TE Bvwg Erkenntnis 2021/9/13 W276 2194611-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.09.2021
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Entscheidungsdatum

13.09.2021

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch


W276 2194611-1/35E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Gert WALLISCH als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch Asylrechtsberatung der Caritas der ED Wien, diese vertreten durch Mag. Katrin Hulla, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 30.03.2018, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 09.03.2021 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird stattgegeben und XXXX gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigtem für die Dauer von einem Jahr erteilt.

IV. Die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides werden ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

I.1. Der Beschwerdeführer („BF“) reiste unter Umgehung der Einreisebestimmungen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 04.11.2015 in Österreich gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

I.2. Bei seiner Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 04.12.2015 gab er zu seinen Fluchtgründen an, dass er seine Heimat verlassen habe müssen, weil er dort aufgrund seiner Tätigkeit für die ISAF von den Taliban bedroht, verfolgt und auch schon attackiert worden sei. Aus Angst um sein Leben sei er geflüchtet. Das sei sein einziger Asylgrund.

I.3. Bei seiner Einvernahme vor dem BFA am 17.11.2017 gab der BF an, dass er der Volksgruppe der Hazara angehöre und schiitischer Muslim sei. Er sei in Mazar-e Sharif geboren und habe dort bis zu seiner Ausreise gelebt. Er habe nur ein Jahr eine Schule besucht und könne nur ganz wenig in seiner Muttersprache lesen, aber gar nicht schreiben. Er habe als LKW-Fahrer gearbeitet. Er habe auch manchmal seinem Vater in dessen Metzgerei ausgeholfen. Seine Mutter, drei seiner Schwestern und zwei seiner Brüder hielten sich alle im Heimatort auf. Zwei seiner Brüder hielten sich in Deutschland auf und einer seiner Brüder sei mit seiner Familie in Österreich. Ein Onkel mütterlicherseits des BF lebe im Iran. In Afghanistan habe er einige Onkel und Tanten mütterlicherseits. Er habe Kontakt zu seinen Familienangehörigen. In Afghanistan sorge einer seiner Schwestern finanziell für seine Mutter. Sie mache die Krankenschwesterausbildung und besuche auch die Uni, da sie Gynäkologin werden wolle. Sie arbeite in einer Klinik, wo sie Leute impfe. Die Familie des BF besitze zwei Eigentumshäuser, in einem lebten sie und das andere sei vermietet. Es gehe ihnen finanziell gut. Der BF sei in Afghanistan als LKW-Fahrer tätig gewesen.

Zu den Gründen für das Verlassen des Heimatstaates gab er an, dass er aufgrund seiner Tätigkeit als Tankwagenfahrer für eine Firma, die mit der NATO einen Vertrag gehabt habe, von den Taliban bedroht worden sei, er solle für sie arbeiten. Wenn er nicht für die Taliban arbeite, dann würden sie ihn töten oder in seinem Wohnort verraten, dass er für die NATO arbeite. Dann würde man ihn in seinem Wohnort als Ungläubigen bezeichnen. Der BF sei dann für einen Monat nach XXXX , dieser Ort liege auch in Mazar-e Sharif, gegangen und habe sich dort seine Tazkira ausstellen lassen. Er sei einen Monat dort gewesen, aber es sei so langweilig gewesen, dass der BF es dort nicht ausgehalten habe. Er sei dann wieder nach Hause gegangen und habe seinen Arbeitskollegen, der auch sein Nachbar gewesen sei, angerufen, dass sie sich treffen sollten. Sein Arbeitskollege habe ihn dann informiert, dass dieser Anrufe erhalten habe und deshalb aus Angst nicht mehr das Haus verlasse. Sie hätten dann die Nummern verglichen und es sei die gleiche Nummer gewesen, die auch den BF angerufen habe. Der BF habe dann sein Handy abgedreht. Zwei Monate nach dem sein Vater gestorben sei, sei sein Arbeitskollege getötet worden. Der Onkel seines Arbeitskollegen sei dabei auch verletzt worden und habe erzählt, dass der Paschtune der seinen Arbeitskollegen getötet habe nach dem BF gefragt habe. Da habe der BF bemerkt, dass sie sie beide haben hätten wollen. Der BF habe dann seine Sachen gepackt und sei hierhergekommen.

I.4. Mit angefochtenem Bescheid der belangten Behörde vom 30.03.2018 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit vierzehn Tagen festgelegt (Spruchpunkt VI.).

Die belangte Behörde begründete ihre Entscheidung im Wesentlichen damit, dass er eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft machen habe können. Das Ermittlungsverfahren habe auch keine Gründe ergeben, die zur Zuerkennung von subsidiärem Schutz gem. § 8 AsylG 2005 führen könnten.

I.5. Gegen den unter Punkt I.4. genannten Bescheid brachte der BF rechtzeitig Beschwerde ein. Dem BF drohe wegen seiner Tätigkeit als Tankwagenfahrer für die NATO eine Verfolgung durch die Taliban aufgrund der ihm unterstellten politischen Gesinnung. Er müsse zusätzlich bei einer Rückkehr nach Afghanistan wohlbegründete Furcht vor Verfolgung als Minderheitenangehöriger haben und weil er als „verwestlicht“ angesehen werden würde und mit dem Vorwurf des Abfalls vom Glauben bzw. der Spionage für „Ungläubige“ konfrontiert wäre.

I.6. Am 26.02.2021 langte die Mitteilung beim BVwG ein, dass der BF, zur am selben Tag anberaumten Beschwerdeverhandlung, krankheitsbedingt nicht erscheinen könne. Gleichzeitig wurde um die Bekanntgabe eines neuen Verhandlungstermins ersucht.

I.7. Am 04.03.2021 langte die Bekanntgabe über die Vollmachterteilung an Frau Mag. Katrin Hulla, Asylrechtsberatung der Caritas der ED Wien, beim BVwG ein. Weiters wurde eine Beschwerdeergänzung erstattet. Der BF müsse auch wegen seiner sexuellen Orientierung asylrelevante Verfolgung in Afghanistan befürchten.

I.8. Am 09.03.2021 fand vor dem BVwG eine mündliche Beschwerdeverhandlung im Beisein des BF und seiner Rechtsvertretung statt. Die belangte Behörde verzichtete mit Beschwerdevorlage auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung. Der BF hatte ausdrücklich keine Einwände gegen eine Vernehmung durch den erkennenden Richter desselben Geschlechts gemäß § 20 AsylG. Der BF verzichtete ausdrücklich auf Akteneinsicht und mündliche Verlesung. Er legte keine weiteren Bescheinigungsmittel vor. Vom erkennenden Richter wurden Länderberichte und zahlreiche weitere Länderinformationen in das Verfahren eingebracht (vgl Pkt II.2 dieses Erkenntnisses). Der BF gab eine schriftliche Stellungnahme zu den eingebrachten Länderberichten ab.

