenden Dezember brachte der Kläger eine Feststellungsklage gegen den Beklagten ein, dass der Schulausschluss unwirksam, der Schulaufnahmevertrag aufrecht und der Kläger wieder in den Schulbetrieb aufzunehmen sei (in der Folge: Vorprozess). In der vorbereitenden Tagsatzung Ende April kündigte die Richterin an, den Vorprozess bis zum Abschluss des Strafverfahrens zu unterbrechen. Die Parteienvertreter erörterten, dass eine Rückkehr des Klägers in die Schule für beide Seiten nicht mehr angedacht war, weil aufgrund der anhängigen Zivil- und Strafverfahren eine Beendigung des Unterrichtsjahres für beide nicht mehr vorstellbar war. Sie sprachen die Möglichkeit des „Ruhens des Verfahrens“ an. Bei einer Rückziehung der Privatbeteiligtenansprüche des Beklagten im Strafverfahren sollte ewiges Ruhen eintreten. Schadenersatzansprüche des Klägers waren kein Thema.

[4]            Der Kläger und der Beklagte vereinbarten danach im Schriftweg ewiges Ruhen des Vorprozesses. In der Korrespondenz zwischen den Rechtsvertretern verpflichtete sich der Beklagte, die Hälfte der Pauschalgebühr zu tragen und seinen Privatbeteiligtenanschluss zurückzuziehen.

[5]            Der Kläger wurde im Strafverfahren schließlich freigesprochen.

[6]            Der Kläger begehrt 18.440,20 EUR sA an Schadenersatz sowie die Feststellung, dass der Beklagte ihm für nachteilige Folgen des unberechtigten Schulausschlusses hafte. Es gebe keinen Schulaufnahmevertrag, gegen den der Kläger verstoßen habe. Ein Schulausschluss dürfe nicht aufgrund eines bloßen Verdachts erfolgen. Der sexuelle Kontakt mit dem Mitschüler habe einverständlich stattgefunden. Der Kläger habe auf seine Schadenersatzansprüche nie verzichtet, zumal Gegenstand des Vorprozesses nur die Wiederaufnahme in den Schulbetrieb gewesen sei. Der Kläger habe ewiges Ruhen vereinbart, um sich zumindest im folgenden Schuljahr in einer anderen Schule anmelden zu können.

[7]                     Der Beklagte wendete ein, dass er den Schulausschluss berechtigt vorgenommen habe. Ein Schüler sei laut Kurzinformation der Schule auszuschließen, wenn er seine Pflichten in schwerwiegender Weise verletze oder sein Verhalten eine dauernde Gefährdung von Mitschülern hinsichtlich ihrer Sittlichkeit darstelle. Jedenfalls habe der Beklagte keinen Schaden verursacht, weil er dem Kläger angeboten habe, den Schulabschluss in der Abend- statt der Tagesschule des Beklagten zu machen. Außerdem habe der Kläger im Vorprozess auf alle Ansprüche endgültig verzichtet.

[8]                     Das Erstgericht wies die Klage ab. Bei ungerechtfertigter Beendigung eines Dauerschuldverhältnisses müsse der Gläubiger wählen, ob er den Fortbestand des Vertrags einfordere oder die Beendigung hinnehme und Ersatzansprüche geltend mache. Der Kläger habe sich mit Einleitung des Vorprozesses für die Unwirksamkeitslösung entschieden und sei nun daran gebunden, sodass er keine Ersatzansprüche mehr fordern könne. Zusätzlich hätten die Parteien auch noch einen Gesamtvergleich abgeschlossen, der auch die möglichen Schadenersatzansprüche umfasse.

[9]            Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Der Beklagtenvertreter habe die Korrespondenz nach Einschätzung des Erstgerichts als Angebot zur Generalbereinigung verstanden. Selbst wenn die Parteien in ihrer Korrespondenz keinen Generalvergleich geschlossen hätten, hätten sie zumindest Einvernehmen über die Auflösung des Schulaufnahmevertrags erzielt. Im Übrigen setze sich die Rechtsrüge gar nicht mit den Argumenten des Erstgerichts auseinander. Es komme daher nicht darauf an, ob der Kläger zwischen der Unwirksamkeits- und der Schadenersatzlösung wählen müsse.

[10]            Das Berufungsgericht bewertete den Entscheidungsgegenstand mit über 30.000 EUR und ließ die ordentliche Revision nicht zu.

[11]           Der Kläger beantragt in seiner außerordentlichen Revision, der Klage stattzugeben; hilfsweise stellt er einen Aufhebungsantrag.

[12]     Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[13]     Die Revision ist zulässig und im Sinn des Aufhebungsantrags berechtigt, weil die Entscheidung des Berufungsgerichts zur Wahrung der Rechtssicherheit korrekturbedürftig ist.

[14]           1. Obwohl beide Parteien wiederholt vorbrachten, der Kläger sei von der Schule ausgeschlossen worden, ist damit offensichtlich kein Schulausschluss iSd § 49 Abs 1 SchUG durch die Schulbehörde gemeint. Vielmehr war auch schon in erster Instanz unstrittig, dass der Beklagte keinen Schulausschluss des Klägers beantragt hat und daher auch kein entsprechender Bescheid der Schulbehörde existiert.

[15]           Gegenstand dieses Verfahrens sind daher keine Amtshaftungsansprüche aufgrund hoheitlichen Handelns des beklagten Schulerhalters als beliehenem Unternehmen (vgl 1 Ob 29/14t Pkt 2.2). Vielmehr geht es um Schadenersatzansprüche des Klägers wegen Beendigung des Schulbesuchs durch den Beklagten aus einem im privatrechtlichen Schulaufnahmevertrag vereinbarten Grund gemäß § 33 Abs 8 SchUG (vgl Hauser, SchUG1 [2014] FN 1125). Der Schulaufnahmevertrag ist ein Dauerschuldverhältnis, mit dem sich der Schulerhalter einer Privatschule mit Öffentlichkeitsrecht zur Erfüllung eines öffentlich-rechtlichen Anspruchs verpflichtet. Für Ansprüche wegen ungerechtfertigter Auflösung eines solchen Vertrags ist der Rechtsweg gegen den Schulerhalter zulässig (6 Ob 159/01b).

[16]           2. Der Kläger zeigt richtig auf, dass aufgrund der getroffenen Feststellungen der Tatsacheninstanzen in der Vereinbarung ewigen Ruhens im Vorprozess weder ein Generalvergleich noch eine einvernehmliche Lösung des Schulaufnahmevertrags lag.

[17]           2.1. Die Vorinstanzen gehen von einem natürlichen Konsens der Parteienvertreter, also einem tatsächlich übereinstimmenden Verständnis der Ruhensvereinbarung aus (vgl RIS-Justiz RS0014167; RS0017741). Tatsächlich nahm das Erstgericht aber weder Beweise auf, noch traf es Feststellungen dazu, welche Vorstellungen die Parteienvertreter vom Inhalt der Gespräche im Vorprozess und des darauf folgenden Schriftverkehrs hatten.

[18]            2.2. Da ein übereinstimmender Parteiwille nicht feststeht, sind die Vereinbarungen im Vorprozess nach dem objektiven Erklärungswert auszulegen (RS0017811).

[19]     Die Vereinbarung ewigen Ruhens hat primär prozessuale Funktion und ist keineswegs immer und unbedingt einer Klagerücknahme unter Anspruchsverzicht gleichzuhalten (vgl 3 Ob 121/07a). Ob es sich um eine doppelfunktionelle Prozesshandlung handelt, die auch eine materielle Vereinbarung enthält, ist getrennt von der Frage nach dem Inhalt und der Wirksamkeit einer allfälligen materiellen Vereinbarung zu beurteilen (vgl RS0036976; RS0036748; RS0036703).