I.9. Am 01.04.2021 erfolgte ein Parteiengehör an den BF zur beabsichtigten Bestellung einer allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten Sachverständigen aus dem Fachgebiet Neurologie und Psychiatrie. Dem BF wurde eine zweiwöchige Frist eingeräumt, um Einwände gegen die Bestellung der Sachverständigen bekannt zu geben.

I.10. Am 16.04.2021 legte der BF ein Schreiben der Beratungsstelle Queer Base vor. Gegen die Bestellung der Sachverständigen Dr. Margot Glatz wurde kein Einwand erhoben.

I.11. Mit Beschluss vom 21.04.2021 wurde gemäß § 52 Abs. 2 AVG iVm § 17 VwGVG Dr. Margot Glatz zur Erstellung eines Gutachtens aus dem Fachgebiet Neurologie und Psychiatrie zur Sachverständigen bestellt.

I.12. Am 20.06.2021 langte das psychiatrische Sachverständigengutachten beim BVwG ein.

I.13. Am 21.07.2021 übermittelte das BVwG das psychiatrische Sachverständigengutachten von Dr. Margot Glatz, zur Kenntnis und allfälligen Stellungnahme an den BF.

I.14. Am 29.07.2021 langte die Stellungnahme des BF zum psychiatrischen Sachverständigengutachten beim BVwG ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

II.1. Feststellungen:

II. 1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der BF führt den im Spruch genannten Namen, ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Er bekennt sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Dari.

Der BF ist in der Stadt Mazar-e Sharif geboren und hat dort bis zu seiner Ausreise gelebt. Er hat ein Jahr lang eine Schule besucht und hat auch seinem Vater in dessen Metzgerei ausgeholfen. Ab seinem 12. Lebensjahr war der BF fünf Jahre lang bei seinem Nachbarn als LKW-Fahrer in der Lehre. Von 2011 bis 2013 war er für die XXXX („NEITC – LLC“), die im Auftrag der ISAF-Truppen Versorgungstransporte durchführte, als LKW-Fahrer tätig. Die Familie des BF besitzt zwei Eigentumshäuser, eines davon wird vermietet.

Sein Vater ist verstorben. Seine Mutter, seine verheirateten Schwestern XXXX , XXXX und XXXX sowie seine Brüder XXXX und XXXX leben im Heimatort. Seine zwei Tanten mütterlicherseits wohnen ebenfalls in Mazar-e Sharif. Sein Bruder XXXX und seine verheiratete Schwester XXXX leben in Deutschland. Sein Bruder XXXX ist in Österreich aufhältig. Er hat Kontakt zu seinen Familienangehörigen. In Afghanistan sorgt seine Schwester XXXX finanziell für seine Mutter. Sie macht die Krankenschwesterausbildung und besucht auch die Uni, da sie Gynäkologin werden will. Der Familie des BF geht es finanziell gut.

II.1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

II.1.2.1. Der BF wurde nicht von den Taliban aufgrund seiner Arbeitstätigkeit bedroht. Er war oder wäre zukünftig, aufgrund seiner Arbeitstätigkeit bei der NEITC – LLC, keiner persönlichen Bedrohung oder Verfolgung durch die Taliban in Afghanistan ausgesetzt.

II.1.2.2. Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF als Angehöriger der Volksgruppe der Hazara sowie schiitischer Muslim vor seiner Ausreise aus Afghanistan bedroht wurde bzw. ihm bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat deswegen konkret und individuell physische oder psychische Gewalt droht.

II.1.2.3. Der BF ist nicht homosexuell. Er war oder wäre aufgrund seiner sexuellen Orientierung in Afghanistan keiner Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt.

II.1.2.4. Außerdem wäre konkret der BF aufgrund seiner Rückkehr aus Europa bzw. seiner Lebensführung in Österreich, in Afghanistan keiner psychischen und/oder physischen Gewalt ausgesetzt.

II.1.3. Zur Situation des BF in Österreich:

Der BF befindet sich spätestens seit 04.11.2015 durchgehend im Bundesgebiet und ist illegal eingereist.

Der BF ist strafrechtlich unbescholten.

Im eingeholten Sachverständigengutachten vom 11.06.2021 stellte die Gutachterin die Diagnosen, Persönlichkeitsakzentuierung mit emotional instabilen Anteilen, Schädlicher Gebrauch von Cannabis und Schädlicher Alkoholkonsum. Aus psychiatrischer Sicht ist zur Besserung der psychischen Befindlichkeit des BF eine Alkohol- und Cannabisanstinez unabdingbar. Persönlichkeitsakzentuierungen entstehen in der Kindheit und begleiten die Betroffenen lebenslang. Da es sich nicht um eine psychiatrische Erkrankung, sondern um eine Normvariante im Übergang zu einer Persönlichkeitsstörung handelt, ist es schwer therapeutische Maßnahmen zu empfehlen. Es besteht keine aktuelle Selbst- oder Fremdgefährdung. Der BF benötigt keine intensive psychosoziale Betreuung.

Es besteht keine beschränkte Wiedergabe-, Wahrnehmungs-, oder Erinnerungsfähigkeit beim BF. Aus psychiatrischer Sicht wäre der BF in der Lage sich das tägliche Leben selbst zu organisieren. Eine durch psychische Erkrankung bedingte Arbeitsunfähigkeit besteht beim BF nicht. Die erhobenen Gesundheitsstörungen haben nicht Ausprägung einer schweren psychiatrischen Erkrankung. Beim BF liegt keine lebensbedrohliche Erkrankung vor.

Es wurden seit der Erstattung des Sachverständigengutachtens keine aktuelleren psychiatrischen Befunde vorgelegt.

Er war bisher in Österreich nicht erwerbstätig. Er konnte keinen Nachweis über eine Tätigkeit als Bodenleger vorlegen. Er lebt von der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig.

Der BF hat einen Alphabetisierungskurs besucht. Er hat keine Sprachprüfung abgelegt und spricht praktisch überhaupt kein Deutsch. Er ist kein Mitglied in einem Verein und geht keinen ehrenamtlichen Tätigkeiten nach. Er geht – bis auf ein paar Kinobesuche – keinen kulturellen Aktivitäten nach. Er hat keinen Kontakt zu österreichischen Staatsbürgern.

In Österreich lebt ein Bruder des BF, zu dem er Kontakt hat.

II.1.4. Zur Situation im Fall der Rückkehr nach Afghanistan:

Dem BF würde bei einer Überstellung nach Afghanistan ein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 EMRK drohen.

Im Fall einer Rückkehr des BF in seinen Herkunftsort in der Stadt Mazar-e Sharif droht ihm die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Übergriffe von regierungsfeindlichen Gruppierungen gegen die Zivilbevölkerung zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Eine innerstaatliche Schutzalternative besteht derzeit nicht. Im Fall einer Niederlassung in den Städten Kabul oder Herat droht dem BF ebenfalls die Gefahr, im Zuge von Kampfhandlungen oder durch Übergriffe von regierungsfeindlichen Gruppierungen gegen die Zivilbevölkerung zu Tode zu kommen oder misshandelt oder verletzt zu werden.

Dem BF ist es aufgrund der derzeit bestehenden prekären Sicherheits- und Menschenrechtslage aufgrund der jüngsten Machtübernahme der Taliban nicht möglich im Entscheidungszeitpunkt, nach Afghanistan zurückzukehren und sich dort niederzulassen. Es kann im Entscheidungszeitpunkt eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des BF aufgrund der instabilen Sicherheitslage und der damit einhergehenden willkürlichen Gewalt in Afghanistan nicht mit der notwendigen Sicherheit ausgeschlossen werden.

II.1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

II.1.5.1. Zur aktuellen Lage in Afghanistan:

II.1.5.1.1. BBC News: Taliban stellen Übergangsregierung vor; sie wird von Mullah Mohammad Hassan Achund angeführt und umfasst Personen, die an Angriffen auf Streitkräfte der USA beteiligt waren, 7. September 2021:

Hardliner erhalten Schlüsselpositionen in der neuen Taliban-Regierung

Die Taliban haben eine Übergangsregierung in Afghanistan angekündigt und das Land zu einem "Islamischen Emirat" erklärt. Das neue Kabinett, das ausschließlich aus Männern besteht, setzt sich aus hochrangigen Taliban-Figuren zusammen, von denen einige für ihre Angriffe auf die US-Streitkräfte in den letzten zwei Jahrzehnten berüchtigt sind. Geführt wird es von Mullah Mohammad Hassan Akhund, einem der Gründer der Bewegung, der auf einer schwarzen Liste der UNO steht. Der Innenminister ist der gefürchtete und vom FBI gesuchte Anführer der militanten Haqqani-Gruppe, Sirajuddin Haqqani.

Die Taliban haben vor mehr als drei Wochen die Kontrolle über den größten Teil Afghanistans übernommen und die zuvor gewählte Führung verdrängt. Die Ernennung des amtierenden Kabinetts ist ein wichtiger Schritt bei der Bildung einer ständigen Taliban-Regierung. Die neue Führung wird vor großen Herausforderungen stehen, nicht zuletzt der Stabilisierung der Wirtschaft des Landes und der Erlangung internationaler Anerkennung. Die Taliban haben bereits erklärt, dass sie eine inklusive Regierung bilden wollen. Bei den am Dienstag angekündigten Kabinettsministern handelt es sich jedoch ausnahmslos um bereits etablierte Taliban-Führer, und Frauen waren nicht darunter.

Minister zur Umsetzung des islamischen Rechts aufgefordert

In einer Erklärung, die dem Obersten Führer der Taliban, Mawlawi Hibatullah Akhundzada, zugeschrieben wird, wurde die Regierung aufgefordert, die Scharia einzuhalten. Die Taliban wollen "starke und gesunde Beziehungen zu unseren Nachbarn und allen anderen Ländern, die auf gegenseitigem Respekt und Interaktion beruhen", hieß es in der auf Englisch veröffentlichten Erklärung - mit dem Vorbehalt, dass sie internationale Gesetze und Verträge respektieren würden, „die nicht im Widerspruch zum islamischen Recht und den nationalen Werten des Landes stehen". Hibatullah Akhundzada ist noch nie in der Öffentlichkeit aufgetreten. Dies ist die erste Botschaft, die von ihm zu kommen scheint, seit die Taliban letzten Monat die Kontrolle übernommen haben. Hassan Akhund, der neue Interimspremierminister, war von 1996 bis 2001, als die Gruppe zuletzt an der Macht war, stellvertretender Außenminister. Er ist auf der religiösen Seite der Bewegung einflussreicher als auf der militärischen Seite. Seine Ernennung wird als Kompromiss angesehen, nachdem es in letzter Zeit zu Auseinandersetzungen zwischen einigen relativ gemäßigten Taliban und ihren Hardliner-Kollegen gekommen ist.

Ein Innenminister auf einer US-Terrorismusliste

Sirajuddin Haqqani, der neue amtierende Innenminister, ist Anführer der als Haqqani-Netzwerk bekannten militanten Gruppe, die mit den Taliban verbunden ist und für einige der tödlichsten Anschläge in dem seit zwei Jahrzehnten andauernden Krieg des Landes verantwortlich ist - unter anderem für eine Lkw-Bombenexplosion in Kabul im Jahr 2017, bei der mehr als 150 Menschen getötet wurden. Anders als die Taliban im weiteren Sinne wurde das Haqqani-Netzwerk von den USA als ausländische terroristische Organisation eingestuft. Außerdem unterhält es enge Verbindungen zu Al-Qaida. Laut dem FBI-Profil zu Haqqani wird er „im Zusammenhang mit dem Anschlag auf ein Hotel in Kabul im Januar 2008, bei dem sechs Menschen, darunter ein amerikanischer Staatsbürger, getötet wurden, zur Befragung gesucht". Weiter heißt es: „Es wird vermutet, dass er grenzüberschreitende Anschläge gegen die Streitkräfte der Vereinigten Staaten und der Koalition in Afghanistan koordiniert und daran teilgenommen hat. Haqqani soll auch an der Planung des Attentats auf den [ehemaligen] afghanischen Präsidenten Hamid Karzai im Jahr 2008 beteiligt gewesen sein."

Das Haqqani-Netzwerk wird auch für einen Anschlag auf die US-Botschaft und nahe gelegene Nato-Basen in Kabul am 12. September 2011 verantwortlich gemacht. Bei diesem Anschlag wurden acht Menschen - vier Polizisten und vier Zivilisten - getötet. Eine Bewegung, die sich lange Zeit im Verborgenen bewegt hat und deren Namen nur auf den Terrorismus-Beobachtungslisten der Welt auftauchen würden, gibt nun Titel bekannt, die in Regierungen auf der ganzen Welt verwendet werden.

Der amtierende Premierminister Mullah Akhund scheint ein Kompromisskandidat zu sein, nachdem es zu Rivalitäten zwischen führenden Militärs und Politikern gekommen war, die ihm unterstellt sein werden. Seine Amtszeit als Verwalter verschafft den Taliban eine Atempause, während sie von den Waffen zur Regierung wechseln. Er unterstreicht auch die Ansicht der Taliban, dass ein Sieg der Taliban nur die Herrschaft der Taliban bedeuten kann. Quellen zufolge haben sie sich gegen die Forderung nach einer "inklusiven" Regierung gewehrt. Sie wehrten sich gegen die Einbeziehung ehemaliger politischer Persönlichkeiten und Beamter, die bereits an der Spitze standen, insbesondere solcher, die durch Korruption belastet waren. „Warum sollten wir andere unser Kabinett auswählen lassen, wenn andere Länder ihr eigenes auswählen? "lautete eine Antwort. Was die Frauen anbelangt, so hatten sie nie eine Chance, ein Ministeramt zu erhalten; das Frauenministerium scheint vorerst ganz abgeschafft worden zu sein. Weitere Ernennungen in der neuen Regierung sind:

Mullah Yaqoob als amtierender Verteidigungsminister. Er ist der Sohn des Taliban-Gründers und verstorbenen Obersten Führers Mullah Omar. Er wurde erstmals 2015 bekannt, als er in einer Audiobotschaft, die nach dem Tod seines Vaters veröffentlicht wurde, zur Einheit innerhalb der militanten Gruppe aufrief. Der Taliban-Mitbegründer Mullah Abdul Ghani Baradar wird einer der Stellvertreter des Premierministers sein. Baradar war zuvor Leiter des politischen Büros der Taliban und beaufsichtigte die Unterzeichnung des US-Abzugsabkommens im vergangenen Jahr. Amir Khan Muttaqi ist amtierender Außenminister, ein hochrangiger Führer, der an den Verhandlungen mit den USA über deren Abzug beteiligt war.