[20]     Im vorliegenden Fall hat keiner der Parteienvertreter einen Vergleich oder Verzicht auf materielle Ansprüche ausdrücklich angesprochen. Zwar stimmten die Parteienvertreter in der vorbereitenden Tagsatzung darin überein, dass weder dem Kläger noch dem Beklagten eine Beendigung des Unterrichtsjahres in der Privatschule vorstellbar wäre. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kläger aber bereits den Großteil des Schuljahres (November bis April) versäumt, sodass diese Äußerungen als Bestandsaufnahme der aktuellen Handlungsoptionen und nicht als Verzichtserklärung aufzufassen sind. Eine Fortsetzung des Vorprozesses hätte – selbst ohne die von der Richterin angekündigte Verfahrensunterbrechung bis zur Beendigung des Strafverfahrens – dem Kläger voraussichtlich keinen Schulabschluss in diesem oder auch im folgenden Schuljahr mehr ermöglichen können. Beide Streitteile hatten außerdem ein offenkundiges Interesse an einer möglichst wenig aufsehenerregenden und auch kostenschonenden Aufklärung der Umstände. Vor diesem Hintergrund sind die Vereinbarung ewigen Ruhens im Vorprozess und die Zurückziehung des Anschlusses als Privatbeteiligte im Strafprozess als bloß verfahrensrechtliche Schritte zu werten, die beiden Seiten ermöglichen sollte, die weiteren Ergebnisse im Strafverfahren abzuwarten und anhand dieser ihre Prozesschancen besser einschätzen zu können. Beiden Seiten steht damit die Geltendmachung von Ansprüchen nach wie vor offen.

[21]           3. Die auf Vertragszuhaltung abzielende Klage im Vorprozess verwehrt dem Kläger nicht die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen.

[22]           3.1. Die Vorinstanzen sind zutreffend davon ausgegangen, dass der Empfänger einer unberechtigten Rücktritts- oder Auflösungserklärung das Wahlrecht hat, am Vertrag festzuhalten oder nicht (zB 8 Ob 46/19a Pkt 3.2 zu einem Vertriebs- und Lizenzvertrag, unter Verweis auf 9 Ob 712/91 – Kaufvertrag). Lässt der Erklärungsempfänger die unwirksame Auflösungserklärung nicht gelten, sind damit aber Schadenersatzansprüche keineswegs ausgeschlossen (vgl auch § 918 ABGB [„Erfüllung und Schadenersatz“]). Vielmehr ist dem Erklärungsempfänger bei aufrecht bleibendem Vertrag ein Schadenersatz wegen Nichterfüllung gegen die Beklagte zuzubilligen (vgl 8 Ob 46/19a Pkt 3.2; RS0018492), der im vorliegenden Fall mögliche finanzielle Folgen eines rechtswidrig verweigerten Schulbesuchs umfasst.

[23]           3.2. Die Vorinstanzen haben die Verneinung des Schadenersatzanspruchs mit arbeitsrechtlicher Rechtsprechung begründet, wonach ein Arbeitnehmer wählen kann, ob er sich auf besonderen Kündigungs- oder Entlassungsschutz beruft und die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses sowie den vertraglichen Entgeltanspruch fordert, oder ob er sich mit der rechtsunwirksamen einseitigen Auflösungserklärung einverstanden erklärt, das Arbeitsverhältnis rückwirkend mit dem Zeitpunkt des Zugehens dieser Erklärung beendet und die Kündigungsentschädigung fordert (RS0028238). Hat er sich jedoch in der einen oder anderen Richtung erklärt, so ist er daran gebunden (RS0070860).

[24]           Diese Judikatur bezieht sich nur auf Fälle des besonderen Bestandschutzes eines Arbeitsverhältnisses, wie etwa nach § 15 Abs 1 BAG (Lehrlinge, vgl RS0113482 und RS0028238), § 12 MuSchG (Schwangere, vgl RS0070860) oder § 3  AVRAG (nach einem Betriebsübergang, vgl Pirker, Betriebsübergang und Kündigung, RZ 2004, 146). Aus ihr lässt sich für andere Vertragsverhältnisse nicht ableiten, dass eine einmal getroffene Wahl auf Fortsetzung des Vertrags ungeachtet einer unberechtigten Vertragsauflösung durch den Vertragspartner Schadenersatzansprüche ausschließt.

[25]           4. Da noch Beweisaufnahmen zu Grund und Höhe der geltend gemachten Ansprüche erforderlich sind, war die Rechtssache an das Erstgericht zurückzuverweisen.

[26]            5. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.

Textnummer

E133061

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:0040OB00066.21S.0922.000

Im RIS seit

15.11.2021

Zuletzt aktualisiert am

15.11.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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