II.1.5.1.2. Auszug aus EASO Afghanistan Security Situation Update, Country of Origin Information Report, September 2021:

1. Allgemeine Beschreibung der Sicherheitslage

1.1 Übernahme Afghanistans durch die Taliban nach dem Abzug der US-amerikanischen und internationalen Streitkräfte (bis 31. August 2021)

1.1.1 Endgültiger Vormarsch und Fall von Kabul Die Taliban begannen ihre endgültige Offensive am 1. Mai 2021, demselben Tag, an dem der Abzug der internationalen Streitkräfte eingeleitet wurde. Während der Sommermonate fegten die Taliban über Afghanistan hinweg und übernahmen die Kontrolle über mehrere Bezirke, vor allem in den nördlichen Provinzen und in den Bezirken rund um die Provinzhauptstädte. In der ersten Augustwoche rückten die Taliban weiter vor und übernahmen in weniger als neun Tagen die Kontrolle über die meisten Provinzhauptstädte Afghanistans, einschließlich Kabul. In den letzten Tagen fielen wichtige Städte, als die Afghanischen Nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) kapitulierten. Am 13. August 2021 hatten die Taliban 17 von 34 Provinzhauptstädten unter ihre Kontrolle gebracht, darunter Kandahar und Herat. Am 14. August 2021 fiel Mazar-e Sharif, und als am folgenden Tag Jalalabad fiel, war Kabul die einzige Großstadt, die noch unter der Kontrolle der Regierung stand. Am 15. August floh Präsident Ashraf Ghani aus dem Land, Polizei und andere Regierungskräfte gaben ihre Posten auf, und Taliban-Kämpfer drangen in die Hauptstadt ein und übernahmen die Kontrolle über die Kontrollpunkte. Taliban-Führer betraten den Präsidentenpalast, sprachen am folgenden Tag zu den Medien und erklärten den Krieg für beendet. Die Geschwindigkeit der Übernahme durch die Taliban war für viele überraschend, da US-Geheimdienstberichte darauf hingewiesen hatten, dass die Taliban schlimmstenfalls innerhalb von drei bis sechs Monaten nach dem Abzug der ausländischen Truppen die Kontrolle über Afghanistan übernehmen könnten. In einigen Fällen ergaben sich die afghanischen Streitkräfte kampflos. Mehrere internationale Beobachter, Analysten und Wissenschaftler haben versucht, dieses Ergebnis zu erklären. Einige betonen nachrichtendienstliche Versäumnisse, mangelnde Willenskraft und Führungsschwäche als Hauptursachen für den Amoklauf der Taliban. Andere weisen darauf hin, dass das anfängliche Tempo des Vormarschs der Taliban an sich die Machtübernahme beschleunigt haben könnte, da die Taliban zum einen besseren Zugang zu Waffen und anderer militärischer Ausrüstung erhielten und zum anderen eine psychologische Wirkung hatten, die die Motivation der ANDSF untergrub, ihre Positionen zu halten.

1.1.2 Regierungsbildung unter den Taliban

In einem Twitter-Post vom 19. August 2021 erklärte der offizielle Sprecher der Taliban, Zabiullah Mudschahid, die Gründung des Islamischen Emirats Afghanistan. Dieser Name wird von den Taliban auch in öffentlichen Erklärungen verwendet. Das Islamische Emirat Afghanistan ist jedoch international nicht anerkannt, und eine Regierung wurde nicht ausgerufen, obwohl die Taliban erklärten, sie beabsichtigten, "bald" eine neue Regierung auszurufen. Einige Quellen berichteten über die Ernennung amtierender Minister, doch gaben die Taliban während des Berichtszeitraums keine offizielle Erklärung ab. Es gab Berichte, wonach eine neue Regierung erst nach dem vollständigen Abzug der US-Truppen bekannt gegeben werden sollte. Folglich herrschte Ungewissheit darüber, wie eine neue Regierung unter den Taliban aussehen und welche Politik sie verfolgen würde. Am 23. August 2021 veröffentlichte Foreign Policy unter Berufung auf Quellen, die "der [Taliban-]Führung nahe stehen", einen Artikel, in dem es hieß, dass die Gruppe einen zwölfköpfigen Rat bilden werde und dass Mitgliedern der vorherigen Regierung einige Ministerien angeboten werden könnten. Laut Khaama Press haben die Taliban erklärt, die neue Regierung werde "inklusiv" sein, aber von Religionsgelehrten geführt werden; weitere Einzelheiten über die Bedeutung der "inklusiven Regierung" wurden nicht genannt. Am 29. August 2021 berichteten afghanische Medien, dass der oberste Führer der Taliban, Mullah Haibatullah Akhundzada, sich mit anderen Taliban-Führern in Kandahar getroffen hat. Nach Angaben von Khaama Press vom 30. August 2021 wurde Akhundzada in Kürze in Kabul erwartet, und es wurde erwartet, dass die Verhandlungen über die neue Regierung nach seiner Ankunft beschleunigt werden würden. Mitglieder des politischen Büros der Taliban haben sich in Kabul mit Politikern wie dem ehemaligen Premierminister Gulbuddin Hekmatyar, dem ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai und Abdullah Abdullah, dem Vorsitzenden des Hohen Rates für nationale Aussöhnung (HCNR), getroffen. Nach Angaben von Khaama Press sind dies die einzigen politischen Persönlichkeiten, die sich häufig mit den Taliban und Stammesältesten getroffen haben. Am 26. August gab es jedoch auch Berichte, dass Karzai und Abdullah von den Taliban unter Hausarrest gestellt wurden. Sowohl die Taliban als auch Politiker, die die Gespräche unterstützen oder kritisieren, betonen immer wieder, wie wichtig die Bildung einer "inklusiven Regierung" sei. Einige führende afghanische Politiker kritisieren jedoch, dass es dem politischen Prozess selbst an Inklusivität mangelt. Sayed Eshaq Gailani, Vorsitzender der Partei Nahzat-e Hambastagi Afghanistan, sagte, er halte dieses Spiel nicht für gut, weil es wie ein Spiel von Einzelpersonen aussehe, bei dem jeder versuche, sich selbst zu fördern, und keinen Respekt vor den Afghanen zeige. Atta Mohammad Noor, ehemaliger Gouverneur von Balkh, sagte: "Der Krieg ist noch nicht zu Ende, wir haben noch einen langen Weg vor uns, wir werden sie auf die Probe stellen, wir werden wieder auftauchen ... entweder durch eine integrative Regierung oder durch einen Krieg". Es bleibt abzuwarten, ob die Taliban beabsichtigen, die von Afghanistan in den letzten 20 Jahren unterzeichneten internationalen Verpflichtungen einzuhalten, einschließlich der meisten internationalen Menschenrechtskonventionen, oder ob diese Vereinbarungen als ungültig betrachtet werden. Auf ihrer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme sprachen die Taliban einige Menschenrechte an und behaupteten, dass diese nicht verletzt würden. So wurde beispielsweise eine Generalamnestie erlassen, in der die Taliban erklärten, sie hätten "all jene begnadigt, die gegen uns gekämpft haben". Außerdem erklärten sie, dass die Rechte der Frauen innerhalb der Grenzen der islamischen Scharia zugelassen werden, ohne jedoch zu erläutern oder näher auszuführen, worin diese Grenzen bestehen. Den Medien wurde zugesichert, dass die Taliban sich für Medien "innerhalb unseres kulturellen Rahmens" einsetzen und dass private Medien weiterhin frei und unabhängig arbeiten sollen, solange sie islamische Werte berücksichtigen. Wie diese Zusagen mit den internationalen Menschenrechtsstandards in Einklang stehen werden, bleibt unklar.

1.1.3 Reaktionen der Öffentlichkeit und Reaktionen der Taliban

In den ersten Tagen nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul blieben viele Menschen in ihren Häusern. Insbesondere berufstätige Frauen und Personen, die Vergeltungsmaßnahmen fürchteten, gingen Berichten zufolge nicht ins Freie, und die Preise für traditionelle islamische Kleidung wie Hidschabs stiegen aufgrund der plötzlichen Nachfrage. Die meisten privaten Geschäfte und Regierungsstellen schlossen und einige sind seitdem geschlossen geblieben. Die Schließung von Einrichtungen, die normalerweise grundlegende Dienstleistungen anbieten, wie z. B. die Passbehörde und die Banken, stellte die Afghanen, die auf solche Dienstleistungen angewiesen sind, vor große Probleme. Die Menschen konnten nicht auf ihre Ersparnisse zugreifen, und gleichzeitig stiegen die Preise für Lebensmittel und andere Güter des täglichen Bedarfs. Einige Experten sind der Ansicht, dass aufgrund des Stillstands der Wirtschaftstätigkeit ein wirtschaftlicher Abschwung zu erwarten ist. Die Banken haben am 25. August 2021 wieder geöffnet, aber die Bargeldkrise dauert an. Demonstrationen Nach der Machtübernahme durch die Taliban wurde von einigen Demonstrationen in Afghanistan berichtet. Eine Gruppe von Frauen demonstrierte am 17. August 2021 und forderte angemessene Rechte. Es gibt keine Berichte über eine Einmischung der Taliban bei dieser Protestaktion, obwohl Taliban-Mitglieder physisch anwesend waren. Am nationalen Unabhängigkeitstag Afghanistans, dem 19. August 2021, fanden in Kabul und anderen Städten Demonstrationen statt, bei denen die Demonstranten die afghanische Nationalflagge trugen. Nach Angaben von Al Jazeera wurden in Asadabad in der Provinz Kunar mindestens zwei Personen getötet. Zeugen berichteten, dass Taliban das Feuer auf eine Menschenmenge eröffneten, nachdem ein Mitglied der Menge einen Taliban-Kämpfer erstochen hatte. Al Jazeera berichtete außerdem, dass in Jalalabad Schüsse auf Demonstranten abgefeuert wurden, die die afghanische Nationalflagge trugen, wobei zwei Personen verletzt wurden. Reuters wiederum meldete, dass in Dschalalabad drei Personen getötet und ein Dutzend verletzt wurden, nachdem Taliban das Feuer eröffnet hatten. Es ist jedoch noch unklar, ob die Todesfälle durch Schüsse oder eine Massenpanik verursacht wurden. Tumult auf dem internationalen Flughafen von Kabul Nachdem die Taliban in Kabul eingezogen waren, betraten Zehntausende Afghanen das Flugfeld des internationalen Flughafens Hamid Karzai in Kabul oder versammelten sich dort, um das Land zu verlassen. Auf dem Filmmaterial sind Hunderte von Menschen zu sehen, die neben den Flugzeugen auf der Startbahn herlaufen oder sich an ihnen festhalten, und Szenen, in denen Menschen nach dem Start aus den Flugzeugen fallen. Die Unruhen forderten mehrere Todesopfer. Die Taliban kontrollierten die Außenanlagen des Flughafens und errichteten Kontrollpunkte entlang der Zufahrtsstraßen zum Flughafen. Angeblich griffen Taliban-Mitglieder Menschen an diesen Kontrollpunkten an. Taliban-Vertreter erklärten, sie seien präsent, um die Sicherheit der Zivilbevölkerung zu gewährleisten. Außerdem erklärten die Taliban, sie seien bereit, die Kontrolle über den Flughafen zu übernehmen, sobald die US-Truppen am 31. August 2021 abziehen. An den Evakuierungsbemühungen waren mehrere Staaten beteiligt, und laut einem Bericht von Reuters vom 30. August wurden seit dem 14. August mehr als 114 000 Personen evakuiert. Viele Staaten evakuierten ihre Staatsbürger, Personen mit Aufenthaltsgenehmigung oder ähnlichen Verbindungen zu ihrem Land sowie Personen, die diplomatische Vertretungen oder militärische Kräfte unterstützt hatten, wie Botschaftsmitarbeiter und Dolmetscher. Einige Länder evakuierten auch Personen, die sie unter den neuen Umständen als "gefährdet" ansahen. Am 26. August 2021 wurde ein Anschlag auf den Flughafen verübt, bei dem sowohl Zivilisten als auch Angehörige des US-Militärs durch zwei Bombenanschläge getötet wurden. Am 28. August 2021 zitierte CNN einen Beamten des afghanischen Gesundheitsministeriums, der sagte, dass mehr als 170 Menschen getötet worden seien. Der Islamische Staat im Irak und in der Levante - Provinz Chorasan (ISKP) hat sich zu dem Anschlag bekannt.

1.3.3 Taliban

Nach Angaben des Council for Foreign Relations sind die Taliban mit schätzungsweise 58 000 bis 100 000 Vollzeitkämpfern "heute stärker als jemals zuvor in den letzten zwanzig Jahren". Nach dem Einmarsch in Kabul am 15. August übernahmen die Taliban de facto die Kontrolle über Afghanistan. Mit Stand vom 31. August 2021 befanden sich laut LWJ 388 Bezirke unter der Kontrolle der Taliban, 10 unter der Kontrolle der Widerstandskräfte und 9 umstrittene Bezirke. Der vom USDOD zitierte Verteidigungsnachrichtendienst berichtete, dass sich die militärische Strategie der Taliban im ersten Quartal 2021 auf die "Vorbereitung groß angelegter Offensiven gegen Provinzzentren, komplexe Angriffe auf Einrichtungen der ANDSF und die Beeinträchtigung der Fähigkeiten der ANDSF" konzentrierte. Bis Februar 2021 hatten die Taliban die Provinzhauptstädte der Provinzen Baghlan, Helmand, Kandahar, Kunduz und Uruzgan umzingelt und führten Angriffe auf militärische und nachrichtendienstliche Ziele durch. Taliban-Kämpfer konzentrierten sich auf die Kontrolle von Autobahnen, um die Möglichkeiten der afghanischen Regierungstruppen einzuschränken, ihre Außenposten und Kontrollpunkte zu versorgen. Als die US- und Koalitionstruppen im Mai 2021 offiziell mit dem Abzug ihrer Truppen begannen, starteten die Taliban ihre Offensive und überrannten zahlreiche Kontrollposten, Stützpunkte und Bezirkszentren der ANDSF. Die Taliban übernahmen Berichten zufolge die von den USA gelieferte Ausrüstung, darunter Humvees, die von den afghanischen Streitkräften nach von lokalen Ältesten vermittelten Waffenstillständen zurückgelassen worden waren, und zeigten sie in den sozialen Medien. SIGAR stellte fest, "wie schnell und einfach die Taliban anscheinend die Kontrolle über Bezirke in den nördlichen Provinzen Afghanistans erlangten, die einst eine Bastion der Anti-Taliban-Stimmung waren". Die AAN stellte fest, dass die Kontrolle der Grenzübergänge offenbar ein Schwerpunkt der Taliban war, der es ihnen ermöglichte, enorme Zollgebühren von den Händlern zu erheben (schätzungsweise 4 Millionen Dollar pro Tag in den ersten fünf Monaten des Jahres 2021) und damit die Regierung zu schwächen. Ebenso hatten die Taliban Mitte Juli die Kontrolle über wichtige Straßenverbindungen erlangt, was ihnen die Besteuerung und Erpressung von Reisenden ermöglichte und die Bewegungsfreiheit der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) beeinträchtigte. Am 15. Juli 2021 schätzte das LWJ der FDD, dass die Taliban 54 Prozent der afghanischen Bezirke kontrollierten, während es Monate zuvor nur 20 Prozent waren. Die AAN erklärte, dass die Taliban nach der "unerwarteten und äußerst erfolgreichen Eroberung ländlicher Bezirke in vielen Teilen Afghanistans" begannen, Großstädte wie die Taliban-Städte Kandahar, Herat, Ghazni und Lashkargah anzugreifen. Der Widerstand, auf den sie dort stießen, könnte der Grund dafür gewesen sein, dass ihre militärische Führung die Größe ihrer Ziele änderte. Obwohl sie in ihrem Vorstoß gegen andere Städte kaum nachließen, konzentrierten sie sich auf leichtere Ziele wie die relativ unverteidigten kleineren Provinzhauptstädte". Nach dem raschen Fall aller Provinzhauptstädte bis auf eine konnten die Taliban die Macht an sich reißen. Nach einer Analyse der AAN war die anschließende "massive Auflösung der afghanischen Sicherheitskräfte und die Kapitulation der Provinz- und Militärführung" zumindest teilweise auf eine "anhaltende Kontaktkampagne" der Taliban zurückzuführen, bei der im Vorfeld auf lokaler Ebene und "wahrscheinlich auch auf sehr hoher Ebene" Absprachen getroffen wurden, so dass die Beamten wussten, "wen sie anrufen mussten", wenn sie beschlossen, die Kontrolle abzugeben. Berichten zufolge wurde eine Strategie der "Nötigung und Überredung" angewandt, die sich im ganzen Land wiederholte, als die Taliban "mehrere Übergabeabkommen schlossen, durch die ihnen Stützpunkte und schließlich ganze Kommandozentralen in den Provinzen übergeben wurden".

II.1.5.1.3. Kurzinformation der Staatendokumentation zu Afghanistan: Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan, Stand: 20.8.2021:

Aktuelle Lage

Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (bbc.com o.D.a).

Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (orf.at o.D.a).

Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.8.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die heute von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (bbc.com o.D.b).

Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (orf.at o.D.c).

Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach "Kollaborateuren". In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens 12 Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (bbc.com o.D.d).

Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen aufträten. Dazu kämen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (zdf.de 18.8.2021).

Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (? Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-SRVerlängerung des UNAMA-Mandats am 17. September 2021 (VN 18.8.2021).

Exkurs:

Die Anführer der Taliban

Mit der Eroberung Kabuls haben die Taliban 20 Jahre nach ihrem Sturz wieder die Macht in Afghanistan übernommen. Dass sie sich in ersten öffentlichen Statements gemäßigter zeigen, wird von internationalen Beobachtern mit viel Skepsis beurteilt. Grund dafür ist unter anderem auch, dass an der Spitze der Miliz vor allem jene Männer stehen, die in den vergangenen Jahrzehnten für Terrorangriffe und Gräueltaten im Namen des Islam verantwortlich gemacht werden. Geheimdienstkreisen zufolge führen die Taliban derzeit Gespräche, wie ihre Regierung aussehen wird, welchen Namen und Struktur sie haben soll und wer sie führen wird. Demzufolge könnte Abdul Ghani Baradar einen Posten ähnlich einem Ministerpräsidenten erhalten („Sadar-e Asam“) und allen Ministern vorstehen. Er trat in den vergangenen Jahren als Verhandler und Führungsfigur als einer der wenigen TalibanFührer auch nach außen auf.

Wesentlich weniger international im Rampenlicht steht der eigentliche Taliban-Chef und „Anführer der Gläubigen“ (arabisch: amir al-mu’minin), Haibatullah Akhundzada. Er soll die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban treffen. Der religiöse Hardliner gehört ebenfalls zur Gründergeneration der Miliz, während der ersten Taliban-Herrschaft fungierte er als oberster Richter des SchariaGerichts, das für unzählige Todesurteile verantwortlich gemacht wird.

Der Oberste Rat der Taliban ernannte 2016 zugleich Mohammad Yaqoob und Sirajuddin Haqqani zu Akhundzadas Stellvertretern. Letzterer ist zugleich Anführer des für seinen Einsatz von Selbstmordattentätern bekannten Haqqani-Netzwerks, das von den USA als Terrororganisation eingestuft wird. Es soll für einige der größten Anschläge der vergangenen Jahre in Kabul verantwortlich sein, mehrere ranghohe afghanische Regierungsbeamte ermordet und etliche westliche Bürger entführt haben. Vermutet wird, dass es die TalibanEinsätze im gebirgigen Osten des Landes steuert und großen Einfluss in denFührungsgremien der Taliban besitzt. Der etwa 45-jährige Haqqani wird von den USA mit einem siebenstelligen Kopfgeld gesucht.

Zur alten Führungsriege gehört weiters Sher Mohammad Abbas Stanikzai. In der TalibanRegierung bis 2001 war er stellvertretender Außen- und Gesundheitsminister. 2015 wurde erunter Mansoor Akhtar Büroleiter der Taliban. Als Chefunterhändler führte er später die Taliban-Delegationen bei den Verhandlungen mit den USA und der afghanischen Regierung an.

Ein weiterer offenkundig hochrangiger Taliban ist der bereits seit Jahren als Sprecher der Miliz bekannte Zabihullah Mujahid. In einer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme schlug er, im Gegensatz zu seinen früheren Aussagen, versöhnliche Töne gegenüber der afghanischen Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft an (orf.at o.D.b; vgl. bbc.com o.D.c).

Stärke der Taliban-Kampftruppen

Obwohl in den vergangenen Jahren 100.000 ausländische Soldaten im Land waren, konntendie Taliban-Führer eine offenkundig von ausländischen Geheimdiensten unterschätzte Kampftruppe zusammenstellen. Laut BBC geht man derzeit von rund 60.000 Kämpfern aus, mit Unterstützern aus anderen Milizen sollen fast 200.000 Männer aufseiten der Taliban den Sturz der Regierung ermöglicht haben. Völlig unklar ist noch, wie viele Soldaten aus der Armee übergelaufen sind (orf.at o.D.b).

II.1.5.1.4. Sonderkurzinformation der Staatendokumentation zur aktuellen Lage in Afghanistan (Stand 17.08.2021):

Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ist angesichts des Vormarsches der Taliban auf Kabul außer Landes geflohen. Laut al-Jazeera soll das Ziel Taschkent in Usbekistan sein. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über den Präsidentenpalast in Kabul übernommen. Suhail Schahin, ein Unterhändler der Taliban bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, versicherte den Menschen in Kabul eine friedliche Machtübernahme und keine Racheakte an irgendjemanden zu begehen (tagesschau.de 15.8.2021).

Am 15.08.21 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von welchem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z.B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen. In einigen der Städte seien Gefängnisse gestürmt und Insassen befreit worden (BAMF 16.8.2021; vgl. bbc.com o.D., orf.at 16.8.2021).

Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen (orf.at 16.8.2021a).

Schätzungen zufolge wurden seit Anfang 2021 über 550.000 Afghanen durch den Konflikt innerhalb des Landes vertrieben, darunter 126.000 neue Binnenvertriebene zwischen dem 7. Juli 2021 und dem 9. August 2021. Es gibt zwar noch keine genauen Zahlen über die Zahl der Afghanen, die aufgrund der Feindseligkeiten und Menschenrechtsverletzungen aus dem Land geflohen sind, es deuten aber Quellen darauf hin, dass Zehntausende von Afghanen in den letzten Wochen internationale Grenzen überquert haben (UNHCR 8.2021).

Der Iran richtete angesichts des Eroberungszugs der militant-islamistischen Taliban im Nachbarland Pufferzonen für Geflüchtete aus dem Krisenstaat ein. Die drei Pufferzonen an den Grenzübergängen im Nord- sowie Südosten des Landes sollen afghanischen Geflüchteten vorerst Schutz und Sicherheit bieten. Indes schloss Pakistan am Sonntag einen wichtigen Grenzübergang zu seinem Nachbarland. Innenminister Sheikh Rashid verkündete die Schließung des Grenzübergangs Torkham im Nordwesten Pakistans am Sonntag, ohne einen Termin für die Wiedereröffnung zu nennen. Tausende Menschen säßen auf beiden Seiten der Grenze fest (orf.at 16.8.2021b).

Mittlerweile baut die Türkei an der Grenze zum Iran weiter an einer Mauer. Damit will die Türkei die erwartete Ankunft von afghanischen Flüchtlingen verhindern (Die Presse 17.8.2021).

Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge (bisherige Ausnahme: Flughafen Kabul). Seit Besetzung der strategischen Stadt Jalalabad durch die Taliban, wurde eine Fluchtbewegung in den Osten (Richtung Pakistan) deutlich erschwert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen aus dem westlichen Teil des Landes oder aus Kabul nach Pakistan gelangen ist gegenwärtig eher gering einzuschätzen. Es ist naheliegender, dass Fluchtrouten ins Ausland über den Iran verlaufen. Es ist jedoch auch denkbar, dass die mehrheitlich sunnitische Bevölkerung Afghanistans (statt einer Route über den schiitisch dominierten Iran) stattdessen die nördliche, alternative Route über Tadschikistan oder auch Turkmenistan wählt. Bereits vor zwei Monaten kam es laut EU-Kollegen zu einem Anstieg von Ankünften afghanischer Staatsbürger in die Türkei. Insofern ist davon auszugehen, dass eine erste Migrationsbewegung bereits stattgefunden hat. Pakistan gibt laut Medienberichten an, dass der Grenzzaun an der afghanisch-pakistanischen Grenze halte (laut offiziellen Angaben sind etwa 90 Prozent fertiggestellt) (VB 17.8.2021)

Laut Treffen mit Frontex, kann zur Türkei derzeit noch keine Veränderung der Migrationsströme festgestellt werden. Es finden täglich nach Schätzungen ca. max. 500 Personen ihren Weg (geschleust) vom Iran in die Türkei. Dies ist aber keine außergewöhnlich hohe Zahl, sondern eher der Durchschnitt. Der Ausbau der Sicherung der Grenze zum Iran mit Mauer und Türmen schreitet immer weiter voran, und nach einstimmiger Meinung von Mig VB und anderen Experten kann die Türkei mit ihrem Militär (Hauptverantwortlich für die Grenzsicherung) und Organisationen (Jandarma, DCMM) jederzeit, je nach Bedarf die illegale Einreise von Flüchtlingen aus dem Iran kontrollieren. Die Türkei ist jedoch - was Afghanistan angeht - mit sehr hohem Interesse engagiert. Auch die Türkei möchte keine neunen massiven Flüchtlingsströme über den Iran in die Türkei (VB 17.8.2021a).

IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf (IOM 16.8.2021).

Während die radikalislamischen Taliban ihren Feldzug durch Afghanistan vorantreiben, gehören Frauen und Mädchen zu den am meisten gefährdeten Gruppen. Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996–2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß. Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban (orf.at 17.8.2021).

II.1.5.1.5. Auszug aus UNHCR Position on Returns to Afghanistan:

[…] 4. All claims of nationals and former habitual residents of Afghanistan seeking international protection should be processed in fair and efficient procedures in accordance with international and regional refugee law. UNHCR is concerned that recent developments in Afghanistan are giving rise to an increase in international protection needs for people fleeing Afghanistan, whether as refugees under the 1951 Convention or regional refugee instruments, or as beneficiaries of other forms of international protection.7 The same applies to those who were already in countries of asylum before the recent escalation of violence in Afghanistan. In light of the volatile situation in Afghanistan, UNHCR welcomes steps taken by some countries of asylum to suspend decision-making on international protection needs of nationals and former habitual residents of Afghanistan, until such time as the situation in the country has stabilized and reliable information about the security and human rights situation is available to assess the international protection needs of individual applicants. In view of the volatility of the situation in Afghanistan, UNHCR does not consider it appropriate to deny international protection to Afghans and former habitual residents of Afghanistan on the basis of an internal flight or relocation alternative. […]

Laut Stellungnahme der afghanischen Behörde für Flugsicherheit, den afghanischen Luftraum in der Zivilluftfahrt zu meiden, da dieser nur für militärische Flüge freigegeben ist, ist keine Stadt in Afghanistan derzeit erreichbar.

II.1.5.2. Auszug aus der Länderinformation der Staatendokumentation zu Afghanistan aus dem COI-CMS, Version 4, letzte Änderung eingefügt am 11.06.2021:

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 12.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 12.2019).

Für die meisten zivilen Opfer im Jahr 2020 waren weiterhin regierungsfeindliche Elemente verantwortlich, 62% wurden ihnen zugeschrieben. Vom 1.1.2020 bis zum 31.12.2020 schrieb UNAMA 5.459 zivile Opfer (1.885 Tote und 3.574 Verletzte) regierungsfeindlichen Elementen zu. Dies bedeutete einen Gesamtrückgang um 15% im Vergleich zu 2019. Die Zahl der von regierungsfeindlichen Elementen getöteten Zivilisten stieg jedoch um 13% (UNAMA 2.2021a)

Taliban

Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde; nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 27.4.2020).

Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen "Werte" betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik einer eventuellen Regierung der Machtteilung, die die Taliban einschließt, zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab (Ruttig 3.2021). Sie sehen sich nicht als bloße Rebellengruppe, sondern als eine Regierung im Wartestand und bezeichnen sich selbst als "Islamisches Emirat Afghanistan", der Name, den sie benutzten, als sie von 1996 bis zu ihrem Sturz nach den Anschlägen vom 11.9.2001 an der Macht waren (BBC 15.4.2021).

Struktur und Führung

Die Taliban positionieren sich selbst als Schattenregierung Afghanistans, und ihre Kommissionen und Führungsgremien entsprechen den Verwaltungsämtern und -pflichten einer typischen Regierung (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Die Taliban sind zu einer organisierten politischen Bewegung geworden, die in weiten Teilen Afghanistans eine Parallelverwaltung betreibt (EASO 8.2020c; vgl. USIP 11.2019; BBC 15.4.2021) und haben sich zu einem lokalen Regierungsakteur im Land entwickelt, indem sie Territorium halten und damit eine gewisse Verantwortung für das Wohlergehen der lokalen Gemeinschaften übernehmen (EASO 8.2020c; vgl. USIP 4.2020). Was militärische Operationen betrifft, so handelt es sich um einen vernetzten Aufstand mit einer starken Führung an der Spitze und dezentralisierten lokalen Befehlshabern, die Ressourcen auf Distriktebene mobilisieren können (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020).

Das wichtigste offizielle politische Büro der Taliban befindet sich in Katar (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. EASO 8.2020c, UNSC 27.5.2020, AnA 28.7.2020) - Stellvertreter sind der Erste Stellvertreter Sirajuddin Jalaluddin Haqqani (Leiter des Haqqani-Netzwerks) und zwei weitere: Mullah Mohammad Yaqoob [Mullah Mohammad Yaqub Omari] (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020) und Mullah Abdul Ghani Baradar Abdul Ahmad Turk (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020).

Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o.D.; vgl. BBC 15.4.2021). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020). Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020). Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020).

Die Taliban betreiben Trainingslager in Afghanistan. Seit Ende 2014 wurden 20 davon öffentlich zur Schau gestellt. Das Khalid bin Walid-Camp soll zwölf Ableger in acht Provinzen haben (Helmand, Kandahar, Ghazni, Ghor, Sar-e Pul, Faryab, Farah und Maidan Wardak). 300 Militärtrainer und Gelehrte sind dort tätig und es soll möglich sein, in diesem Camp bis zu 2.000 Rekruten auf einmal auszubilden (LWJ 14.8.2019).

Rekrutierungsstrategien

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017).

Es besteht relativer Konsens darüber, wie die Rekrutierung für die Streitkräfte der Taliban erfolgt: Sie läuft hauptsächlich über bestehende traditionelle Netzwerke und organisierte Aktivitäten im Zusammenhang mit religiösen Institutionen. Layha, der Verhaltenskodex der Taliban enthält einige Bestimmungen über verschiedene Formen der Einladung sowie Bestimmungen, wie sich die Kader verhalten sollen, um Menschen zu gewinnen und Sympathien aufzubauen. Eines der Sonderkomitees der Quetta Schura (Anm.: militante afghanische Organisation der Taliban mit Basis in Quetta / Pakistan) ist für die Rekrutierung verantwortlich (LI 29.6.2017). UNAMA hat Fälle der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern durch die Taliban dokumentiert, um IEDs (Improvised Explosive Devices) zu platzieren, Sprengstoff zu transportieren, bei der Sammlung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse zu helfen und Selbstmordattentate zu verüben, wobei auch positive Schritte von der Taliban-Kommission für die Verhütung ziviler Opfer und Beschwerden unternommen wurden, um Fälle von Rekrutierung und Einsatz von Kindern zu untersuchen und korrigierend einzugreifen (UNAMA 2.2021a; vgl. UNAMA 7.2020).

In Gebieten, in denen regierungsfeindliche Gruppen Kontrolle ausüben, gibt es eine Vielzahl an Methoden, um Kämpfer zu rekrutieren, darunter auch solche, die auf Zwang basieren (DAI/CNRR 10.2016), wobei der Begriff Zwangsrekrutierung von Quellen unterschiedlich interpretiert und Informationen zur Rekrutierung unterschiedlich kategorisiert werden (LI 29.6.2017). Grundsätzlich haben die Taliban keinen Mangel an freiwilligen Rekruten und machen nur in Ausnahmefällen von Zwangsrekrutierung Gebrauch. Druck und Zwang, den Taliban beizutreten, sind jedoch nicht immer gewalttätig (EASO 6.2018). Landinfo versteht Zwang im Zusammenhang mit Rekrutierung dahingehend, dass jemand, der sich einer Mobilisierung widersetzt, speziellen Zwangsmaßnahmen und Übergriffen (zumeist körperlicher Bestrafung) durch den Rekrutierer ausgesetzt ist. Die Zwangsmaßnahmen können auch andere schwerwiegende Maßnahmen beinhalten und gegen Dritte, beispielsweise Familienmitglieder, gerichtet sein. Auch wenn jemand keinen Drohungen oder körperlichen Übergriffen ausgesetzt ist, können Faktoren wie Armut, kulturelle Gegebenheiten und Ausgrenzung die Unterscheidung zwischen freiwilliger und zwangsweiser Beteiligung zum Verschwimmen bringen (LI 29.6.2017).

Sym

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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